Ich schulde der Welt einen Toten

Ich schulde der Welt einen Toten

Information

Sammlung
Heiner Müller
Mit
Heiner Müller
Dauer
0:24:10
Datum
15 Aug. 1994
Sendung
Ten to Eleven

Beschreibung

Um die Orestie als Darstellung der "Geburt der Demokratie" (P. Stein) zu rechtfertigen, muß man, sagt Heiner Müller, viel verdrängen, etwa die Opferung Iphigenies oder die weibliche Rebellion Elektras. Die Orestie stellt einen "ägyptischen" Stoff dar, angesiedelt zwischen Europa und Asien, unverständlich für beide. Das macht ihn für eine mögliche, aktuell notwendige Verständigung zwischen beiden Erdteilen interessant. Man müßte, sagt Müller, eine völlig neue Übersetzung anfertigen, weil in den vorhandenen bereits die vernünftige Glättung steckt. Das zeige z.B. die "Jambifizierung" der urprünglich in Prosa geschriebenen Iphigenie durch Goethe, die die "Barbarei wegdrückt". Müller, der nicht glaubt, daß sein Leben ausreicht, eine vollständige Übersetzung anzufertigen, arbeitet an einem Opern-Libretto ("Orestie-Digest") für Pierre Boulez, das den gesamten Stoff der Orestie auch mit den "stenographischen" Mitteln der Musik verdichtet.

Am Beispiel der Geschichte des Idomeneo, der aus der Seenot gerettet, den ersten Menschen, der ihm begegnet, ermordet, wendet sich das Gespräch den Unterschieden des antiken und des christlichen, modernen Weltbildes zu, die sich besonders in der Haltung zu Tod und Schuld zeigen. Die antike Logik weist jedem Menschen auf der Erde seinen Platz zu. Entzieht sich einer wie Idomeneo seiner Todesbestimmung, dann schuldet er der Welt einen Toten. Wenn aber nach christlich-moderner Logik (der Erbsünde) jeder an allem schuld ist, dann sind alle für nichts verantwortlich. Und so wäre Ödipus, wie Hegel schreibt, nach modernen Rechtsbegriffen völlig unschuldig. Damit wird aber nach Müller "das Leben uninteressant" und "obszön". Kluge stellt die Frage, was dann im 20. Jahrhundert Unrecht bedeute. Am Besuch Reagans und Kohls in Bitburg, so Müller, zeige sich der Unterschied zwischen Äschylos' und Sophokles' Antigone. Wie bei Sophokles "greift" hier der Staat nach den Toten. Es gebe aber keinen anderen Weg als den zurück zu Äschylos. Eine "Allianz der Schuldigen" (Virilio) sei gegen die staatlich-repräsentative ?Besetzung" des Totenreichs die einzige Chance für Europa.