Ich schulde der Welt einen Toten
Transkript: Ich schulde der Welt einen Toten
- Textband
- Ein Opernlibretto von Heiner Müller für Pierre Boulez hat den Titel “Digest Orestie” / Es geht um ein Stenogram eines ägyptischen Mythos, der in den Versionen von Äschylos und Sophokles überliefert ist / Müller und Pierre Boulez interessieren sich für die Lücken im Mythos, die noch nicht durch Taten hoffnungslos verstopft sind, und um den “wahren Platz der Toten - \-”
- Tafel
- “Ich schulde der Welt einen toten - - " Heiner Müller über sein geplantes Opernlibretto
- Kluge
- Was verstehst du unter “Digest der Orestie”? Was ist das für ein Projekt?
- Müller
- Ja, es ist schwierig mit diesen Texten. Einmal es gibt nur schlechte Übersetzungen. Ich kenne keine gute Übersetzung. Um eine gute Übersetzung zu machen, würde ich ein Jahr brauchen. Ich weiß nicht, ob ich dieses Jahr noch habe für so ein Projekt. Und der Kern der Geschichte ist einerseits bekannt, aber gerade dadurch auch unbekannt. Weil es gibt so viele Digests von der Orestie und das sind immer Verkürzungen und sind immer Vereinfachungen.
- Kluge
- Was versteht man unter der Orestie?
- Müller
- Orestie ist, mal ganz dumm gesagt, das ist jetzt auch ein Feuilletonvokabel schon, seit Stein in Moskau: “Die Geburt der Demokratie”. Und interessant ist, was da alles verdrängt werden muß, um auf diese Formel zu kommen. Zum Beispiel dieser unvorstellbare Mord an der Iphigenie.
- Kluge
- Ja, der Vater will gute Seefahrt für seine Truppen nach Troja.
- Müller
- Der Vater will gute Seefahrt, gibt dem Druck nach, … seine Tochter umzubringen. … seiner Gemeinde …
- Kluge
- Das ist ein demokratischer Druck. Das Volk will es.
- Müller
- Genau. Das Volk will es, und er gibt nach und läßt seine Tochter umbringen.
- Kluge
- Wenn du mal sozusagen Stichworte zur Orestie. Was bedeutet Elektra für uns? Was wiegt das?
- Müller
- Nun sind wir ja alle schon ein bißchen geblendet durch Interpretationen. Es ist ganz schwer, wieder auf den Kern der Geschichte zu kommen. Man muß Freud vergessen. Man muß alles mögliche vergessen, um überhaupt darüber nachdenken zu können. Aber Elektra ist zunächst die Tochter, die mehr am Vater hängt als an der Mutter. Die die neue Ehe der Mutter mit dem Aegisth als Verrat am Vater und an sich selbst empfindet. Die den Mord am Vater erlebt hat, erfahren hat und die jetzt …
- Kluge
- … auf ihren Bruder wartet zunächst.
- Müller
- … auf ihren Bruder wartet, auf den Rächer.
- Kluge
- Also durch ein Instrument, durch den Bruder, handelt.
- Müller
- Ja, und die aber auch deklassiert ist. Dadurch, daß sie sich von der Mutter distanziert und von dem Stiefvater, oder dem neuen Vater. Und dadurch ist sie einfach eine Metapher für Verweigerung, für Verweigerung von Anpassung. Und sie ist dadurch auch ein Topos für Rebellion, für weibliche Rebellion, die zunächst immer als Verweigerung erscheint und sich artikuliert.
- Kluge
- Ist das eigentlich ein asiatischer Mythos? Ist es ein griechischer, ist er kretisch? Wo kommt der her?
- Müller
- Es ist so eine merkwürdige Zwischenstufe. Ich glaube, es ist überhaupt nicht asiatisch. Kann man nicht sagen. Es ist aber auch noch nicht europäisch. Es hängt dazwischen, es ist ägyptisch vielleicht. Und Ägypten ist sicher nicht Asien. Ägypten ist aber auch nicht Europa, das ist ein Zwischenbereich.
- Kluge
- … und älter als beides?
- Müller
- Und älter als beides, ja. Und vielleicht wenn man davon ausgeht, daß Japaner oder Chinesen verstehen wahrscheinlich die Orestie gar nicht. Und die Europäer verstehen sie wahrscheinlich auch nicht. Und zwischen diesen beiderseitigen verschiedenen Nicht-Verstehen liegt irgend etwas, was wir versuchen sollten herauszufinden, um umzugehen mit der Gegeneinandersetzung von Europa und Asien, die, glaube ich, jetzt doch sehr aktuell wird. Und dazwischen liegt so ein unbekanntes Territorium, ein unbekannter Bereich, und der ist genau das, woraus die Orestie kommt. Das sieht man an Übersetzungen, zum Beispiel. Die Übersetzungen machen den Stoff auf eine Weise vernünftig und klammern dadurch so vieles aus, so viel Material, so viel Realität, so viel auch Wissen, daß es plötzlich eine ganz durchsichtige Geschichte wird, eine Geschichte eigentlich gesehen mit den Augen des 18. Jahrhunderts.
- Kluge
- Dieses Projekt, kurz gefaßte Darstellung, also Digestform, von Orestie zu geben, also quasi eine Übersetzung jetzt zu machen - wenn dein Leben nicht ausreicht, eine wirkliche Übersetzung zu machen, das ist ein literarisches Projekt. Das hat doch mit Theater zunächst nichts zu tun?
- Müller
- Doch, es hat natürlich unmittelbar mit Theater zu tun. Der Pierre Boulez möchte ein Libretto von mir haben für eine Oper, er hat eine Oper geschrieben. Ich laboriere seit einem halben Jahr daran herum. Ich weiß nicht, was ich da für ihn machen soll.
- Kluge
- Ach, das ist ein Opern-Libretto von dir, das der Boulez komponieren wird?
- Müller
- Das ist bisher nur eine Idee. Und was mich interessiert, ist die Orestie als ein Skelett, ein Gerüst, in das man aber sehr verschiedene Dinge reinhängen kann. Also ein Kleiderständer, wo man auch ganz andere Kostüme dran aufhängen kann. Es gab einen Versuch in der Richtung. Das war der Ödipus von Strawinsky. Das war eigentlich das Prinzip. Mit dem Cocteau-Text. Der ist lateinisch, aber das war so eine Art Skelettierung von Ödipus. Und dadurch kam ich drauf, weil ich …
- Kluge
- Weil man sozusagen den ganzen Kleiderschrank mit diesen Gehängen vollmacht. Anders gesagt, weil man alle Strukturen der Orestie auf eins sieht, und das als Musiktheater macht, ist es etwas anderes, als wenn man auf Theaterabende verteilt, jeweils nur die einzelnen Personen, die einzelnen Phasen dieser Tragödie, der Tragödienfolge beschreibt. Man kriegt mehr Brüche. Ist das richtig?
- Müller
- Ja, man kriegt mehr Brüche, weil die Musik natürlich auch eine Kondensation sein kann. Sie verdichtet Sachen, zieht Sachen zusammen, die du mit Texten nicht zusammen kriegst, ohne ganz ausführlich zu werden. Aber die Musik kann Sachen bündeln, viel schneller …
- Kluge
- Und dazu brauchst du Kurzschrift?
- Müller
- Dazu braucht man Kurzschrift, und die Musik ist eine Art Stenographie in bezug auf solche Stoffe.
- Kluge
- Buchhaltungszahlen sehen immer gleich lang aus. Wie die Keilschriften im Ägyptischen, die kann man auch nicht kürzen. Aber die Schicksale und die Schicksalstragödien, die kann man kürzen und dann als Kürzel wiedererkennen. Damit könntest du denn würfeln. Das ist so wie Knochen. Man würfelte ja ursprünglich mit Knochen.
- Müller
- Es geht um ein - es ist ein dummes Sprachspiel \-, aber es geht um ein Verhältnis zwischen Würfel und Wirbel. Oder ich empfinde das so. Wir sind im Moment in einem Vakuum. Und in diesem Vakuum entstehen Wirbel. Und wenn man den richtigen Punkt findet in diesem Vakuum …
- Kluge
- Hat man plötzlich die Schwerkraft entdeckt?
- Müller
- Und aus diesem Wirbel, wo man die Schwerkraft entdeckt, dann kann man über die Gravitation aus dem Wirbel einen Würfel bilden, der vielleicht in Verhältnis tritt mit anderen Würfeln. Es ist fast eine Spieltheorie. Und es ist auch ziemlich willkürlich. Und es geht nicht ohne Willkür. Man muß willkürlich irgendwo anfangen.
- Kluge
- Wenn du noch mal … im 18. Jahrhundert, den Goethe-Text von der Iphigenie. Da ist jetzt alles in humane Beziehungen aufgelöst, in hochzivilisierte Beziehungen. Selbst der Barbar ist sozusagen Eideshelfer und Zeuge und stellt seinen Egozentrismus zurück, seinen Kannibalismus, zurück, und so weiter, damit sozusagen alles sich auf gütige Weise ändert.
- Tafel
- “Glätte ist der erste Eindruck - - "
- Müller
- Die Glätte ist der erste Eindruck. Die Glätte als… eigentlich als Beleg dafür, daß jemand lügt, daß jemand etwas weglügt, daß jemand Barbarei weglügt und - ja, was du beschreibst - Auflösung in …
- Kluge
- Es ist leicht, ein Klassiker zu sein, wenn alle Weltverhältnisse harmonisch bleiben.
- Müller
- Klar. Und dagegen gibt es einen merkwürdigen Satz von Goethe, den der Eckermann zitiert. Goethe hat ja zunächst in Prosa geschrieben, die Iphigenie. Und dann hat er es in Jamben umgesetzt. Schon der Vorgang wäre interessant, warum macht er das. Weil es in Prosa offenbar nicht auszuhalten war. Oder die Prosa reichte nicht, um die Barbarei wegzudrucken. Deswegen dann die Jambifizierung. Und da gibt es so eine Bemerkung von Goethe, die der Eckermann zitiert: “Die Studenten in Jena rebellieren” - die hatten sicher Gründe - “aber ich muß die Iphigenie in Jamben setzen.”
- Kluge
- Hat er geschrieben?
- Müller
- Ja, gesagt. Das zitiert Eckermann. Und der Punkt ist interessant. Und das merkt man den Jamben an. Die Jamben zittern. Die Glätte ist keine wirkliche Glätte. Es gibt Pulsschläge in dieser glatten Oberfläche, und die zittern dauernd.
- Kluge
- Und dieser Götterhimmel Goethes. Wo käme der nun vor, zum Beispiel in deinem Stenogramm, in deinem Netzwerk, möchte ich mal so sagen.
- Müller
- Ich sag’ dir mal ein Beispiel. In der Iphigenie gibt es dieses Schicksalslied. Und das fängt an… oder nee, es gibt einen Text in dem… ich weiß nicht ob es der Anfang ist. Der heißt: “Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht.” Du brauchst nur einen schlichten Druckfehler zu machen, und schon wird es aktuell: Es fürchten die Götter das Menschengeschlecht.
- Tafel
- “Es fürchte(n) die Götter das Menschengeschlecht”
- Müller
- Das wäre ein Druckfehler nach Goethe. Und schon wird das Stück interessant. Und dieser Druckfehler ist unter dem Text von Goethe.
- Kluge
- Ach, das ist unterhalb, das ist ihm unterlegt.
- Müller
- … Das ist eine Erfindung. Deswegen zittert …
- Kluge
- Das ist die wartende Fehlleistung?
- Müller
- Ja. Der Text zittert dauernd vor diesem Druckfehler.
- Kluge
- Wie viele verschiedene Iphigenien gibt es eigentlich? Es gibt einmal die Iphigenie in Aulis. Das ist die Geschichte davon, daß Agamemnon die Iphigenie den Göttern schlachtet. Iphigenie wird nicht gerettet. Oder sie wird zum Schluß entführt von den Göttern, also der Grausamkeit entzogen, weil so etwas gar nicht erst passieren darf. Weil das Unglück darin besteht, daß die Barbarei, wenn sie zustande kommt, sich ewig wiederholen wird.
- Müller
- Andererseits kannst du auch sagen, daß die Barbarei verewigt wird, wenn sie einmal weggelogen wird.
- Kluge
- Auch. Wenn sie von den Barbaren nicht begangen wird. Denn bei den Barbaren ist es ja sehr selbstverständlich, daß man seine Kinder nicht umbringt. Daß man die Schwestern und Mütter nicht schwängert.
- Müller
- Das wird klar. Das wird ja erst aktuell, wenn es eine “Ordnung” gibt.
- Kluge
- Wenn ganze Heere nach Troja zu überführen sind, dann muß ich sozusagen irgend jemand schlachten.
- Tafel
- Der Schwur des Idomeneo - -
- Kluge
- In Idomeno - an “wen es angeht”-, das heißt, wenn ich gerettet werde aus Seenot durch den Gott Neptun, dann werde ich den ersten besten, den ich treffe, umbringen. Und dann muß ich anschließend die Götter versuchen zu überlisten und zu betrügen. Und dies lassen die sich nicht gefallen.
- Müller
- Ja, das ist rätselhaft.
- Kluge
- Das ist eine Trivialgeschichte.
- Müller
- Ja, aber es ist völlig rätselhaft. Das Normale wäre doch, daß wenn ich aus der Seenot errettet werde, den werde ich den ersten…
- Kluge
- …wiederum retten…
- Müller
- … den ich treffe, bekränzen oder wiederum retten …
- Kluge
- Ihm tun, was mir angetan wurde.
- Müller
- Ja genau, warum das umgekehrt? Das ist aber vielleicht eine ganz andere Logik als unsere. Wir sind doch völlig korrumpiert durch dieses Christentum oder vernebelt durch ein christliches Denken, was ja eigentlich eine Abkehr vom konkreten oder materialistischen Denken ist. Wenn jemand aus Seenot gerettet wird … ich versuche mal, antik zu denken: Ich bin in Seenot, ich bin also dazu bestimmt zu sterben oder unterzugehen. Ich werde gerettet. Also bin ich verpflichtet, dafür zu sorgen, daß mein Platz als Toter von einem anderen eingenommen wird. Also muß ich einen Toten produzieren. Von Canetti gibt es ein Stück, dessen Voraussetzung ist, daß Menschen unsterblich sind. Was passiert dann? Ein furchtbares Chaos. Das ist die absurde Konsequenz eigentlich des bürgerlichen Verhältnisses zum Tod: Verdrängen. Muß man kaum sagen, also Benjamin, die Hauptfunktion der bürgerlichen Gesellschaft, die Verdrängung des Todes. Aber wenn man ausgeht von so einer Konstruktion, daß jeder, der geboren wird, hat schon seinen Mörder. Das wissen aber nur die Versicherungen. Du kennst deinen Mörder nicht, der ist aber von der Versicherung schon bezahlt und beauftragt. Du weißt auch nicht das Datum, wann du dran bist. Umgekehrt jeder Mörder hat natürlich auch seinen Mörder. Aber der Mörder kennt das Opfer. Das Opfer kennt den Mörder nicht. Das wäre so eine negative Utopie. Aber solche Utopien entstehen nur daraus, daß verlorengegangen ist das Gefühl, daß die Welt - mal ganz primitiv gesagt - fast eine Schautafel ist. Und jeder hat seinen Platz auf dieser Tafel …
- Tafel
- Der Altruismus im Britischen Weltreich um 1900 - -
- Kluge
- Es wäre eine moderne Auffassung, also eine britische um 1900, daß jeder Mensch für das Ganze der Welt verantwortlich ist. Wenn aber alle verantwortlich sind, ist keiner verantwortlich. Jeder ist an allem schuld, aber wenn das jeder wüßte, hätten wir das Paradies auf Erden.
- Tafel
- “Jeder ist an Allem schuld / Aber wenn das jeder wüßte, hätten wir das Paradies auf Erden - - " Dostojewski
- Kluge
- Und umgekehrt jetzt sagst du, die antike Auffassung ist: jeder ist verantwortlich für seinen Platz. Im Leben und im Tod. Und das wird jetzt auch wieder anders ausdrückbar wenn der Idomeneo gerettet wird aus dem Schiffbruch, dann hat er gelobt, für den Fall seiner Rettung, der König zu sein, der eigentlich in Kreta längst überflüssig ist. Denn zehn Jahre hat ja Kreta gelebt ohne den Heimkehrer. Und er muß mit einem Gewaltakt eigentlich darstellen, der König ist zurückgekehrt. Er muß seinen Platz besetzen. Wenn ich durch Sentimentalität meinen Platz nicht besetze - wie ein Brite, der Sklavenhandel betrieben hat und jetzt die Sklaven im Stich läßt \-, wenn ich diesen Platz des Gewaltmenschen nicht einnehme, mache ich mich schuldig. Wenn ich ihn einnehme, mache ich mich gewiß auch schuldig.
- Müller
- Das sind zwei verschiedene Rechtsauffassungen.
- Kluge
- Völlig verschiedene Rechtsauffassungen. Und das einzige, was jetzt die Moderne als System, so im Luhmannschen Sinne, hinzufügt, ist die Fiktion, einer könne außerhalb seines Platzes Verantwortung tragen. Außerhalb der Reichweite seiner Hände etwas erreichen. Und das nimmt ein antiker Mensch, insbesondere ein ägyptischer Mensch, nicht an.
- Müller
- Die andere Seite ist Hegel über Ödipus.
- Kluge
- Was sagt er da?
- Müller
- Ödipus ist nach bürgerlichen Rechtsbegriffen überhaupt nicht schuldig. Er wußte nicht, daß es sein Vater ist. Er wußte nicht, daß es seine Mutter ist. Er ist unschuldig nach unseren Rechtsbegriffen. Aber diese Formulierung ist merkwürdig. Aber der Grieche als plastischer Mensch, also ein Allroundmensch, der nach allen Seiten verantwortlich ist, nimmt die Schuld auf sich.
- Kluge
- Es ist interessant, weil nichts lächerlicher wäre, so als Possenspiel, als einen Advokaten, einen Breslauer Anwalt von 1910 zu beauftragen Ödipus zu verteidigen. Er erreicht den Freispruch, ganz zweifellos.
- Müller
- Das ist klar. Und damit wird aber das Leben eigentlich uninteressant. Das Leben wird obszön mit diesem Rechtsbegriff.
- Kluge
- Ja, er geht gerechtfertigt in Pension. Was würde das jetzt bedeuten, wenn du an Unrecht denkst in unserem Jahrhundert? Wenn du das mal in antiker Form darstellst.
- Müller
- Etwas ganz provokatorisches, vielleicht. Dieser Skandal um Bitburg. Das hat mich sehr beschäftigt. Also der Kohl ist da in aller Unschuld hingegangen und Reagan sowieso …
- Kluge
- Berater haben es ihm gesagt.
- Müller
- Oder sie haben es ihm nicht gesagt, was weiß ich. Jedenfalls der Skandal war doch, daß da auch SS-Leute…
- Kluge
- … Waffen-SS …
- Müller
- … im landläufigen Sinn, Waffen-SS, Verbrecher begraben waren. Da gibt es dann diese zwei Positionen: die Position von Aischylos und die Position von Sophokles. Sieben gegen Theben, Aischylos. Da ist die Schlußlösung, die Toten sind gleichberechtigt.
- Kluge
- Die Ungerechten und die Gerechten haben das gleiche Recht …
- Müller
- … haben das gleiche Recht wenn sie tot sind.
- Kluge
- Wofür Antigone noch stirbt.
- Müller
- Ja, Antigone stirbt dafür bei Aischylos. Aber die Schlußlösung ist, sie hatte Recht. Bei Sophokles gibt es eine neue Definition von Recht. Und da beginnt eigentlich der Griff des Staats nach den Toten. Der Staat besetzt die Toten.
- Kluge
- Nur mit Genehmigung…
- Müller
- Nur mit Genehmigung darf man Feinde begraben.
- Kluge
- Jetzt ist es nicht mehr, daß alle Toten gleich sind, sondern die Frage ist, kann man, um sozusagen seine Vorfahren zu beerdigen, innerhalb des aristokratischen Geschlechts sich durchzusetzen gegen den demokratischen Tyrannen? Gilt altes Recht gegen neues Recht? Es ist eigentlich gar nicht mehr die Frage, daß die Toten gleich sind.
- Müller
- Ich glaube doch. Für mich jedenfalls. Das Problem ist, es hat sich soviel angehäuft an Schuld, an Bewußtsein von Schuld, an Verbrechen und an Kenntnis von Verbrechen, daß das plötzlich nicht mehr möglich ist. Aber ich glaube, es gibt überhaupt keine andere Chance, als das wieder möglich zu machen, diese Aischylos-Position. Ich habe neulich in Paris - vor ein paar Monaten war eine Diskussion über einen Film, den die über mich gemacht hatten - und da war der Virilio. Und hinterher hatte ich ein Gespräch mit ihm und das fand ich so schön in dieser Diskussion nach dem Film
- Tafel
- Allianz der Schuldigen / “Digest Orestie” / Es fürchten die Götter das Menschengeschlecht
- Müller
- fragte mich eine Bulgarin, die ich schon lange kenne, die lebt als Regisseurin in Paris, fragte mich nach meinen Stasi-Kontakten.
- Tafel
- “Ich schulde der Welt einen Toten - \-” Heiner Müller über sein geplantes Opernlibretto
- Müller
- Und der Virilio sagte mir hinterher, die einzige Hoffnung und Chance für Europa ist eine Allianz der Schuldigen. Weil es gibt keine Unschuldigen. Und erst wenn die Schuldigen sich alliieren und sich gemeinsam zu ihrer Schuld bekennen …
- Kluge
- … die Schuld teilen …
- Müller
- …und die Schuld teilen, gibt es eine Möglichkeit.
- Kluge
- … eine Verfassung …