Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll

Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll

Gespräch mit Heiner Müller

Information

Sammlung
Heiner Müller
Mit
Heiner Müller
Dauer
0:24:10
Datum
21 Nov. 1994
Sendung
Ten to Eleven

Beschreibung

Der zentrale Gedanke des Gesprächs ist die antike Auffassung eines notwendigen Gleichgewichts zwischen Toten und Lebendigen, die auch mit der Vorstellung eines gleichbleibenden Gewaltpotentials in der Welt einhergeht. Müller und Kluge prüfen an verschiedenen Stellen des Gesprächs dieses mythische Lebensgefühl an persönlichen, historischen und politischen Beispielen wie dem Vater-Tochter-Verhältnis (Agamemnon bzw. Müller selbst), der Hoffnung der DDR-Bürger auf einen Platz im Kapitalismus oder der Gewalt in Mittelalter und Neuzeit.

Müller berichtet dann von einem Besuch Ryszard Kapuscinkis im Berliner Ensemble. Der Text, den er dort vorlas, erzählt davon, daß der dichte sibirische Frostnebel die Konturen der Menschen für eine Weile festhält, die durch ihn hindurchgegangen sind. Kapusczinskis gewinnt seine Informationen ("die besten Texte über Mittelasien") dadurch, daß er wie in einem "Gewebe", einem lebendigen informellen Beziehungsnetz durch Rußland reisen kann. Für Rußland gilt nach Müller auch eine Variante der mythischen Balance zwischen Toten und Lebenden, der russische Boden werde "heilig, durch die Toten, die darin liegen." Die russische Identität speist sich aus Verteidigungskriegen.

Für Eroberungskriege wie die Kreuzzüge gilt dagegen, daß sich die Gewalt im Raum verteilt und abschwächt. Realität ist wesentlich nicht Materie oder Energie, sondern, wie in der Theorie der starken Wechselwirkung, "Topographie", real sind Orte. Angenommen, "ein jeglicher habe seinen Platz", wer, so fragt Müller, ist aber dann "ein jeglicher"? Wenn Idomeneo zum Tode bestimmt ist, aber gerettet wird, dann, so Müller, "schulde" er "der Welt einen Toten". Diese Überlegungen über die Wirklichkeit der Plätze und Zeitorte münden in der Bestimmung des Schriftstellers als eines "Landvermessers".