Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll
Transkript: Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll
- Textband
- Im antiken Griechenland bewachen die Totengötter die Lebewesen / Es kann nicht mehr Plätze für Lebende geben, als es Tote gibt / Das führt jedes Zeitalter an sein Ende: / “Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll–”
- Kluge
- …und dann würde man überall andere Unterscheidungen machen müssen, wenn es dieses gibt, daß der Unterschied ist, eine Welt ist voll, ist besetzt, jeder kann nur noch auf seinem Platz tätig werden, und eine Welt ist offen …
- Tafel
- “Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll –” / Ein Gespräch mit Heiner Müller
- Müller
- Bloß das Problem ist doch, wenn man von diesem simplen Text ausgeht, “Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll,” daß auf jeden Platz in dieser Welt gibt es drei bis zwölf Anwärter, und immer mehr Anwärter auf diesen einen Platz: was passiert dann? Es ist zum Beispiel eine Frage, was passiert mit Kindern, die die Welt primär kennenlernen durch Abbildung, Fernsehen. Meine Tochter ist vierzehn Monate alt, die steht schon mit dem Gerät da…
- Kluge
- …der Fernbedienung…
- Müller
- … vor dem Fernseher und kann das bedienen. Sie weiß nicht genau wie, aber irgendwas schafft sie immer …
- Kluge
- Und findet, das ist die schönste Babyrassel, die es gibt…
- Müller
- Ja, klar, klar. Und sie drückt dann auf den Knopf, und dann ist was anderes da auf dem Bildschirm, das hat sie schon verstanden. Aber sie lernt die Welt, die Außenwelt, wesentlich kennen über den Bildschirm. Was heißt das, was passiert da, wenn die Kinder die virtuelle Realität kennenlernen vor der sogenannten wirklichen? Gibt’s dann überhaupt noch einen Unterschied? Und was heißt das, wenn diese Unterschiede verschwinden?
- Kluge
- Wenn du mal jetzt gewichtest - deine Tochter hat dich ja sozusagen ganz schön gequält, weil sie immer im selben Bett schlafen sollte, und nun wacht so ein Kind ja nachts öfter auf in der Frühphase …
- Müller
- Nicht im selben Bett, das ist ein Nebenbett…
- Kluge
- …Nebenbett. Das heißt also, dein Schlaf war doch zeitweise - für Autoren gar nicht geeignet - gestört durch dieses kleine Lebewesen. Da hat sie eine Menge Primärerfahrung mitgekriegt. Dauernd einen gestörten, mürrischen Menschen, der deutlich größer ist.
- Tafel
- Kinder als Boten / “Virtuelle Vermehrung von Plätzen”
- Kluge
- Und wenn unsere Kinder nicht die Bestimmer von Wirklichkeit sind, wieso können sie dann unsere Boten sein? Du bist nicht schlechter Laune deiner Tochter gegenüber?
- Müller
- Ich glaub’s gelingt mir nicht.
- Kluge
- Weil du bestochen bist? Es ist deine?
- Müller
- Vielleicht ja. Du, ich hab’ gar nicht das Recht, schlechte Laune zu haben dem Kind gegenüber.
- Kluge
- …ja, aber du hast dich doch nie danach gerichtet, zu sagen: also, ich hab’ nicht das Recht, ja, also?
- Tafel
- “Ich habe kein Recht, schlechte Laune zu haben”
- Müller
- In dem Fall schon, du, frag mich nicht warum, aber ich habe überhaupt kein Recht da, schlechter Laune zu sein.
- Kluge
- Komm doch mal zurück auf Agamemnon. Der ist ja nun sozusagen dabei…
- Müller
- Er hat schlechte Laune.
- Kluge
- Also ob er schlechte oder gute Laune hat - also er kann sich mit den Göttern streiten. Und jetzt soll es zum Kriegszug nach Troja gehen und er zückt das Messer und will die Tochter entweder deflorieren oder töten.
- Tafel
- “Agamemnons Laune, wenn er seine Tochter schlachtet–”
- Kluge
- Ist ja ein fremder Gedanke. Das würdest du sagen, in dieser Konkretion bringen wir da die Kräfte gar nicht zusammen, oder? Wo sind die?
- Müller
- Du, es gibt einfach kein Prinzip, keine Idee, die mich berechtigen würde, jetzt schlechte Laune gegenüber meiner Tochter zu haben, das gibt es für mich im Moment nicht.
- Kluge
- Aber wo ist deine patriarchale Gewalttätigkeit, guck’ mal? Du bist ja… Wenn es Agamemnon gegeben hat, mit dem bißchen Aufklärung kann er nicht aufgearbeitet sein, d. h. also, er muß irgendwo anders sein, wenn er bei uns nicht zu identifizieren ist. Ich glaub das auch nicht, daß ich meine Tochter mit ’nem Messer umbringe, egal für welche Ziele. Abgesehen davon, daß wir hier gemeinsam gar keinen Krieg gegen Troja führen. So: wer führt diese Kriege?
- Müller
- Ist das Problem nicht eher, daß es kein Troja gibt für uns?
- Kluge
- Gibt kein Troja, nein. Gibt keinen Peloponnes und kein Troja.
- Müller
- Und das wirkt sich natürlich furchtbar aus.
- Kluge
- …gibt den direkten Ausdruck des Kannibalismus, der Gewalttätigkeit auch nicht… [unverständlich] gibt es nicht…
- Müller
- Und das wirkt sich furchbar aus. Aber vielleicht nicht in den Kinderzimmern…
- Kluge
- Das ist jetzt deine These…
- Müller
- Das ist eine Umverteilung…
- Kluge
- …eine Umverteilung. Du sagst jetzt: wenn es bei uns nicht ist, muß es topographisch auf der Landkarte irgendwo anders sein. Und dabei bleibt übrig, daß die Summe der Toten und dieses Lager der Lebendigen konstant bleiben über lange Perioden. Und würde je das Lager der Lebendigen das Lager der Toten an Zahlen übertrumpfen…
- Müller
- …und das ist jetzt der Fall…
- Kluge
- …dann habe ich Armageddon…
- Müller
- Dann wird’s gefährlich.
- Kluge
- Dann ist die Katastrophe.
- Müller
- Ja, ich glaube schon.
- Kluge
- Weil gewissermaßen der Rat, das Gewicht der Toten gibt sozusagen die Plätze - befestigt, verankert die Plätze der Lebenden.
- Müller
- Ja, ja…
- Kluge
- Würdest du das auch auf Wirtschaft anwenden?
- Müller
- Ich glaube schon.
- Kluge
- Denn da gibt es ja auch kapitalistische Tote und kapitalistische Lebendige. Die Menschen in den neuen Bundesländern haben irgendwie die Idee gehabt, daß sie jetzt einen Platz an der Sonne erreichen. 1989. Weil es leere Plätze im Kapitalismus gäbe. Das scheint ein Irrtum zu sein.
- Müller
- Das war der Irrtum, ja. Die Plätze waren schon besetzt.
- Kluge
- Man hätte nur mit anderen, mit Räubern gemeinsam, zum Beispiel mit Frankreich verbündet …
- Müller
- Das ist ja reine Theologie. In Wirklichkeit ist es so, die Plätze, die die DDR-Bürger besetzen wollten, waren schon besetzt. Da ist das Problem, jetzt sitzt einer auf dem anderen, oder natürlich: Der Stärkere sitzt auf dem Schwächeren.
- Tafel
- “Winter in Sibirien”/ Eine Beobachtung von Richard Kapuscinski–
- Müller
- Wir hatten vor ein paar Tagen im Berliner Ensemble eine Veranstaltung mit Kapuscinski, den kennst du?
- Kluge
- Ja.
- Müller
- Und er wollte…also die Leute erwarteten, daß er was liest…
- Kluge
- Ein brillanter Autor … Hat über Haile Selassi einen Roman, eine Dokumentation geschrieben.
- Müller
- Ja, ja. Und er wollte nur einen einzigen Text polnisch lesen und übersetzt lesen lassen, und das hat er auch gemacht. Das war ein Text über den Winter in Sibirien. Und das sieht ungeheuer naiv aus auf Anhieb, aber ich glaube, es ist sehr interessant. Er trifft im Winter in Sibirien in einer beliebigen Stadt, sieht er ein Mädchen, das über Pfützen springt, also über gefrorene Pfützen und unterhält sich mit diesem Kind. Und dieses Kind erklärt ihm den Winter in Sibirien. Zum Beispiel: man geht zur Schule, und man sieht sofort, wer vor einem zur Schule gegangen ist, ein Schüler, ein Lehrer, weil jeder, der durch diesen Frost geht, durch diesen Winter…
- Kluge
- …hinterläßt Spuren…
- Müller
- Nicht mal Spuren, sondern es ist ein Dunstkreis. Man erkennt sofort, ob es ein Schüler war, der vor einem gegangen ist oder ein Lehrer.
- Kluge
- Ist es ein kleiner Dunstkreis?
- Müller
- Ja, es ist ein sichtbarer Dunstkreis, den der Frost bildet. Also eine Gestalt, die durch diesen Frost geht, hinterläßt eine Kontur.
- Kluge
- Auf kurze Zeit…
- Müller
- Ja. Und deswegen weiß man als Kind sofort, ob vor einem ein Kind zur Schule gegangen ist, oder ob der Lehrer schon da ist. Dann geht man mal aus dem Haus, und es ist besonders kalt, und man sieht, da gibt’s keine Dunstkreise, also ist keiner zur Schule gegangen, dann weiß man, die Schule fällt aus. Es gibt keine Dunstkreise, keine Konturen, die der Frost gebildet hat. Ich finde das wahnsinnig, ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll, aber …
- Kluge
- Das ist eine extreme Verlangsamung, also daß die Körperdünste so lange da bleiben…
- Müller
- Die werden durch den Frost…
- Kluge
- …gehalten…
- Müller
- Gehalten, ja, ja.
- Kluge
- Das ist das, was du meinst mit “Sibirien ist unsere Zeitreserve”?
- Müller
- Zum Beispiel, ja. Ich meine, das ist eine Metapher dafür.
- Kluge
- Wenn du mir den Kapuscinski mal beschreibst… Der hat ja dieses Buch auch geschrieben über das Imperium, ja, Reisen innerhalb eines niedergegangenen, implodierten Imperiums, also er meinte die Sowjetunion damit. Und er als Pole ist dort überall umhergereist. Über Mittelasien die besten Texte, die ich je gelesen habe. Und wie wirkt der? Ist das ein kleiner Mann, großer Mann?
- Müller
- Ein kleiner Mann und sehr bescheidener Mann. Und ich glaube, das Problem ist: Er ist nicht nur Pole, er ist auch Russe. Er ist als Kind Russe geworden.
- Kluge
- … war besetzt 1939.
- Müller
- Als Kind war er in dem russisch besetzten Gebiet.
- Kluge
- Gab’s ihn da schon?
- Müller
- Ja, ja. Da ist er aufgewachsen. Das schreibt er auch in dem Buch.
- Kluge
- Welches Jahrgang ist das?
- Müller
- Ich glaube, er ist ungefähr so alt wie wir, also vielleicht…
- Kluge
- 1932, ‘31, ‘30, ‘28?
- Müller
- Ja. ‘30, um ‘30. Und ist da aufgewachsen, in der Zeit. Und er erzählt, diese Reisen waren nur möglich dadurch, daß er Russisch gesprochen hat und Russisch konnte. Und die Reisen waren sehr billig. Und wichtig war, da gab damals in der ganzen Sowjetunion keine Telefonbücher zum Beispiel, es gab keine wirklichen Straßenkarten, keine wirklichen Landkarten, die stimmten alle nicht, die waren ungenau. Es gab immer Städte, die fehlten, die waren nicht drauf, oder Orte, die nicht drauf waren auf den Karten. Es gab falsche Benennungen und falsche Karten.
- Kluge
- Um den Feind irrezuführen, strategische Objekte oder Lager zu tarnen…
- Müller
- Ja, genau. Und es gab keine Telefonbücher, zum Beispiel, auch in Moskau nicht. Das heißt, man war angewiesen auf Kontakte. Und die konnte er nur haben, weil er Russisch sprach, hatte er schnell Kontakte. Wenn er nach Tiflis fahren wollte oder nach Irkutsk, dann wurden Kontakte hergestellt nach Irkutsk oder nach Tiflis. Das war wie ein Buschfunk, also ganz afrikanisch…
- Kluge
- Buschtrommeln…
- Müller
- Buschtrommeln, ja, und überhaupt keine moderne Kommunikation. Aber dadurch hat er viel mehr Informationen sammeln können, als wenn er jetzt mit einem Fernsehteam zum Beispiel dahin gereist wäre, dann wären so viele Informationen von vornherein ausgeklammert gewesen und nicht erreichbar, aber so ist er quasi in dem Gewebe herumgefahren.
- Kluge
- Und so hat er jetzt eine Topographie geschrieben als Autor, eine Landschaftsbeschreibung eigentlich, die an Stelle einer Landkarte gelesen werden kann. Das ist eine andere Art von Dichtkunst.
- Tafel
- Kapuscinski, ein Landvermesser/ Sein Buch über das Imperium
- Kluge
- Wie kommt das Berliner Ensemble dazu, den Kapuscinski einzuladen? Ihr seid doch ein dramatisches Haus, also eigentlich für Dramatik geeignet oder vorbestimmt.
- Müller
- Du, das war meine Idee, aber natürlich ist die Frage trotzdem gut. Ja, es ist völlig undramatisch.
- Kluge
- Er ist ein völlig undramatischer Autor, ein Chronist, Beschreiber, ein Landvermesser…
- Müller
- Das Problem ist ja auch: Das Drama in der europäischen Tradition braucht Ordnungen, und das Zerbrechen von Ordnungen, aber dieses Zerbrechen muß auch noch einsehbar und transparent sein und darstellbar und …
- Kluge
- Und wenn zu viel zerbricht, dann kann man keine Dramen mehr machen.
- Müller
- Genau, genau, und da zerbricht ständig in Mikroeinheiten etwas, und es gibt da kein Drama, keinen Plot.
- Kluge
- Der Verbrauch an Konflikten, an denen Menschen wirklich sterben können, wandelt sich so stark, daß, was auf Tod und Leben 1988 gilt, 1991 schon nicht mehr gelten muß. So meinst du das? Planetenmacht - Himmelsmacht.
- Tafel
- “Das Ende des Dramatischen”/ “Der Boden wurd heilig durch die Toten, die in ihm liegen–”
- Müller
- Ja. Rußland als Landmacht. Also der Heilige Krieg: Der Verteidignugskrieg in Rußland wird heilig. Und Rußland ist heilig, wenn es angegriffen wird. Und der Boden wird heilig durch die Toten, die da drin liegen. Das, glaube ich, wäre in Frankreich, so nach dem was du sagst, nicht denkbar, daß Boden heilig wird, dadurch daß Tote drin liegen. Im Moment ist es ja eher so in Europa, daß der Boden dadurch vergiftet wird, daß Tote drin liegen.
- Kluge
- Wenn du jetzt mal so nimmst, du hast vorhin gesagt, es gibt eine Stabilität des Bösen, es gibt also eine gewisse Menge von Bestialität, eine gewisse Menge von Gewalt, die sich nur umverteilt. Wenn zum Beispiel so ein Kreuzzug gewissermaßen die Kräfte der Gewalt nach außen lenkt, jetzt wird also auf dem Zug 1204 nicht Jerusalem erreicht, auch nicht Kairo, sondern Byzanz wird besetzt, und die ganzen Franken und Germanen erstrecken sich über den Peloponnes, gründen dort Grafschaften, Baronate. Eigentlich so wie England erobert wurde von den Normannen, wird jetzt Konstantinopel einmal zerstört auf hundert Jahre. Was passiert bei so einem Export von Gewalttätern? Wird das Land friedlicher?
- Müller
- Nicht unbedingt, wenn Gewalt exportiert wird, wird sie ja geschwächt, und sie läuft aus, sie verteilt sich. Und wenn sie sich verteilt, wird sie schwächer, und dann muß…
- Kluge
- …und der Raum wird leerer von Gewalt, andere können ihn füllen.
- Müller
- … und der Raum wird leerer, und dann muß er wieder aufgefüllt werden. Und der wird dann aufgefüllt von unten. Gewalt in dem Sinne als Aggression oder Invasion oder Eroberung ist ja eine Oberflächenbewegung. Man bedeckt etwas, man überzieht etwas mit Gewalt, besetzt es.
- Kluge
- Die ganze Materie ist Schein, und die ganze Energie ist Schein. Was es gibt, ist Topographien, Plätze: Das ist eigentlich die Theorie der starken Wechselwirkung heutzutage.
- Müller
- Das stimmt doch, kann doch nur stimmen in einem Rahmen. Und wer bestimmt den Rahmen?
- Kluge
- Das ist die Natur, das hat sozusagen unser Kosmos so gemacht, daß es diese Plätze gibt.
- Müller
- Der Rahmen ist doch nicht wirklich definierbar. Es ist doch immer eine willkürliche Entscheidung, welchen Rahmen man zieht, welche Begrenzungen man für gültig erklärt. Und wenn dieser eine Rahmen, der jetzt ausgefüllt wird mit Gewalt und einem Gemisch aus Gewalt und Toleranz… diese Mischung aus Gewalt und Toleranz ist ja auch explosiv und keine statische oder nie zur Ruhe zu bringen.
- Kluge
- Nie statisch.
- Müller
- …das ist immer in Bewegung, und irgendwann wird der Rahmen das nicht mehr halten können, diese Bewegung, nicht mehr im Rahmen halten können und dann braucht man einen neuen Rahmen.
- Kluge
- Da sagen die modernsten Physiker, den Rahmen kann man zersprengen, der kann zertrümmert werden, das geschieht sehr oft. Und die Kräfte, die den Rahmen sprengen, können auch zerfließen, erschüttern, implodieren, explodieren. Sie können verschwinden, sie können wiederum Leere bilden. Aber was sich nicht ändert, sind die Plätze, auf denen alles stattgefunden hat.
- Tafel
- “Ein Jeglicher hat seinen Platz, aber wer ist ein Jeglicher?”
- Müller
- Ja, aber das ist doch genau der Punkt, daß … ein jeglicher hat seinen Platz, und dann ist immer die Frage, wer ist der Jegliche? Das ist das, was sich ändert. Der Platz ändert sich wahrscheinlich überhaupt nicht. Oder in Zeiträumen, die wir gar nicht denken können.
- Kluge
- Das gehört zum Platz sozusagen. das sind Zeitplätze.
- Müller
- Aber das, was diesen Platz besetzt, kann sich ständig ändern. Das muß kein Mensch sein, das kann ein Computer sein, das kann eine pflanzliche Substanz sein, was immer. Du hast mir erzählt die Geschichte von Idomeneo, d. h. ein Mensch, der zum Tod bestimmt ist, d.h. für einen Platz …
- Kluge
- Er ist zehn Jahre von Troja her … und ist ist mindestens zwanzigmal vom Tode bedroht worden, er ist länger unterwegs als Odysseus, jetzt ist der Tod endgültig für ihn bestimmt.
- Müller
- … und er wird gerettet. Er kann diesen Platz nicht besetzen, nicht einnehmen. Also schuldet er der Welt oder dem ökologischen Gleichgewicht ein Menschenopfer, d.h. es muß einer an seiner Stelle tot sein, deswegen diese merkwürdige Geschichte. Mich hat das erinnert an einen Text, es ist ein Vorwort, ich glaube, von Jean Paulhan, ich bin nicht ganz sicher, zu diesem Edelporno “Die Geschichte der O.”, gibt’s auch einen Film, ziemlich bekannt. Und die These in diesem Vorwort ist, es gibt in der Welt, in der Geschichte der Menschheit offenbar ein Äquivalent von Gewalt. Und jede Revolution oder jeder Fortschritt ist eigenlich nur eine Umverteilung von Gewalt. Ein Beispiel war in diesem Text, daß im Mittelalter Kinder nicht geschlagen wurden, dafür gab es Pogrome, alles mögliche.
- Kluge
- Kreuzzüge.
- Müller
- Kreuzzüge, genau. Und als es keine Kreuzzüge mehr gab und Pogrome nur noch eingeschränkt, mußten die Kinder geschlagen werden. Es gab immer offenbar einen fast biologischen Zwang, ein bestimmtes Quantum von Gewalt einzuhalten, damit der Betrieb funktioniert.
- Tafel
- Eine wahre Geschichte aus Haiti/ Zur Zeit der französischen Revolution
- Müller
- Oder ich erzähle mal das Beispiel noch: Auf Haiti gab es die erste schwarze Republik auf Haiti, so im Verfolg der Französischen Revolution oder als Reflex auf die Französische Revolution, und die Sklaverei war abgeschafft bzw. verboten …
- Kluge
- Durch Dekret des Konvents …
- Müller
- Durch Dekret des Konvents, ja, und der Regierung von Haiti. Und zu einem französischen Plantagenbesitzer kamen seine befreiten Sklaven und baten ihn kniefällig, wieder Sklaven werden zu dürfen, weil sie in der Freiheit sich nicht bewegen konnten, nicht wußten, wie sie da leben sollen, ohne Sklaven zu sein. Und er versuchte verzweifelt, ihnen zu sagen: Ich darf das nicht, das ist verboten, ich darf keine Sklaven mehr haben, und ich kann euch nicht helfen. Und dann haben sie ihn totgeschlagen, weil er sie nicht mehr als Sklaven haben wollte.
- Kluge
- Wenn du erwidern solltest, ob dein Beruf, den du ausübst, mehr ein Land- und Zeitvermesser ist oder ein Prophet, was würdest du sagen?
- Müller
- Ich würde natürlich aus Eitelkeit sofort sagen, ein Prophet, das wäre aber ganz falsch. Ich würde, wenn ich ehrlich bin, sagen: Ich bin ein Landvermesser.
- Tafel
- Mars-Schleifen 1926-1941
- Textband
- Im antiken Griechenland bewachen die Totengötter die Lebewesen / Es kann nicht mehr Plätze für Lebende geben, als es Tote gibt / Das führt jedes Zeitalter an sein Ende: / “Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll–”