Über Unterschiede beim Sprechen. 20 Beispiele
Transkript: Über Unterschiede beim Sprechen. 20 Beispiele
- Text
- ÜBER UNTERSCHIEDE BEIM SPRECHEN / 20 Beispiele
- Text
- IN ERSTER LINIE BIN ICH FILMEMACHER! Begegnung mit Christoph Schlingensief
- Christoph Schlingensief
- Aber ich komme ja eigentlich vom Film. Und am Film finde ich wieder das Interessante, dass ja eben das Werk zerstörbar ist; dass die Filmkopie, die frühere Filmkopie aus Körnern bestand – zu heiß entwickelt oder so, dann hatte man solche Körner. Und das Filmmaterial im Projektor wurde eben ja auch gekühlt. Zum Beispiel diese ganzen Nitro-Filme … ich hatte noch einen Projektor in Mülheim an der Ruhr, der hatte ein Aquarium, das musste mit Wasser gefüllt werden, kam dann zwischen den Film und der Lampe reingeschoben, dann erhitzte sich das Wasser. Und wenn das dann zu heiß wurde, also dass der Nitro-Film plötzlich hätte anfangen können zu brennen, ging ein Pfeifton los. Das heißt, dieses Wasser kochte, bevor die …
- Kluge
- Wie ein Teekessel. Aber die Tierschutzvereine unterbanden das. Denn wenn Fische in dieses Verfahren hineingeraten, dann ist es doch nicht gut. Die werden gesotten.
- Schlingensief
- Das war damals sogar eine Idee, einen Fisch in dieses Aquarium zu tun, der dann ja auch den Projektionsstrahl permanent stört, indem er darin rumschwimmt und man sieht ja dann hier irgendwelche schwarzen Flecken. Und dann nachher ihn aber auch kochen zu lassen, und dann, wenn er dann fertiggekocht ist, nach der Vorführung gemeinsam mit den Zuschauern, mit dem Publikum zu essen.
- Text
- Christoph Schlingensief
- Kluge
- Einen Fisch für so viele? Da braucht man einmal Jesus Christus …
- Schlingensief
- 50 Gräten, die man da nehmen kann. Wir haben es auch nicht realisiert. Also die Zeit von Otmar Bauer war ja vorbei, und da haben wir das dann auch nicht gemacht.
- Kluge
- Aber interessant, dass hier sozusagen in Ihrer neuen Installation jetzt, allmählich von Island kommend, über Afrika, Südafrika, Lüderitzbucht, hier jetzt Wien dann, Burgtheater, und jetzt …
- Schlingensief
- Hagenberg noch.
- Kluge
- Hagenberg, Salzburg jetzt … Und hier kommt eine ganz eigenartige Kammer zustande, in der jetzt die Dinge noch einmal ihre Wiedergeburt erleben.
- Schlingensief
- Ja, und vielleicht sogar noch vorher geschaltet, der Entstehungspunkt war ja fast der Beyreuth-„Parzival.“ Also der Raum wird zur Zeit.
- Kluge
- Die Fortsetzung. Sind alles Nachkommen Parzivals. Der hat ja selber physisch kaum Nachkommen, oder? Doch, Lohengrin. Aber der hat keinen weiteren Sohn. Also einen Enkel hat Parzival nicht. Und die Elsa kriegt ja kein Kind. Was geschieht mit der Elsa am Schluss?
- Schlingensief
- Stürzt sich halt raus. Stürzt sich raus, oder jetzt neuerdings sprengt sie die Gesellschaft in die Luft. Bei Konwitschny passiert.
- Kluge
- Und der Schwan hätte ja nichts machen können. Nicht, der Schwan …
- Schlingensief
- Die Elsa jetzt.
- Kluge
- Ich verstehe. Aber der Schwan hätte Elsa nicht schwängern können. Und Elsa hätte den Schwan nicht schwängern können.
- Schlingensief
- In Sao Paulo ist dem Schwan der Kopf abgebrochen, als der Lohengrin reinfuhr. Der ist so singend statisch reingefahren, da ist er angeeckt, und dann ist der Kopf oben abgefallen. Und hat er aber weiter … hat er nur ganz kurz mal so nach unten geguckt zum Kopf und hat dann weiter gesungen.
- Kluge
- Das bleibt dann so?
- Schlingensief
- Das bleibt mir hängen. Sowas bleibt mir hängen.
- Kluge
- Das ist, was man Mutation nennt in der Evolution …
- Schlingensief
- Das war eine Geburtsstunde, ja.
- Kluge
- … das ist hier die Förderung von Oper. Es geht immer weiter. Der Schwan ohne Hals, ohne Kopf ist ja eigentlich die Sensation.
- Schlingensief
- Ja, das ist die Geburtsstunde eben dann eines neuen Denkens. Der Kopf liegt auf dem Boden, und man guckt noch mal, was er macht.
- Kluge
- Und dann haben Sie dort ein Bild des Festivalpalastes, des Festivalhauses …
- Schlingensief
- Das Festspielhaus haben wir da, wir haben auch das Mozart-Urklo. In Gold.
- Kluge
- In Gold. So wie es den Bundesfilmpreis in Silber, in Gold, und Kupfer und so gibt, hat er in Gold, damit er dort sozusagen die Hoden reinhängen kann. Das ist der Hodenhänger …
- Schlingensief
- Sieht man auch zwei Abdrücke. Also man sah, dass er sehr lange hängende hatte. Und auf dem Festspielhaus selber ist ein Ausdruckstanz zu sehen, den wir selber aufgenommen haben, der aber wohl angeblich von 1972 ist.
- Kluge
- Wenn Sie im Wettbewerb der Hoden in der Welt einmal richten sollten: Was sind dort Qualitäten? Denn sagen wir mal, im Sinne des goldenen Schnitts sind sie ja nicht schön.
- Schlingensief
- Es gibt Menschen, die sich die … also eine hängt ja immer tiefer, habe ich mal gehört … die sich das operieren lassen, dass es alles in einer Ebene ist. Daran glaube ich nicht.
- Kluge
- Aber Ebene bedeutet noch nicht „der goldene Schnitt.“ Denn sie sind wenig unterteilt, sie sind geriffelt, sie sind auf eine eigentümliche Weise …
- Schlingensief
- Sie haben diese kleine Trennlinie in der Mitte. Die finde ich fast am interessantesten. Diese Linie in der Mitte, die sich dann auch, wenn man eben in die Kälte tritt nach dem Saunagang dann plötzlich, wenn er sich zusammenzieht, hat er diese Trennlinie, als wäre der ganze Körper doch in zwei Teile geteilt.
- Kluge
- Was er ja ist. Er hat zwei Arme, hat eine Nase …
- Schlingensief
- Mit zwei Löchern allerdings.
- Kluge
- … sehr richtig. Also aber einen Mund. Mit mehr als zwei Zähnen.
- Schlingensief
- Einen Mund … wir haben zwei Stimmbänder aber dafür.
- Kluge
- Sehen Sie? Aber ein Kehlkopf.
- Schlingensief
- Einen Kehlkopf. Mit zwei Ritzen. Wir sind eigentlich fast dem Zwillingswahn Verfallene. Aber das hat nur Amerika geschafft.
- Text
- Der Zwillingswahn
- Kluge
- Als seien wir zusammengewachsen aus zwei Wesenheiten.
- Schlingensief
- Ja, das ist das, weshalb Amerika … also William Hertz zum Beispiel ja Beichtstühle hat kaufen lassen in Europa. Und zwar immer denselben zweimal. Das heißt, es musste einer links an der Tür stehen, einer rechts stehen. Das war der Zwillingswahn. Das sind auch die Twin Towers. Das ist, wenn man keine Geschichte hat. Dann will man etwas holen und will es aber zweimal haben, weil wenn es einmal weg ist, hat man es noch einmal. Deshalb haben jetzt auch viele Leute zwei Handys.
- Kluge
- Man hat ja gesagt, dass die Kamera, die die Brüder Lumière und Edison parallel erfunden haben, eigentlich das Prinzip Fahrrad mit dem Prinzip Nähmaschine verbindet. Alles übrigens dasselbe wie Fotografieren. Das eine macht diese Löcher an den Seiten, und das andere transportiert das. Und Ihre Vorkehrung hier, die man sieht, die sich dreht, doppelt dreht, hat ja auch ein bisschen was von einer Kamera.
- Text
- Schlingensiefs Animatograph als Wiederkehr des CINEMATOGRAPHEN
- Schlingensief
- Das ist eine riesige begehbare Kamera. Das ist eigentlich ein Imax-Kino für Arme. Also das heißt, hier gehe ich in ein Ding rein … auch, was sehen meine Hoden eigentlich durch die Leinwand meiner Hodenhaut, also meiner Sackhaut.
- Kluge
- Gibt es Fenster?
- Schlingensief
- Ich mache da Fenster rein.
- Kluge
- Da kriegt man extra Hosen an. Die sind unten offen, wohl verdeckt, dass es nicht tropfen kann oder so, aber es ist so. Also wie beim Treibhaus.
- Schlingensief
- Ja. Man sitzt in dieser Eikuppel praktisch drin, und man ist das Spermium, und man guckt eben in die Welt. Und diese Welt wird projiziert mit vier verschiedenen Filmen, die eben dann durch – hier wird der Raum zur Zeit – durch die Drehung sich selber beschneiden …
- Text
- Christoph Schlingensief
- Kluge
- Es ist ein Schnittgerät.
- Schlingensief
- Genau, ein Schnittgerät. Und das ist eben auch diese Schnittmaschine, die ich eigentlich am allerliebsten habe, nämlich dass der Film sich selber schneidet. Ich habe zwar etwas vorgegeben wie ein Motiv … ich habe etwas vorgegeben wie eine Personenkonstellation, aber ich lasse es sich plötzlich selber schneiden. Und das ist das, was der Animatograph kann. Er fordert mich auf, ihm Material zu geben, und er macht daraus selber die Welt.
- Kluge
- Er verhäckselt sie, oder wie würde man das nennen? Er übermalt sie, das ist richtig.
- Schlingensief
- Er überblendet sie, er übermalt sie. Wenn er sie häckseln würde, würde er sie nur zu Kleinvieh machen. Das ist mir in Hof passiert. In Hof wurde halt eben am Ende der Film gehäckselt. Meine erste große Vorführung dieses ersten Films mit unserem Freund Alfred Edel, „Tunguska“, endete im Desaster, weil der Projektor sich verselbstständigte, das Material häckselte, und der Film irgendwie brannte, obwohl ich die Verbrennung im Film selber schon am Tricktisch mit einem Freund zusammen aufgenommen hatte. Also wir haben eine Verbrennung simuliert, die nachher selber stattgefunden hat. Der Film wurde gehäckselt und der Filmprojektor …
- Kluge
- Der Filmprojektor war so intelligent, die Absicht des Regisseurs, die längst verwirklicht war …
- Schlingensief
- Der Vorführer war gegangen, weil er sauer war, dass der Film selber brannte, also reproduziert brannte und nicht wirklich brannte. Dann hätte er eingreifen können. Das hat ihn beleidigt, deshalb ist er gegangen, hat die Kammer abgeschlossen. Daraufhin hat der Projektor beschlossen, selber zu brennen und selber zu häckseln und hat den Film zerstört. Da war der Vorführer weg und der Film wurde gehäckselt, und ich konnte nicht eingreifen.
- Kluge
- Die Feuerwehr kommt, tatü tata. Sie werden verhört.
- Schlingensief
- Ja, und Hof war in Lebensgefahr. Die Hofer Filmtage waren in Lebensgefahr. Und mein Film war erledigt.
- Kluge
- Wurden Sie bestraft?
- Schlingensief
- Ich hatte am Ende noch sieben Leute da sitzen. Sieben Leute, die da noch saßen, und hab dann aus der Not die Tugend gemacht zu sagen, man muss Filme immer im Häckselzustand über dem Betrachter abwerfen. Er nimmt das Stückchen, was er findet, geht zum Ausgang, es wird mit der Klebepresse zusammengemacht, und dann schauen wir uns diesen Film an. Aber das hat natürlich keiner realisiert. Das steht noch aus.
- Kluge
- Sie würden ja sagen, dass Sie Filmemacher in erster Linie sind.
- Schlingensief
- Auf alle Fälle.
- Kluge
- Und wenn Sie mir mal sagen: Was ist Film?
- Schlingensief
- Film ist für mich eben, wenn man jetzt mal noch von dem Film ausgeht, den wir eigentlich kennen – also Sie noch länger als ich – nämlich das belichtete Filmmaterial, dann ist das eigentlich fast schon ein Lebewesen. Es ist etwas, was zerstörbar ist. Also er kann brennen, er kann unscharf sein, er kann sich verändern, über Jahre kann das Material schrumpfen, plötzlich passt es nicht mehr in den Projektor, wo es mal gezeigt wurde.
- Kluge
- Was machen Sie dann?
- Schlingensief
- Wässern.
- Kluge
- Sie sprechen vom Unterwasserfilm. Es gibt ja den Höhenstrahlfilm, das heißt, der ist vor allen Dingen in der Wetterforschung eingesetzt. Aber in der Stratosphäre ist die Höhenstrahlung so, dass sie die ganze Emulsion zersetzt. Es gibt hochinteressante Strukturen. Was ist …
- Schlingensief
- Das sind diese Pünktchen, die man hat, wenn man im Flugzeug fliegt, in zehn Kilometer Höhe. Das sind diese Einschüsse, die man dann sieht auf der Netzhaut.
- Kluge
- Ganz genau. Dann gibt es den betretenen Film: das heißt, Eingeborene trampeln so lange auf der Emulsion herum, bis sie gewissermaßen sich zerquetscht. Und sozusagen das belichtete Bild zerquetscht sich, auch interessant.
- Schlingensief
- Oder unbelichtetes Material kann durch Hammerschläge belichtet werden, nur durch die Reibung, durch den Kontakt mit dem Material, durch den Schlag gibt es plötzlich Blitze, und dann wird das belichtet. Das ist dann Energie.
- Kluge
- Ein Negativ.
- Schlingensief
- Ja. Da kommt kein Licht, aber ein Schlag, und das ist auch Energie.
***
- Frau 1
- Wo ist denn mein Koffer bitte? Den haben Sie wohl rausgenommen, was haben Sie sich dabei gedacht?
- Frau 2
- Das können Sie sich vorstellen, was ich mir gedacht habe.
- Frau 1
- Einfach in ein Zimmer reingehen und einen Koffer rausholen.
- Frau 2
- Ja, das tue ich auch.
- Frau 1
- Man kann einem Menschen nicht einfach was wegnehmen.
- Frau 2
- Doch, das kann man in dem Fall, wenn man was zu holen hat.
- Frau 1
- So wie Sie wie eine Glucke hier sitzen und auf alles aufpassen. Und im Haus darf man überhaupt nichts machen.
- Frau 2
- Erstens kommen Sie schon mal rein und klopfen nicht. Das ist schon mal …
- Frau 1
- Wenn man den Koffer weggenommen kriegt, wird man doch wohl nicht noch anklopfen und sagen, ach ja, wie schön. Was haben Sie sich dabei gedacht?
- Frau 2
- Da hab ich mir dabei gedacht, dass ich vielleicht die rückständige Miete ein bisschen schneller bekomme.
- Frau 1
- Ach, die rückständige Miete. Das ist aber jetzt ein bisschen zu viel. Kommen Sie, ich habe drei Monate gesagt, dass ich die Miete im dritten Monat zahle werde.
- Frau 2
- Das interessierte mich nicht.
***
- Sprecherin
- In einem Kurzbeitrag lenken wir Ihre Aufmerksamkeit darauf, dass Kellner ihre Tabletts links tragen. Die rechte Hand bleibt frei.
- Kellner
- Kuck mal, der ist auch nur halb voll.
- Interviewer
- Vorgestern habe ich gesehen, dass ein Ober diesen Teller rechts trug, ist das richtig?
- Bartender
- Das ist verkehrt.
- Kellner
- Das ist verkehrt.
- Interviewer
- Wie muss es sein?
- Bartender
- Links.
- Kellner
- Links. Grundsätzlich nur links. Ich muss ja eine Hand frei haben für eine Dame zum Beispiel, wo ich den Mantel anreiche, wenn sie den Mantel wieder anziehen möchte, oder ausziehen möchte zum Beispiel. Oder wenn dir die Dame den leeren Teller in die Hand drückt, das muss ich also auch entgegennehmen.
- Bartender
- Und das hat folgenden Grund, weil ich dem Gast immer von der rechten Seite das Getränk oder das Essen serviere. Weil der Trend, das ist erschreckend, das geht immer nach links beim Menschen. Also überwiegend immer nach links, deswegen setze ich das von rechts ein, da ist die Gefahr nicht so groß, wenn er sich irgendwie erschrickt, wenn ich plötzlich komme.
- Kellner
- Die meisten Menschen sind rechts eingestellt. Zum Beispiel finden Sie es auch … alle Läden zum Beispiel sind immer auf rechts eingerichtet. Alle Menschen, wenn sie irgendwo hingehen, gucken sie immer zuerst nach rechts. Von rechts ist man gewohnt, dass was kommt. Von links erschrecken die meisten Menschen.
- Interviewer
- Und was hat das zu tun mit der Arbeit eines Obers?
- Kellner
- Ja, dass ich den Gast nicht erschrecke, dass der Gast sich wohlfühlt, dass er in Ruhe sitzen kann zum Beispiel, und dass er es behaglich findet, dass er länger bleibt und umso mehr trinkt zum Beispiel, also das heißt, mehr Umsatz bringt.
- Bartender
- Und dass ich nicht Gefahr laufe, wenn ich jetzt von links komme, das kann sein, jetzt hat er mich nicht erwartet, der Gast, und in einer Reflexbewegung haut er mir das Bier vom Tablett.
- Kellner
- Ja, das passiert auch, wenn man von links bedient. Das ist korrekt.
- Bartender
- Von rechts ist das nicht so. Nicht so oft. Erwartet man das zu sehen, weil er weiß, von rechts wird er bedient.
- Interviewer
- Und wenn Sie jetzt mal vorzeigen: wie hält man das Ding?
- Kellner
- So, vier Finger unten, das ist für die Balance, die schweren Sachen nach hinten, zu mir hin, und die leichten Sachen nach vorne.
***
- Text
- Samstag 22h 26. April 1986
- Arbeiter
- Und dann komm ich da mit dem Audi-Bagger, weil es unterm Level ist. Was unterm Level ist, kommt alles runter, das kann ich alles runterholen mit dem Bagger. Und natürlich die
Sicherheitsvorkehrungen, die müssen einigermaßen eingehalten werden. Auch für uns ist ja auch unsere Sicherheit maßgebend. Wir haben ja keinen Panzer.
- Passant
- Total aufgeregt. Mein Leben ist nicht mehr normal. Und ich kann es nicht verstehen, es gibt doch eine Gewerkschaft. Es gibt Gesetze. Es gibt die 5-Tage-Woche. Warum darf der heute da räumen? Da ist, irgendetwas ist absurd, und ich möchte die Wahrheit wissen. Ich gestatte mir die Frage: Wo ist die Genehmigung? Warum dürfen Millionenschweine einfach machen, was sie wollen, während unser einem alles verboten ist? Das ist alles. Danke.
***
- Stimmen
- Was wollen Sie denn mit Ihrer sogenannten Freiheit anfangen? – Friede und Ruhe. – Damit kann man doch gar nichts anfangen. [Stimmengewirr] Die Freiheit, die ich meine. – Sagen Sie mal, Heißt das der Mensch oder das Mensch? Der Ekel oder das Ekel? – Nichts, nichts. [Stimmengewirr] Seien Sie doch ruhig vielleicht! [Stimmengewirr] Ist denn das alles christlich? [Stimmengewirr] … um ruhig und sanft zu werden. – Was ist ein Schächer? Früher dachte ich, Tscheche. Aber Schächer ist etwas anderes im eigentlichen Wertsinn. – Sehen Sie. Wenn heute jemand fromm ist, so meint man gleich, er ist plem-plem. Aber besuchen Sie uns doch mal. In unserem Pfarrhaus kann man Tennis spielen, lesen, Schach spielen und fernsehen.
***
- Text
- Mit Sophie Rois / „Kamerad Schlingensief“ Volksbühne 26.01.2008
- Sophie Rois
- Heiner Müller. Ich kaue die Krankenkost, der Tod schmeckt durch Nach der letzten Endoskopie in den Augen der Ärzte war mein Grab offen Beinahe rührte mich die Trauer der Experten und beinahe war ich stolz auf meinen unbesiegten Tumor Einen Augenblick lang Fleisch von meinem Fleisch. 12.12.1995.
- Kluge
- Und das widmen wir Christoph Schlingensief.
- Rois
- Wollen wir vielleicht noch etwas singen für Christoph? Für Christoph Schlingensief und den Kameradschaftsbund Ottensheim an der Donau.
- Kluge und Rois
- Ich hatt einen Kameraden, einen besseren findst du nicht. Die Kugel kam geflogen … da-da-da … trifft sie mich oder trifft sie dich? Er fiel an meiner Seite … da-da-da …die Trommel schlug zum Streite, er ging an meiner Seite, mit festem Schritt und Tritt, mit festem Schritt und Tritt. Eine Kugel kam geflogen, galt sie dir oder galt sie mir? Da-da-da … ein guter Kamerad.
- Rois
- Dieses Fragmentarische ist absolut in Ordnung. Man versteht die Geste. Ist gut so.
- Kluge
- Und das müssen wir tun, weil er ist in Sorge. Er ist heute nach Oberhausen gefahren zu seiner Mutter. Und die Ärzte warten schon mit dem Skalpell ….
- Rois
- … Ich glaube, er ist sehr geschmeichelt, wenn wir …
- Kluge
- Nein, und er nennt sich Kamerad Schlingensief, seit diesem Abend, hat er doch Kamerad Schlingensief.
- Rois
- Kamerad Schlingensief. Ja, ist er ja auch.
- Kluge
- Und das ist auch so wieder, Frau Rois, das hat gar nichts zu tun mit diesen alten … der ist ja nun wirklich der am wenigsten soldatische Mensch, den ich kenne.
- Rois
- Nein, das wäre ja auch viel zu kurz gegriffen.
- Kluge
- Viel zu kurz gegriffen. Und trotzdem, ihn beschäftigt das, weil die ältere Generation hat etwas sozusagen da geopfert, für welchen Irrtum auch immer. Und das bewegt ihn.
- Rois
- Also so vom Bild her gefällt mir das auch, zu sagen: Kamerad, weil ich bin ja auch ein Stück mit ihm gegangen und man könnte sagen, wir haben manche Schlacht geschlagen. Dann ging man auseinander und es ist auch nicht schlimm. Trotzdem ist man …
- Kluge
- Und ich sehe Sie in Umarmung bei dem Schmerzkongress. Kunstblut trifft Herzblut. Da sind Sie als Isolde, stumme Isolde, stumm wie ein Fisch, und er als Tristan oder Parzival, aber mit der Musik der „Götterdämmerung“. Er hatte da noch einen Mischkurs, einen etwas hybriden Wagnerkurs. Und dann hat er daraus Parzival gemacht, und daraus hat er in Manaus weitergemacht und so weiter. Aber das ist eine Schlüsselszene damals. Das haben wir gefilmt.
***
- Text
- Herbert Hausdorf, Bruder meiner Mutter /
- Text
- Meine Mutter
- Text
- Herbert Hausdorf
- Text
- Erster Sohn meiner Großmutter mütterlicherseits / Grässlich verstümmelt durch Granaten im September 1914 / Meine Großmutter, die 101jährig starb, hat den Verlust nie verwunden / Sie hat den Verlust nie verziehen / Sie hat ihn auch nicht mehr erwähnt, weil sie bemerkte, daß ihr Leid Bekannten, Verwandten, ja auch Freunden auf die Nerven ging /
- Text
- Meine Großmutter 1914
- Text
- „Man muß vergessen können/“ Das nahm sie sich vor/ Daß sie es einhalten könnte, daran hat sie nie geglaubt / Die Stiefel sind gekauft in der Leipziger Straße / Der Matrosenanzug in Berlin-Südende / Fünf Knöpfe am Anzug bedeuten an sich: „Großadmiral“ / Das helle Auge ist das von „Klecker-Lieschen“ (Kindername meiner Mutter) / Sie hat etwas vom Gemüt des „zerstörten Bruders“ weitergeführt / So nimmt jeder Mensch einen Zug vom Atem eines anderen mit sich / Das beste ist der Atem, den viele Glückliche zur gleichen Zeit gemeinsam haben / „MEIN RENDEVOUZ MIT DEM TOD“
***
- Kluge
- Also du hast ja deine Papiere bei dir gehabt. Also ein Christ würde sein Kreuz mitnehmen. Und du hast aber ein Konvolut mit Gedichten.
- Heiner Müller
- Mit Gedichten und anderen Texten. Einfach deswegen: das ist ein alter Aberglaube. Ich bin eigentlich jahrelang nie in ein Flugzeug gestiegen, ohne irgendein angefangenes Manuskript bei mir zu haben. Weil ich davon ausgehe, dass ich dazu bestimmt bin, das zu Ende zu bringen. Und wenn es aus irgendeinem Grund nicht gelingt oder nicht stattfindet, bin ich nicht schuld. Ich wollte einfach die Schuld von mir wegschieben.
- Text
- Heiner Müller, Dramatiker
- Kluge
- So tun, dass du arbeitest. So lange in der Arbeit bleiben, dass es eigentlich unfair ist. Du sprichst sehr flüsternd. Hast du nur ein Stimmband?
- Müller
- Es ist eine Stimmlippe, ist mir gesagt worden, ist gelähmt durch die Operation. Und es braucht ein paar Monate Logopädie, so Übungen, damit die andere Stimmlippe das übernehmen kann. Die Vokale rein anzusetzen, das ist am schwersten.
- Kluge
- Was musst du da machen?
- Müller
- Das A zum Beispiel. Die Übung besteht darin, dass man einen Schallraum bildet, einen möglichst großen im Mund, die Zunge flach an den Boden legt, und in diesem Schallraum versucht, den Anlaut, also den Vokal, sauber zu bringen, ohne einen Konsonanten davor – die Konsonanten sind die Hilfe. Also es ist leichter zu sagen Ha! als A!
- Kluge
- Wie ein Schauspieler. Eigentlich machst du etwas, was man sonst im Theater tut ….
- Müller
- Jetzt muss ich sprechen lernen.
- Kluge
- Sprechen lernen.
- Müller
- Ich muss sprechen lernen. Ein Vokal ist ganz schwer. Aah. Das kann ich noch nicht. Ich kann es mit H. Aber das ist eben der Fehler. Ha ist leicht. Aber A ist sehr schwer. Das braucht offenbar eine geschmeidige Stimmlippe, Vokale richtig anzusetzen.
- Kluge
- Und O und U?
- Müller
- Ist das Gleiche. I ist auch das Gleiche. I ist etwas leichter vielleicht.
- Kluge
- Nun kommen die Vokale alleine in der Sprache auch nicht vor, ganz selten vor.
- Müller
- Aber als Wortanfänge kommen sie sehr oft vor.
- Kluge
- Beschreib mir doch mal die Situation an so einem Vorabend. Wie wird man auf so eine Radikaloperation vorbereitet?
- Müller
- Im Grunde ist es so: Man weiß, dass man täglich sterben kann aus irgendeinem Grund oder Zufall. Aber die Situation ist natürlich ganz anders, wenn du weißt, es gibt einen Termin, an dem du entweder stirbst oder überlebst. Das ist eine neue Situation, eine neue Erfahrung. Und das hat mich schon interessiert als Erfahrung. Ich hab, ich muss gestehen, ich habe mir auch ständig suggeriert, dass ich leben werde. Und sowas ist auch wichtig, das hilft natürlich. Es hängt doch sehr viel vom Willen ab, und … was heißt vom Willen, vielleicht eher von der Einbildungskraft als vom Willen. Und diese neue Erfahrung … es ist ein … vorher wirst du natürlich nicht wirklich informiert über das, was passiert.
- Kluge
- Aber es hat ein bisschen was von einem gerichtlichen Verfahren.
- Müller
- Man kann sich einfühlen in die Situation eines zum Tode Verurteilten, der weiß, wann er auf den elektrischen Stuhl gesetzt wird. Das ist klar, das hat was damit zu tun. Es hat aber auch was zu tun … ich habe zufällig in der Zeit in einem an sich nicht sehr guten Spionagethriller, da war zitiert ein Gedicht von – was wir glaube ich noch nicht gefunden haben – von einem amerikanischen Lyriker aus dem ersten Weltkrieg …
- Kluge
- … aus der Schlacht von Ypern.
- Text
- Schlacht von Ypern
- Müller
- … über die Schlacht von Ypern, ja, wo der Satz steht: „Mein Rendezvous mit dem Tod findet an einer Schanze statt.“
- Text
- „Mein Rendez-vous mit dem Tod findet an einer Schanze statt“
- Kluge
- Und jetzt wachst du am anderen Morgen auf.
- Müller
- Ich bin aufgewacht nach … du meinst jetzt vor der Operation. Ja, man wacht auf und hat kaum Zeit, auch nur nachzudenken. Das geht dann sehr routinemäßig.
- Kluge
- Licht geht an sozusagen im ganzen Krankenhaus, ist das so?
- Müller
- Weiß ich gar nicht. Ich glaub nicht.
- Kluge
- Ein Hahn kräht ja nicht.
- Müller
- Ein Hahn kräht nicht, nee.
- Kluge
- Und jetzt – Sokrates sitzt ja am Vorabend seines Todes … und sie opfern dem Asklepios einen Hahn. Eigentlich dem Gott der Gesundheit. Und es ist ein wichtiger Moment …
- Müller
- Es gibt eine Entsprechung. Eine Entsprechung dafür gibt es natürlich. Du musst natürlich vorher bezahlen deinen Aufenthalt und im Grunde die Exekution anzahlen. Du weißt genau, umsonst wirst du nicht umgebracht. Musst vorher schon eine Anzahlung leisten. Insofern ist das die säkularisierte Form des Hahnenopfers.
***
- Text
- Dimiter Gotscheff liest einen Text von Heiner Müller
- Text
- Am Sylvestertag, dem 31. 12. 1899 - - Karpfen! Fledermaus ..! - - - freuten wir uns auf morgen, den 1. 1. 1900 –
- Dimiter Gotscheff
- Geht dir das Maul noch? Wirbelt noch die Zunge, gehorsam zu verlängern deine Zeit? Hör, wie das Schweigen deine Rede bricht. Ich weiß von Städten nichts. Ist eine Stadt hier? Und so viel sind sie mir. Auch glaub ich keine. Gebild aus Worten und Wohnung für Träume. Falle, von blinden Augen ausgestellt in leere Luft, Gewächs aus faulen Köpfen, Wo sich die Lüge mit der Lüge paart. Sie sind nicht Lüge euer Grünzeug auch. Kahl ist mein Erdkreis und so will ich euren ein Etwas, zwischen nichts und nichts gespannt von arbeitslosen Göttern ohne Grund rasiert von seinem eigenen Eingeweide mit dem sein Aussatz über ihn Gewalt hat Vom Feuer gewaschen, Raub aus Göttersitzen Bis er Gewalt hat über seinen Aussatz, Geleert von allem wenn das Nichts zurücknimmt, die es der Zeit geliehen hat seine Sterne. Reißt euch die Augen aus, sie lügen, leer, die Höhlen reden wahr. Mein Leben selber hat keine Wahrheit mehr als deinen Tod.
- Text
- Sir Henry, Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz
- Text
- Aus: PHILOKTET, Drama von Heiner Müller
- Text
- Dimiter Gotscheff, Deutsches Theater
- Text
- Daraufhin freuten wir uns 1999 nochmals: Auf tausend weitere Jahre!
***
- Kluge
- Sie sind Concierge. 13 Jahre im Dienst.
- Ute Hannig
- Ja, seit 13 Jahren. Meine Mutter war auch schon Concierge. Das ist mir sozusagen in die Wiege gelegt worden.
- Kluge
- Das ist in ganz Paris, ja? Es gibt kein Haus, wo nicht eine Concierge wacht.
- Hannig
- Richtig. Jedes Haus hat seine eigene Concierge, und die ist sozusagen die Seele, der Geist des Hauses. Also wenn wir Conciergen streiken würden, würde ganz Paris …
- Text
- Concierge, Ute Hannig
- Kluge
- Kann keiner raus … niemand kann rein oder raus in einem Haus. Und das ist, seit der Französischen Revolution gibt es diese Schlüsselverwalterinnen, im Grunde auch die Kontrolleurinnen … also sozusagen, der Staatsfeind würde rausgehalten.
- Hannig
- Der wird rausgehalten. Aber wir drücken natürlich auch ein Auge zu, wenn der eine oder andere hineinschlüpfen soll.
- Kluge
- Aber Geld nehmen Sie nicht. Das heißt, Sie sind unbestechlich.
- Hannig
- Oh nein. Ich bin ganz und gar unbestechlich.
- Kluge
- Jetzt haben Sie Vermögen angelegt in russischen Staatsanleihen. Das heißt also in die transsibirische Eisenbahn.
- Hannig
- Ja, das hab ich leider getan. Das war eine sehr enttäuschende, enttäuschende Geschichte. Inzwischen habe ich … ich habe viel geweint darüber und mich auch sehr geärgert darüber. Ich habe all mein Erspartes, habe ich alles zusammengelegt, unter meinen Tisch gelegt, Jahr für Jahr gesammelt. Ich bin unbestechlich. Und dieses Geld, was ich über Jahre angesammelt habe, habe ich eben jetzt in die transsibirische Eisenbahn investiert.
- Kluge
- Und jetzt kommt der Weltkrieg, die Revolution, und die Sowjetunion zahlt nicht zurück.
- Hannig
- Es ist weg. Als hätte es sich aufgelöst. Die Russen zahlen nicht zurück. Ich bin sehr sehr sehr böse über die Russen. Die Russen haben immerhin uns die Revolution nachgemacht. Ich als Concierge, als Pariser Concierge, ich bin Paris, ich bin Frankreich. Also ich bin die Revolution. Ich bin sozusagen die Mutter der Russischen Revolution, und ich werde von meinen eigenen Kindern betrogen und im Stich gelassen. Darüber bin ich sehr enttäuscht, muss ich sagen, ja.
***
- Text
- DIE ZWEI ÄGYPTISCHEN KROKODILE
- Text
- Primitive Diversity Pictures
- Text
- Ulrike Sprenger berichtet - -
- Text
- Prof. Dr. Ulrike Sprenger, Universität Konstanz
- Ulrike Sprenger
- Dieses Krokodil hier, in der Macht eines Menschen, ist gefangen genommen worden, vermutlich weil es Menschen angefallen hat und gefressen hat, mitsamt seiner Eier, damit auch die Nachkommen kein Unheil mehr anrichten können. Und dieser Händler trifft unterwegs einen zweiten Händler mit einem Krokodil, und man entschließt sich, die Krokodile zur Schau zu stellen öffentlich, wie auf einem Jahrmarkt. Also statt Hahnenkampf Krokodilskampf. Man sieht hier die Krokodile im Vordergrund kämpfen. Und im Verlauf des Kampfes ergreifen sie die Gelegenheit und verschlingen am Ende die beiden Händler und Zuseher. Hier ist die Geschichte von Robinson, und jedes einzelne Bild erzählt hier noch mal eine ganz wichtige einzelne Szene, und aus der einzelnen Szene kann man wieder die ganze Geschichte verstehen. Zum Beispiel hier in Bild Nummer 5 sieht man, wie Robinson im Hintergrund eine Hütte baut und im Vordergrund Freitag einen Braten über dem Feuer dreht. Und da zeigt sich die zivilisatorische Kraft in diesem einen Bild von Robinson. Er baut ein Haus und er kocht sein Essen. Zwei Zeichen der Zivilisation, die Freitag ohne ihn nicht zustande gebracht hätte, wofür aber auch Robinson die Hilfe von Freitag braucht. Also die gesamte Geschichte von Robinson und Freitag in diesen acht Bildern, und aber nochmal zu erzählen durch den Braten und den Hüttenbau in Bild Nummer 5. Und ähnlich auch dann im Schlussbild Nummer 8, das noch mal eine ganze Geschichte erzählt. Hier sehen wir die Rückkehr nach der Rettung von der Insel. Robinson liegt seinem Vater zu Füßen, ist also in seine Familie heimgekehrt und bringt die Schätze dessen, was er erfahren hat, was er erlebt hat, nach Hause jetzt; ist also wieder als Mitglied der Gesellschaft aufgenommen. Die Prüfung, der er ausgesetzt war, wurde ja als Gottesprüfung auch verstanden. Einsamkeit als eine Art Menschwerdung ohne die Hilfe der Eltern. Jetzt aber, nachdem er die hinter sich hat, landet er wieder im Schoße der Familie, zu Füßen seines Vaters. Und im Hintergrund sehen wir Freitag, der jetzt bekleidet ist, das heißt der auch mit als Bruder in die bürgerliche Gesellschaft mit eingeführt wird, dort bekleidet wird, aber auf der Hand noch einen Papagei hat als Mitbringsel, als Souvenir der fremden Welt, die auch mit in diese bürgerliche Ordnung aufgenommen werden kann.
***
- Text
- STICHWORT: IDEOLOGIE
- Kluge
- Ideologie heißt bei Marx „notwendig falsches Bewusstsein.“ Was bedeutet das?
- Joseph Vogl
- Das bedeutet, dass die Wirklichkeit – einschließlich dessen, was man empirische Wirklichkeit nennt – etwas ist, das sich in einem konsequent simulierten, gefälschten, wenn man so will getäuschten Verhältnis präsentiert. Notwendig falsches Bewusstsein bedeutet, einen Zugriff, einen funktionierenden Zugriff auf Welt zu haben, in der meine Aktionen, meine Erkenntnisvermögen, meine Begehrungsvermögen ausreichen, um in einem Bestand an Wirklichem völlig zuverlässig zu operieren. Mit Ausnahme einer entscheidenden Verkennung, nämlich, dass mein effizientes Verhalten in dieser Welt, dass mein effizientes Leben in dieser Welt, dass der Exzess meiner Wünsche und deren Befriedigung in dieser Welt ein Ding verkennen, nämlich, dass ich mit all diesen Erkenntnissen, mit all diesen Wünschen, mit all diesen Tätigkeiten den eigenen Tod produziere, ohne es zu wissen. Notwendig falsches Bewusstsein heißt, leben zu glauben, während ich den eigenen Tod produziere.
- Text
- STICHWORT: ENTFREMDUNG
- Kluge
- Stichwort Entfremdung.
- Vogl
- Entfremdung ist ein Begriff mit langer Geschichte, und das heißt also ein Begriff mit stattlicher Biografie. Und wie jeder Begriff, der eine stattliche Biografie hat, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder die Biografie dieses Begriffs hat die Welt überlebt, oder die Welt hat die Biografie, das Lebensende dieses Begriffs überlebt. Nimmt man diesen Begriff tatsächlich als einen mit enormer Biografie, mit einer – wenn man so will – auch bedeutungsvollen Biografie, mit einer Begriffs- und biografischen Karriere, dann müsste man ihn zurückverfolgen in seinen ursprünglichen anfänglichen Lebensraum, in seinen Biotop und fragen, in welcher Konstellation, in welcher Geburtskonstellation ist er geprägt worden? Und da würde ich behaupten, dass der Begriff der Entfremdung geboren wurde, geboren wurde in eine Welt, in der gesellschaftliche Verhältnisse, Sozialverhältnisse einschließlich politischer, ökonomischer Verhältnisse und der Perspektive der Verzauberung auf den Plan getreten ist. Das heißt, der Begriff der Entfremdung stammt aus einer Konstellation sozialer Magie, und er beschreibt ein magisches Verhältnis, das heißt eine Fälschung von Verhältnissen, eine konsequente Fälschung von Verhältnissen, in der Ich und Nicht-Ich, Eigenes und Fremdes in einem hohen Maße verwechselbar geworden sind.
- Kluge
- Mir wird die eigene Erfahrung weggenommen, mir wird die eigene Realität unter den Füßen weggezogen. Ich habe in einer Zeit gelebt und mich bemüht und habe mich hingegeben. Und dort liegt ein Teil meines Lebens. Und jetzt wird die Zeit weggerissen durch einen Dynastiewechsel, durch einen verlorenen Krieg, durch eine Katastrophe. Und jetzt bin ich ohne meine Wirklichkeit.
- Vogl
- Und damit entwirft der Begriff eine Szenerie, einen Schauplatz, der bevölkert ist von – wenn man so will – einem hohen Maß an Unheimlichkeiten. Eine dieser Unheimlichkeiten wäre der Doppelgänger, mein fremdes Ich. Eine andere Unheimlichkeit wäre das selbstständig gewordene Ding, das Beine bekommen hat, sich ohne meine Absicht gewissermaßen bewegt. Und der dritte Agent in dieser Konstellation wäre das Auftauchen, das Aufscheinen des Unbewussten – etwas in mir, was ein verdecktes, heimliches, von mir nicht entzifferbares Wissen besitzt. All diese Dinge wirken in dieser eigentümlichen Magie zusammen und rufen einen Entzifferungsplan, einen Beobachtungsplan hervor, der an einer Richtigstellung der Welt der Dinge, an einer Richtigstellung von Sachlagen interessiert ist.
- Kluge
- Und ich fordere eine andere Welt, ein second life, ein zweites Leben, weil ich eigentlich in meinem Leben, in dem ich lebe, mein erstes gar nicht habe.
- Vogl
- Und das bedeutet gleichzeitig, dass eine eigentümliche Verwicklung dessen, was man Mensch nennt, in dieser Entfremdung vorgeführt wird; eine Verwicklung, die nicht durch den Menschen selbst, nicht durch das Ich, nicht durch das anthropologische Substrat richtiggestellt werden kann. Man braucht also einen anderen Angelpunkt, einen anderen archimedischen Punkt. Der muss weit außerhalb liegen, irgendwo in den Verhältnissen an einem kleinen Ding, einem kleinen Gegenstand, etwa an der Ware etc. Dort kann entziffert werden, in welcher Weise ich mein Verhältnis zu mir notwendig verkenne. Und diese Verkennung, der Kern dieser Verkennung ist die Entfremdung und birgt ein lichtvolles Versprechen. Der Begriff der Entfremdung birgt ein lichtvolles Versprechen, dass ich einst in ferner Zukunft ein Eigener, ein Eigener meiner selbst sein könnte.
- Text
- STICHWORT: Was heißt SUBJEKTIV-OBJEKTIV?
- Kluge
- Was nennt man subjektiv-objektives Verhältnis? Bei Marx ein Kern-, ein zentraler Begriff. Es gibt nichts bloß Subjektives, es gibt nichts bloß Objektives.
- Vogl
- Das subjektiv-objektive Verhältnis ist im Grunde eine intellektuelle Maschine, ist der Versuch, eine intellektuelle Maschine zu konstruieren.
- Kluge
- Zum Verständnis dessen, was wirklich geschieht.
- Vogl
- Ja, zum Verständnis dessen, was wirklich geschieht, aber mehr noch: es ist eine Maschine, wie alle anderen Maschinen, die etwas produzieren soll. Keine Maschine produziert nicht, jede Maschine ist mit einem Produktionsauftrag verbunden. Und dazu gehören zwei Dinge: erstens eine Maschine muss in Gang gesetzt werden. Und interessant an der subjektiv-objektiven Maschine ist, dass sie zwei Enden hat, und an jedem dieser Enden kann ein Schalter betätigt werden, durch die sie in Bewegung gerät. Sobald ein Subjekt anfängt, sich zu bewegen, ist zugleich eine Objektwelt in Bewegung gesetzt. Sobald eine Objektwelt sich bewegt, wird zugleich ein subjektives Moment in Bewegung gesetzt – wär das Erste. Und das funktioniert nach einem vorgefertigten Programm. Eine Maschine hat auch ein Programm, also subjektiv- objektives Verhältnis ist also ein Relationsprogramm. Die Frage ist, was wird produziert in diesem subjektiv-objektiven Verhältnis? Und man kann sagen, was hier produziert wird, das ist für Hegel genauso wie für Marx, was hier produziert wird, ist Welt. Und zwar eine ganz bestimmte Welt. Und dabei sind zwei Momente interessant: erstens, es kann eine Welt der Fälschungen produziert werden, eine Welt der Fälschungen, in der beispielsweise subjektiv-objektive Verhältnisse Gegenstände produzieren, in denen dieses Verhältnis – Subjekt und Objekt – verschwunden ist, eine Form der Synthesis simulieren, so tun, als ob die Objekte, die fremden Dinge verfügbar wären, in der Hand zu halten sind, gewissermaßen zur Ausstattung, zur komfortablen Ausstattung der Existenz beitragen. Das heißt also, eine Maschine zur Produktion von Illusionen. Der dialektische Blick, der marxistische Blick wäre: Diese Maschine muss sabotiert werden. Denn sabot bedeutet Holzschuh, und wird in die Maschine geworfen. Operationen von frühindustriellen Handwerkern, die Maschinen zum Stoppen gebracht haben, um Arbeitszeitverbesserungen herbeizuführen. Also diese Maschine, diese dialektische Maschine, die Illusionen produziert, komfortable Gegenstände, über die ich …
- Kluge
- … kann gestoppt werden.
- Vogl
- Die kann gestoppt werden durch Einsprüche, durch Sand im Getriebe, mit dem etwas erzeugt wird. Und das ist, glaube ich, der andere Gegenstand der Produktion, das andere Resultat, nämlich die Einsicht in die grundlegende Fremdheit, die Einsicht in die grundlegende Unaneigenbarkeit einer Produktionswelt, in der dieses Subjekt, das ein Teil dieser Maschinerie ist, immer schon ein Knecht, immer schon ein Unterworfener, immer schon ein zerbrechliches, ausgebeutetes Wesen ist.
- Kluge
- Aber hier an der Stelle zeigt sich, scheint mir, dass die Maschinerie des Subjektiv-Objektiven, das heißt die Erkenntnis-Maschinerie, nicht einfach sozusagen durch den Holzschuh gebremst werden kann, sondern dass es eine zweite Maschinerie gibt, die sehr wohl funktioniert, und die könnte dieses subjektiv-objektive Verhältnis aneignen, aufgreifen, nicht als Illusion, sondern als wirkliches Verhältnis. Durch Senkung der Ich-Schranke, durch Verbindung, Antizipation des Anderen. Das wäre sozusagen in der Liebe, allerdings auch im Krieg, ja wenn ich den Feind schneller verstehe als der sich selbst versteht, oder in der Produktion oder bei Erfindungen der Fall.
- Vogl
- Das heißt nun, dass wenn diese Maschine auf der einen Seite Illusionen produziert …
- Kluge
- Kann sie auch die Anti-Illusion …
- Vogl
- Kann sie eben auch Wahrheiten produzieren, und Wahrheiten …
- Kluge
- Brauchbare, für Menschen brauchbare Wirklichkeiten.
- Vogl
- Und tut sie das. Und tut sie das auch im marxistischen Sinne – im Sinne von Marx, oder im Sinne des Kapitals –, dann ist an dieser Produktion von Wahrheit eine Sache ganz entscheidend und wesentlich, nämlich dass diese Wahrheit nicht mehr in mir, nicht mehr in meinem Ich, nicht mehr in meinem Bewusstsein gefunden werden kann, sondern in den Dingen da draußen, in den Produktionsverhältnissen da draußen.
- Kluge
- Oder dazwischen. So sagt Marx, und so will es das Kapital. So wie er es analysiert. Und da kommt ein eigentümlicher Zerrspiegel zustande, weil dieser fleißige Marx analysiert so rechtschaffen, was das Kapital von sich aus tut – eine gesellschaftliche Veränderung und Manipulation des subjektiv-objektiven Verhältnisses –, dass er die andere Seite nicht beschreibt, allenfalls in den Frühschriften beschreibt, nämlich: wie ginge die Aneignung von Erfahrung in dem Zwischenraum zwischen zwei Subjekten, einem Ding und einem Subjekt oder wie immer, wie geht in der Gesellschaft die Produktion von Wirklichkeitsverhältnissen untereinander auf glückliche Weise? Das beschreibt er nicht.
- Vogl
- Beschreibt er nicht, oder bestenfalls gibt er Hinweise. Also wahrscheinlich wäre eine der sinnvollsten Definitionen dessen, was produziert wird und dessen, was an Wahrheit dabei produziert wird, das Wahre oder Wirkliche daran immer das Dazwischenliegende. Also die Sache, die zwischen uns, die zwischen mir und dem Kollektiv, zwischen mir und den Dingen, zwischen mir und den Produktionsverhältnissen …
- Kluge
- Wenn ich spreche, zwischen zwei Sprechern.
- Vogl
- Genau. Es ist deswegen vielleicht auch interessant, dass die Frage, wie lässt sich ein Schauplatz der Wahrheit überhaupt ausfindig machen? Wo wäre ein Schauplatz, in dem die Wahrheit erscheint? Eigentlich immer Räume …
- Kluge
- Wahrheit oder Stimmigkeit.
- Vogl
- … oder Stimmigkeit – immer Räume des Dazwischen eine elementare Rolle spielen. Also denken Sie beispielsweise an den Verhandlungstisch. Der Verhandlungstisch ist nichts anderes als eine leere Mitte, in der in langen Prozessen Wahrheiten produziert werden. Oder man kann an den Gerichtssaal denken. Warum sitzen Zeugen, Angeklagte, Richter, Verteidiger und Zuschauer um eine leere Mitte? Weil sie wissen, nur in dieser leeren Mitte können gewissermaßen Wahrheiten zur Erscheinung kommen.
- Kluge
- Fürsten treffen sich im Mittelalter an Brücken. Jeder kommt auf die Mitte der Brücke. Nicht nur aus Sicherheitsgründen. Sondern eben an der Nahtstelle zwischen zwei Gegensätzen liegt die Verständigungsmöglichkeit.
- Vogl
- Liegt die Verständigungsmöglichkeit, und liegt auch das, was gewissermaßen als Substrat dieser Verständigung, man mag es Wahrheit, man mag es Wirklichkeit, man mag es Gemeinsamkeit nennen, davon transportiert werden kann. Aber das fundamentale Problem besteht darin, und das ist ein architektonisches Problem: Also wenn man sagt, Wahrheiten brauchen Wahrheitsarchitekturen, dann braucht die Wahrheit den leeren Ort, den freigeräumten Ort, den abgezirkelten Ort, und sei er markiert durch eine Gerichtseiche. Oder sei er markiert durch eine erste Barriere, die die Welt einerseits und den Ort der Verhandlungen ganz fundamental abschneidet. Also diese Wahrheiten sind mit Operationen der Unterbrechung, des Abschneidens, des Erzeugens eines unbeschriebenen Ortes gewissermaßen verbunden. Das wäre also Wahrheitstheater, und es wäre auch in dieser subjektiv-objektiv arbeitenden Maschine der Ort des Dazwischen. Weder auf der Seite des Subjekts noch auf der Seite des Objekts kann Wahrheit erscheinen, sondern nur tatsächlich im Verarbeitungsprozess dazwischen, der eben tatsächlich …
- Kluge
- An der separatrix, an der Nahtstelle.
- Vogl
- Und dies wäre sozusagen in jedem Menschen als Möglichkeit der Sensibilität enthalten.
- Kluge
- Menschen können das. Und das Buch von Marx, das wir darüber bräuchten, das müsste noch geschrieben werden.
- Vogl
- Es müsste gewissermaßen ein Buch geschrieben werden, in dem Marx ein höheres und höher sensibles Bewusstsein für die eigene Anthropologie besitzt. Das heißt also für einen Menschen, den er immer schon voraussetzt als arbeitenden Menschen, als einen, der sich als thermodynamische Maschine begreift, als einen, der an seinen Produktionsprozess gefesselt ist …
- Kluge
- … aber fähig ist für die Assoziation, die freie Assoziation der Produzenten.
- Vogl
- Genau. Also der auch fähig wäre, dieses Verhältnis, das Verhältnis der objektiv-subjektiven Verhältnisse ohne den Menschen, ohne diesen – wenn man so will – Koordinatenpunkt des Menschen zu denken. An dieser Stelle müsste gewissermaßen eine marxistische Anti-Anthropologie hinzugefügt werden, in der der Mensch nicht mehr der Bezugsort aller Dinge ist.
- Kluge
- So dass er sich ausnahmsweise aus dem Vormenschen herausbegibt. Und so lange er das tut, kann er mit den anderen wie ein Weltbürger verkehren. Dann kehrt er wieder zurück in sein Häuschen wie eine Schnecke.
- Vogl
- Kehrt er zurück und ist dort ausgestattet mit dem, was das 18. Jahrhundert an anthropologischer Ausstattung hinterlassen hat, nämlich ein hohes Maß an Selbstgefühl, ein hohes Maß an sinnlich intellektuellem Verhältnis, ein hohes Maß an Emanzipationsbestreben, an Illusionsfähigkeit etc. Und an dieser Stelle gibt es bei Marx, und mit Sicherheit im „Kapital“, einen blinden Punkt, den Menschen nämlich nicht zum Menschen zu emanzipieren, sondern aus dem Menschen heraus zu emanzipieren. Diese Aufgabe oder diese, wenn man so will, diese zentrifugale Bewegung hat das „Kapital“ noch nicht geleistet.
***
- Text
- WAS HEISST NICHTS? / Oskar Negt über einen philosophischen Begriff
- Text
- G.W.F. Hegel
- Kluge
- Diese höchsten allgemeinsten Gattungsideen: Nichts und Etwas, Gut und Böse. Wenn du mir einmal das Wort „Nichts“ philosophisch erklärst: Was ist nichts?
- Oskar Negt
- Das Nichten des Nichts …Nichts … Also zunächst einmal hat es den Status eines Begriffs, wie Etwas.
- Kluge
- Es ist das Gegenteil von Etwas.
- Negt
- Descartes würde sagen, das ist auch eine eingeborene Idee, wie Gott, und …wir haben eine Vorstellung, die vielleicht ein horror vacui, also eine Angst vor der Leere erzeugt, also das – aber wenn wir an ein Etwas denken, dann müssen wir auch das Nicht-Etwas denken können, die Verneinung des Etwas.
- Text
- Oskar Negt, Philosoph und Soziologe
- Kluge
- Und was wäre nach Kant – die Philosophen haben ja verschiedene Auffassungen davon – was wäre nach Kant die Verneinung des Etwas?
- Negt
- Die Verneinung des Etwas würde Negation, es gibt den Begriff auch bei ihm, in der Kategorientafel: Negation. Aber das Nichts wäre immer bestimmt durch das, was ist. Das heißt, die Verneinung des Ist wäre das Nichts. Und das Nichts hat jetzt in der Geschichte der Philosophie sehr viele Facetten, sehr viele Komponenten. Wenn ein Buddhist von dem spricht, von der Verneinung der Welt, dann hat dieses Nichts einen Befreiungsgehalt, einen Aufbewahrungsgehalt, das ist etwas, worauf man … die Ruhe, die Ruhe …
- Kluge
- Daraus wird das Sein entstehen. Daraus werden mehrere Möglichkeiten des Seins entstehen. Die Möglichkeit ist das Nichts, das wäre für einen Buddhisten nichts Absurdes.
- Text
- Johann Georg Hamann, Philosoph in Königsberg
- Negt
- Nein. Deshalb gibt es in den verschiedenen Religionen auch verschieden angereicherte Bereiche, die mit Nichts bezeichnet werden. Philosophisch meint hier Hamann zweifellos nichts anderes als die Negation des Etwas. Aber die Negation des Etwas ist genauso wenig etwas rein Empirisches: Das heißt also, man kann weder das Etwas nachweisen, weil es ja ein Allgemeinbegriff ist …
- Kluge
- Das Interessante ist, das Etwas kann ich mir noch vorstellen, zerteilt vorstellen. Bei dem Nichts ist in dem Wort etwas Seltsames, was auch in dem Wort Finsternis wäre. Ich kann mir ja Dunkelheit vorstellen, ich kann mir etwas Bestimmtes als dunkel vorstellen, aber ich habe große Schwierigkeiten, das Substantiv Finsternis, das sozusagen eine Allgemeinheit darstellt – der Orkus, der Abgrund, das was außerhalb des Seins ist …
- Negt
- Das hat alles Orte und Zeiten, das hat alles Orte und Zeiten, und würde nicht unter den Begriff des Nichts fallen.
- Kluge
- Und jetzt gibt es aber in der modernen Naturwissenschaft Sphären exzessiv kurzer Zeiten. So kurzer Zeiten, wie sie nur nach dem Beginn, der Entstehung des Kosmos, in wenigen Zentimetern vom Urknall entfernt existiert haben mögen, und in denen würde ein Physiker oder ein Kosmologe das Nichts ansiedeln, nämlich die reine Möglichkeitsform. Hier nehmen Unschärfe und Möglichkeit und Unwahrscheinlichkeit so extrem zu, dass keine Naturgesetze und Elementarteilchen entstehen können. Dies ist eine Vorstellung von Nichts, die nicht nur eine definitorische Funktion hat. Denn in den kleinsten Elementen und in den kürzesten Zeiten würde auch in der Gegenwart dieses Nichts existieren, und permanent das Sein oder irgendetwas, was nicht Nichts ist, produzieren.
- Text
- Abstand der Galaxien / Zeit
- Negt
- Das mag richtig sein. Aber wir als Menschen, mit unseren Sinnen ausgestattet, mit unserem Verstand, entwickeln alles, was wir uns unter Nichts vorstellen, auf dem Hintergrund des kategorialen Rahmens von Etwas. Das heißt, das Sein definiert durchgängig das, was wir für eine Vorstellung von Nichts erachten.
- Kluge
- Wo steckt das Nichts jetzt? Steckt das sozusagen in den Lücken des Seins? Ist das wie ein Meer des Nichts, das das Sein umrundet? Wo ist das Nichts?
- Negt
- Also da würde ich ganz orthodox hegelisch sagen: Das Nichts ist nichts weiter als das verneinte Sein.
- Kluge
- Das heißt, das ist eine andere Eigenschaft, ein anderer Status, ein anderer Aggregatzustand des Seins.
- Negt
- Und wenn du Bewegung hast, wenn du Prozess hast, hast du Sein und Nichts immer …
- Kluge
- … miteinander verschaltet. Ohne das Nichts kann das Sein sich gar nicht bewegen.
- Negt
- Ohne das Nichten des Gegebenen – jetzt nicht Heideggerisch ausgesprochen, der hat auch das Nichten – gibt es keine Bewegung. Das heißt also, das entfaltet Hegel wirklich am Anfang der Logik ganz prägnant. Der sagt, wir fangen mit dem Sein an, aber Sein, reines Sein, was ist das? Das reine Sein ist nichts. Es ist in Nichts übergegangen, weil es keine einzelne Bestimmung hat. Deshalb kann man sagen, reines Sein und reines Nichts sind identisch, sind ineinander übergegangen. Und erst das Werden schafft konkrete Übergänge vom Sein zum Nichts, da wird nämlich im konkreten Werden, in einem Prozess, wird das, was gegeben ist, verneint, und es geht in einen anderen Zustand über.
- Kluge
- Wenn eine 48stel Sekunde im Film dunkel ist, Transportphase, und eine 48stel Sekunde Bild, wäre das als Emblem oder Metapher für das Zusammenwirken von Sein und Nichts zu einer Bewegung, wäre das plausibel?
- Text
- Oskar Negt
- Negt
- Wenn man sagt, eine dunkle Stelle ist nichts, dann ja. Aber wenn man das nicht so sieht, weil man in der dunklen Stelle auch etwas Dunkles sieht, was also höchstwahrscheinlich ist, dann ist es nicht Nichts.
- Kluge
- Nächste Frage: Wenn ein Filmschnitt, also ein Bild, und ein zweiter Filmschnitt, wiederum ein Bild, die einen Kontrast enthalten, an der Schnittstelle – und die ist ja tatsächlich nicht gegenständlich vorhanden - eine Assoziation auslöst. Das ist Filmmontage à la Godard.
- Negt
- Das ist richtig.
- Kluge
- Da würde eine innerliche Bewegung entstehen.
- Negt
- Aber der Schnitt bewirkt, dass unsere Sinne und unser Denken ….
- Kluge
- … sich in Bewegung setzen.
- Negt
- In Bewegung setzen und diese Grenze, diesen Schnitt so nicht wahrnehmen.
- Kluge
- Sie füllen die Diskontinuität.
- Negt
- So ist es. Sie überbrücken. Man würde den Schnitt gar nicht sehen.
- Kluge
- Das Nichts im Film ist das Etwas im Kopf.
- Negt
- Was ist das Nichts im Film?
- Kluge
- Der Schnitt. Das heißt, der Film setzt an der Stelle tatsächlich aus. Er schafft eigentlich nichts anderes als einen Gegensatz, einen nackten, nicht interpretierten, nicht überbrückten Gegensatz. Und dadurch das Bedürfnis, ihn zu überbrücken, weil der Kopf …
- Negt
- Das ohnehin. Es geht ja weiter. Kein Mensch kann den Schnitt-Augenblick in einem Film in seinem Gehirn nachvollziehen.
- Kluge
- Das geht ja gar nicht.
- Negt
- Ja.
- Kluge
- Also wenn ich mich verspreche, und du das Wort von mir ergänzt. Oder ich lasse etwas aus, und du ergänzt es, einfach weil wir beide hier sind. Dann wäre das Nichts dasjenige, was magnetisch quasi den Sinn anzieht.
- Negt
- Deshalb kehre ich zu meiner Hegelschen Definition zurück: Diese kleinen Einheiten, die man so definiert als Nichtse, sind besondere Nichtse. Das heißt, ist etwas Nichts. Man definiert dieses Etwas als Nichts, aber man kann es nicht, man hat keine Leere, man hat keine wirkliche Leerstelle.
***
- Frau
- Naja, erstmal muss man ja sehr auf den Verkehr achten. Die Stadt ist ja sehr klein, beengt, viele Autos, und Baustellen über Baustellen. Wenn man an der Haltestelle ist, muss man auf den Fahrgastwechsel achten. Fahrgäste müssen aus- und einsteigen. Wenn das beendet ist, der Fahrgastwechsel, naja, wird halt geläutet, dann schließen sich die Türen, und man fährt los.
***
- Kluge
- Genosse Willi Schmidt von der Karl-Marx-Universität Leipzig.
- Willi Schmidt
- Ja, ich bin hierhergekommen, delegiert sozusagen, von der Werkbank direkt auf den Lehrstuhl.
- Kluge
- Und es geht um den Konjunktiv nach dialektisch-materialistischer Betrachtung.
- Schmidt
- Es geht um den Lehrstuhl für den Konjunktiv.
- Text
- Der letzte Grammatiker der DDR
- Kluge
- Vom Standpunkt des Arbeiters einer Werkbank könnte man ja auf den Konjunktiv auch verzichten, das ist ja kompliziert. Man könnte sagen, die Maschine läuft, die Maschine geht.
- Schmidt
- Die Maschine funktioniert, und sie funktioniert oder sie funktioniert nicht.
- Text
- Willi Schmidt, Schulungsleiter
- Kluge
- Das ist ja nicht Konjunktiv, das ist Fakt.
- Schmidt
- Dass etwas kompliziert ist, ist ja eine Aufgabe, es zu lösen. Ist ja nicht abschreckend.
- Kluge
- Also wenn ich sie repariere, ginge die Maschine.
- Schmidt
- Funktioniert, funktionäre die Maschine.
- Kluge
- Funktionäre oder funktionöre?
- Schmidt
- Funktionäre.
- Kluge
- Denn „die Maschine geht“ ist ja auch ein falscher Ausdruck. Die geht ja nicht, und sie läuft auch nicht, sie hat ja keine Füße.
- Schmidt
- Nein, sie funktioniert. Man sagt allerdings im Umgangsdeutsch: „Eine Maschine läuft.“ Sie läuft rund. Das kann man schon sagen, aber korrekt ist: Sie funktioniert.
- Kluge
- Und wie geht jetzt die Steigerung? Sie funktioniert, sie funktionierte, sie hat funktioniert.
- Schmidt
- Richtig.
- Kluge
- Und jetzt im Konjunktiv?
- Schmidt
- Es ist schwach. Es bleibt schwach. Ein schwaches Wort.
- Kluge
- Ein schwaches Wort. Starkes Wort heißt …?
- Schmidt
- Wäre … funktionieren nicht.
- Kluge
- Fliege, flag, geflogen.
- Schmidt
- Das ist ja etwas anderes. Alle Worte, die aus dem Französischen kommen oder aus dem Lateinischen, sind meistens schwach. Sondern nur die rein deutschen Worte sind meistens stark.
- Kluge
- Wie zum Beispiel?
- Schmidt
- Singen, sang, gesungen.
- Kluge
- Winken, wank, gewunken.
- Schmidt
- Oder gingen, gang, gegangen. Oder was Sie wollen. Jedes Wort deutschen Ursprungs hat meist eine oder oft eine starke Konjugation, Fremdworte nie.
- Kluge
- Und das hat Einfluss auf den Konjunktiv?
- Schmidt
- Ja, dadurch ist der Konjunktiv erschwert. Eben weil funktionieren, funktionierte, funktioniere, funktionäre, ist schon …
- Kluge
- Die Produktion sinkt. Sie sänke nicht, arbeiteten wir mehr.
- Schmidt
- Sinken ist wieder ein starkes Work. Sinken, sank, gesunken. Ja, ist ein starkes Wort. Das ist kein Vergleich.
- Kluge
- Das ist für einen Kubaner schwer. Singe, sang, gesungen klingt fast so ähnlich.
- Schmidt
- Ja, das eine mit K, und das andere mit G. Das kann er ja wohl lernen.
- Kluge
- Naja, aber man kann es nicht hören.
- Schmidt
- Wieso nicht?
- Kluge
- Auf sächsisch, weich ausgesprochen?
- Schmidt
- Nein nein nein, das machen wir nicht. Wir reden Hannoveranisch Hochdeutsch. Auch wenn Hannover im Westen liegt. Aber die Sprache ist halt so angelegt. Weimar ist ja auch nicht so weit von Hannover.
- Kluge
- Jetzt gibt es die Diskussion, ob der Konjunktiv sozusagen nicht etwas eingespart werden kann. Also volkswirtschaftlich würde es ja bedeuten, wenn man weniger umständlich redet. Aber dann heißt es bei Ihnen, dass sozusagen für Marx und für die dialektisch-materialistische Methode hat der Konjunktiv einen Sinn. Zum Beispiel kann ich Utopie nur im Konjunktiv als Irrealis ausdrücken.
- Schmidt
- Richtig. Also ist es keine Utopie mehr, und ich muss diese Utopie auch verbal fassen können.
- Kluge
- Der Konjunktiv als Aufforderungsform.
- Schmidt
- Als Aufforderung … als Aufrufform …
- Kluge
- Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Wenn man sagt: Edel ist der Mensch, hilfreich und gut, dann stimmt das ja nicht.
- Schmidt
- Es stimmt schon grammatikalisch. Es stimmt nicht in der Aussage. Der Mensch ist nicht edel, sondern er sei edel.
- Kluge
- Das heißt, er soll sich noch verbessern.
- Schmidt
- Ja natürlich.
- Kluge
- So wie er edel ist, reicht es nicht.
- Schmidt
- Nein. Er ist auch nicht edel, sondern er sei edel. Das ist ja das, woran wir arbeiten, dass wir sozusagen das Menschsein verbessern.
***
- Text
- Die Trümmerfrau, die ihren Mann reparieren mußte
- Trümmerfrau
- Und da muss ich nachdenken, über was ich sprechen will. Wir müssen so viel tun mit den Steinen, wir müssen die Steine abwischen den ganzen Tag. Die Steine, die müssen wir saubermachen, und dann müssen wir sie wiedergeben, damit die was zum Bauen haben. Und das geht acht Stunden am Tag oder noch mehr. Und das ist ganz schön … und dann kommen die Kinder noch dazu. Und wir haben gar keine Zeit. Und dann muss man was essen, man will ja auch noch ein bisschen was kochen. Aber die Frauen, das ist ja meistens die Frau, die helfen einander, dass wir noch eine Suppe kriegen. Und dann kommt der Mann nach Haus am Abend. Und die sitzen dann zuhause …Oh, ich weiß noch, wie mein Heine kam vom Krieg zurück. Das war so fürchterlich. Der hat gar nichts mehr gemacht.
- Kluge
- Der muss repariert werden.
- Trümmerfrau
- Wie so ein Auto muss man den reparieren. Da muss man wieder so langsam, langsam … konnte nichts Lautes, konnte nicht in einem normalen Bett schlafen. Konnte nur … Stein … auf dem Fußboden wollte er schlafen. Erstmal hab ich ihn gewaschen. Ich muss ihn immer waschen jeden Abend, das fand er ganz gut. Warm wurde er. Er konnte auch nicht mehr so richtig Bratkartoffeln … das wollte er nicht essen. Das war ihm zu viel. Die Augen so groß. Ich habe ihn gar nicht wiedererkannt.
- Kluge
- Das Selbstbewusstsein muss auch erst wieder zusammengefügt werden.
- Trümmerfrau
- Und dann gar nichts mehr war da von uns. Er war ein starker Vater gewesen. Ein starker Mann. Und nun sehen die Kinder, und dann sehen sie den Vater so … der nicht redet und hat gar kein Selbstvertrauen und kein Selbstbewusstsein mehr. Und dann sitzt er da immer und hat immer so … Das war was. Und dauert und dauert. Und ich war ganz vorsichtig immer. Und ich hatte auch ein paar Zigaretten für ihn. Das war gut. Ich habe immer die Kippen gesammelt. Es gab ja keinen Tabak. Und dann habe ich ihm das so gemacht. Eine Zigarette war gut. War schon ein fürchterlicher Anblick, aber … so langsam, so langsam habe ich ihn wieder hingekriegt, hab ich ihn aufgepäppelt, und… hab ich ihm, Bohnenkaffee hab ich organisiert, das mochte er auch gern, Bohnenkaffee … Und, na ja, wenn ich dann natürlich … aber er hat ja gar nichts erzählt, nichts hat er erzählt. Nichts, gar nichts, vom Krieg. Ich habe immer gebeten: Jetzt sag doch mal, was war. Und was hast du denn nur? Nein nein, er hat nichts gesagt. Manchmal so im Schlaf hat er geschrien. Geschrien halt manchmal. Nicht so einfach.
- Kluge
- Frauen müssen ihre Männer reparieren.
- Trümmerfrau
- Ja, Frauen müssen ihre Männer reparieren. Das ist die Überschrift von diesem Kapitel.
***
- Frau
- Seit im Betrieb raus ist, dass ich bei dir wohne, gucken die mich alle schief an.
- Mann
- Wieso denn? Ich bin doch bei meinen Männern beliebt.
- Frau
- Es muss irgendwas geben, was deine Beliebtheit im Betrieb stört. Ich glaube nicht, dass jemand mit dir ein Bier trinkt, wenn andere zusehen.
- Text
- DER STARKE FERDINAND
- Mann
- Zwei Sachen klappen: die kalte Luft und das Bäumchen. Sonst klappt bei dieser Übung nichts.
- Frau
- Aber es ist doch erst November.
- Mann
- Man muss Heiligabend üben. Sonst klappt es nie. Nur Kinder brauchen das nicht zu üben. Erwachsene kriegen Krach, wenn sie Heiligabend nicht richtig vorher üben.
- Frau
- Wir haben doch nicht Heiligabend.
- Mann
- Kommt aber bestimmt.
- Frau
- Karpfen, Gänsebraten gibt es in der Gegend gar nicht.
- Mann
- Erstens Geschenke, denken wir uns. Zweitens Kerzen und Bäumchen, haben wir. Drittens an die Hungernden in Indien denken.
- Frau
- Da ist es warm.
- Mann
- Viertens Herbergssuche. Schafe in Island, die sich im Schneesturm verirrt haben und von mir noch gerade rechtzeitig in die warme Scheune getrieben werden. Sechstens Schallplatten, siebtens Verschiedenes.
- Frau
- Jetzt können wir zurückfahren, ich habe genug von den Ferien.
- Mann
- Nächsten Sonntag haben wir Spitzbergen.
***
- Text
- BOMBENSCHROTT UND STAHL-TARTAR
- Text
- Helge Schneider: „Leider kann man PANZER nicht essen!“
- Helge Schneider
- Do you have fire for my cigarette? / By the first you have to go with me in bed. / Almost a very very good idea. / And after that we gonna drink a very lot of beer. / We are the firefuckers / We are the firefuckers / We are the firefuckers / We’re coming to fuck in your town. / I play the guitar only for the shine / I look a woman that is very fine / We are coming for fucking / but you gotta know / we fuck for nothing / only for the show.
- Kluge
- Sie sind beruflich hier nicht als Metzger tätig. Auch nicht als Delikatessmetzger, auch nicht als Abdecker, sondern als Abrüster.
- Schneider/„Erwin Tacke“
- Genau. Nur – da sagen Sie schon was – mein eigentlicher Beruf, den ich erlernt habe, war Abdecker. Aber durch die hohe Arbeitslosigkeit bei mir bin ich zu einem Berufswechsel gezwungen gewesen und habe Glück gehabt. Durch eine Umschulung habe ich dann hier anfangen können im Verschrottungswerk A.
- Text
- Erwin Tacke, Militärgerät-Verschrotter
- Kluge
- Sie haben sich hochgearbeitet, jetzt leiten Sie es.
- Schneider/„Tacke“
- Richtig.
- Kluge
- Und haben die Verkaufsorganisation.
- Schneider/„Tacke“
- Genau. Moment – Dieter, nimm den vorderen nochmal zurück. Schneide da mal schön was raus. Ich kann jetzt mal die Brille abnehmen. Es ist so hell, und deshalb arbeite ich nur mit Brille.
- Kluge
- Kann einem die Augen ausreißen, wenn man da direkt richtig in die Lore blickt.
- Schneider/„Tacke“
- Weil die Maschinen, die wir auseinandernehmen, teilweise auch durch die Schweißbrenner, enthalten manchmal Nitro …
- Kluge
- … glyzerin?
- Schneider/„Tacke“
- …lacke. Die Außenhaut von diesen Kampfjets … sind oft mit Nitrolack … weil der leichter ist … anstatt der Hammerschlag.
- Kluge
- Ist ja ein komisches Gefühl. Man kommt ja an diese Panzer im Krieg, oder in der Natur gar nicht so nah ran.
- Schneider/„Tacke“
- Doch, manche schon. Aber da möchte ich nicht in deren Haut stecken. Weil nämlich so ein Panzer, der ist sowas von … das ist auch traurig. Deshalb finde ich es auch gut, hier zu arbeiten, weil wir die Dinger kaputt machen.
- Kluge
- Und schneiden sie durch in schöne Portionen sozusagen. Wie Tartar.
- Schneider/„Tacke“
- Das macht natürlich auch irgendwie Spaß, so einen Panzer auseinanderzunehmen. Das Filetstück ist oben der Geschützturm.
- Kluge
- Weil der sich so schön dreht.
- Schneider/„Tacke“
- Moment. Dieter! Der Geschützturm, lass den noch mal! Mache ich später! Geh erst mal an die F11!
- Text
- Die Abteilung für Bombenschrott und Flugzeuge
***
- Text
- Kammersängerin Hannelore Hoger als AMNERIS in Verdis AIDA
- Hannelore Hoger
- Wenn ich auf der Bühne bin, bin ich nicht privat. Und versetze ich mich auch hinein und möchte das lebendig machen.
- Kluge
- Eine öffentliche Figur.
- Hoger
- Weiß ich nicht, eine öffentliche Figur, aber eine Kunstfigur.
- Kluge
- Kann es passieren, dass eine Sängerin im Elan, in der Rage, in die falsche Oper gerät? Also zum Beispiel eben noch in Aida und am Meer spielend, plötzlich rüber in Othello?
- Hoger
- Also das habe ich selten erlebt. Schon die Musik muss hier erschrecken. Und wenn man so eine Partie singt, dann muss man sich ein bisschen in die Ägyptologie hineindenken. Diese vier Tiere, die Schlange, der Frosch, der Skarabäus, der Mistkäfer, und die Spitzmaus, die ganz kleine. Die Spitzmaus, diese winzige, so groß wie ein Nagel, ein Fingernagel, eigentlich ein entzückendes Tier. Und diese vier Tiere, die nehme ich oft … ich habe sie alle in echt. Ja ich habe sie in echt … bei der Schlange wird es etwas kompliziert, aber ich will ja auch die Tiere nicht quälen. Aber ich habe sie alle in einem Terrarium, den Frosch und den Mistkäfer, der ist ja klein und ich mag den sehr. Er ist der Skarabäus, eine schöne Form, grün schillernd. Und ist ein kleiner Käfer, und er ist eigentlich, er bringt das Glück, er ist ein Glücksbringer, wie die Sonne. Er symbolisiert die Sonne und ohne Sonne ist kein Leben auf der Erde, wie wir alle wissen. Und dann platscht dieses Rind einen Auswurf hinten runter, großer Fladen, und der Skarabäus mit seinen vielen Beinen, der holt das alles heraus, und er rollt eine Kugel, und aus diesem Mist rollt er, er ist der Mistkäfer, und da rollt er eine Kugel, eine große Kugel, die immer größer und größer wird, 20mal größer als er selber, ja mindestens. Eine schöne runde Mistkugel und die tut er mit seinen Hinterfühlern, -beinen in die Erde hinein, damit es nicht austrocknet von der Sonne. Und macht eine Kuhle und da tut er diese wunderbar gerollte Kugel hinein und dann kommt also, wenn er Hunger hat, dann holt er sie mit der Sonne wieder heraus. Ein wunderbarer Vorgang.
***
- Text
- Was ist ein Rhizom? Die Lust aufs Unwahrscheinliche bei Felix Guattari und Gilles Deleuze
- Text
- „Ein nicht mehrheitsfähiger Ausdruck, der jeden bewegt - -“
- Kluge
- Was bedeutet der Ausdruck Rhizom?
- Vogl
- Rhizom ist eigentlich ein Ausdruck, der in einer gewissen Konkurrenz zum Begriff des Systems steht.
- Kluge
- Ist das Wurzel?
- Vogl
- Rhizom ist das Wurzelwerk, es ist das Wurzelwerk, das heißt eine unübersichtliche Wucherung von verschiedenen Gängen, die miteinander vernetzt sind und die gleichzeitig eine seltsam blinde, wie hellsichtige Konstellation erzeugen.
- Text
- Dr. Joseph Vogl, Übersetzer und Romanist
- Kluge
- Die Wurzeln eines Baumes, die aber in Wirklichkeit das Astwerk sind?
- Vogl
- Genau, beispielsweise, aber die eben nicht die Idee der auf einen Punkt konzentrierten Kohärenz erzeugt. Das heißt, das Wurzelwerk ist eines, das nur, wenn Sie so wollen, erfahren werden kann. Das heißt, auch philosophisch erfahren werden kann, indem es einen Gedankengang in sein eigenes Labyrinth umsetzt und umlegt.
- Kluge
- Ein lebendiges.
- Vogl
- Ja, nicht nur lebendig, sondern eines ist, in dem sozusagen das dezisionistische Moment der Unvorhersehbarkeit erhalten wird. Das heißt, jemand, der sich in das Rhizom begibt, ist jemand, der in jedem Augenblick nach der nächsten Kurve, nach der nächsten Wendung mit einer Proliferation, einer Wucherung oder einer Abzweigung oder einem blinden Ende konfrontiert ist, das ihn zu einer seltsamen Akrobatik veranlasst. Also derjenige, der im Rhizom sich befindet, ist einer, der blind und hellsichtig zugleich sein muss. Er muss sich an die Dunkelheit gewöhnen, er kann nicht sehen, und gleichzeitig muss er auf jede Wendung des Ganges in irgendeiner Weise reagieren. Und insofern ist das Rhizom …
- Kluge
- Auch zurückfinden?
- Vogl
- Nein, eben nicht zurückfinden, sondern …
- Kluge
- Einen Ariadnefaden gibt es nicht.
- Vogl
- Es gibt keinen, und das ist eigentlich der Clou dabei. Der Ariadnefaden ist verlorengegangen, oder wie Foucault gesagt hat, Ariane hat sich erhängt, Ariadne existiert nicht. Der rote Faden ist verlorengegangen. Und in dieser Hinsicht ist das Rhizom oder das rhizomatische Denken zweierlei zugleich. Nämlich auf der einen Seite Abbild einer Situation der Unübersichtlichkeit, die sich nicht beherrschen lässt, in dem Übersichtlichkeiten rekonstruiert werden. Und auf der anderen Seite, und das wäre die Fluchtlinie, wenn Sie so wollen, auch die kritische Fluchtlinie dieses Denkens, wäre es der Versuch, scheinbar Inkohärentes, scheinbar weit auseinander Liegendes in Zusammenhang miteinander zu bringen. Derjenige, der rhizomatisch denkt, ist einer, der sich nicht … der sich durchaus dem Witz aussetzt, das Unvereinbare für einen Augenblick vereinbar darzustellen. Das heißt, verschiedene Bereiche, die in der Gesellschaft, die in gesellschaftlichen Topographien auseinanderliegen, miteinander zusammenzubringen und dadurch diesen Gedanken …
- Kluge
- … den man bastelt oder so einen Ausdruck könnte man verwenden. Es ist hat nichts mit der deutschen philosophischen Tradition, dass die Wahrheit jetzt ans Licht tritt, in Band 1 …
- Vogl
- Erstens das, es hat also nichts damit zu tun. Es hat nichts mit einer Scheidung der Fakultäten zu tun, es hat nichts mit einer Scheidung der verschiedenen Verstandesvermögen zu tun.
- Kluge
- Würde also sagen, ob das je praktisch wird, kann ich nicht sagen. Ob es wahr ist, kann ich nicht sagen. Und dennoch gibt es Wahrheit, also ich würde nicht jetzt relativistisch werden. Es ist keine skeptische Schule.
- Text
- Ein Beispiel für: „Experimentelle Philosophie“
- Vogl
- Nein, es ist keine skeptische Schule. Indem ich nie irgendwo anders gehe als auf dem Fleck, auf dem ich im Augenblick stehe, wird ein altes, altehrwürdiges Verhältnis der Philosophie glaube ich zum Kollabieren gebracht, nämlich das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, das heißt zwischen einer Vorgabe, einer theoretischen Leitlinie und ihrer Verwirklichung.
***
- Text
- John Fiore, Dirigent
- John Fiore
- Die Witwe von Hector ist eine Rolle, die nur getanzt wird oder ein Schauspiel, kommt auf die Bühne und macht was. Und ihre Seele, ihr Schmerz ist durch eine Soloklarinette mitgeteilt. Und für mich ist das einer der schönsten Momente in der ganzen Oper. Der Chor sagt: Andromaque et son fils, Andromache und sein Sohn … Ô destin! Ces clameurs de la publique allégresse … Et cette immense tristesse, ce deuil profond, ces muettes douleurs! Les épouses, les mères pleurent à leur aspect…