Die Zeittotale, eine Errungenschaft aus der Schatzkiste der Filmkunst, als nicht bloß technisches, sondern als inhaltliches Prinzip

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Die Zeittotale, eine Errungenschaft aus der Schatzkiste der Filmkunst, als nicht bloß technisches, sondern als inhaltliches Prinzip

Die Zeittotale, eine Errungenschaft aus der Schatzkiste der Filmkunst, als nicht bloß technisches, sondern als inhaltliches Prinzip / Es steht dann als robuste Zeitversetzung (Bilder aus fremder Zeit treten in der unsrigen in Erscheinung oder konfrontieren sich mit anderen fremden Zeiten, es entstehen Segmente einer „Kugelgestalt der Zeit“) / Das ergänzt das Prinzip der „Ähnlichkeiten“ (Mimesis), das im Bilderatlas vorherrscht

Die Höflichkeit des Gastes antwortet auf den Ausstellungsraum und öffnet so eine indirekte Beziehung zum Bilderatlas

Mit unserer Installation zum Bilderatlas waren Gerhard Wolf und ich, wie schon gesagt, zu Gast im Niobidensaal der Uffizien. In diesem Raum sind Skulpturen zu sehen. Sie zeigen die Söhne und die Töchter der Niobe kurz bevor sie unter den Pfeilen des Apoll und der Diana sterben oder schon in ihrem Tod. Die beiden aggressiven Gottheiten, Apoll für die Ratio, Diana, seine Schwester, für die Jagd, toben sich aus. Im gleichen Saal findet sich aber auch das Bild von Rubens Der triumphale Einzug des Königs Henri IV in Paris.

Wenn wir schon Gastrecht genießen, ist es ein Gebot der Höflichkeit, auch auf dieses Bild Bezug zu nehmen. Mit Zustimmung von Wolf habe ich deshalb hierfür vier Filme bereitgestellt:

  • „Die ungleichen Augen“ / 3 min.
  • Die Bartholomäusnacht / 9:44 min.
  • Der Tod des guten Königs / 3:29 min.
  • Der triumphale Einzug von König Henri Quatre in Paris / 3:39 min.

Dies hat unmittelbar mit dem Bilderatlas nichts zu tun. Es entsteht aber eine Kommentarwirkung dadurch, dass hier Bilder, aus Zeiten, die different sind, eine Zeittotale bilden. Das ist eine filmische Möglichkeit, die das Prinzip der Montage mit Mitteln der K.I. erweitert, des Konjunktiv der Bilder, der Bilder, die bereits in Bildern enthalten sind und so die irreale Zeitdifferenz ignorieren und die Kugelgestalt der historischen Realität wiederherzustellen trachten. Dies ist nichts als eine Seitenbewegung zum Bilderatlas und eine konsequente Fortführung von Elementen der Panels.

Das Bild von Rubens zeigt einen INTROITUS, den traditionellen Auftritt eines neuen Herrschers (ähnlich wie in Panel 57 im Bilderatlas der Einzug Kaiser Maximilians), und das geschieht in dem pathetischen Gestus eines solchen offiziös bestellten und bezahlten Bildes. Der analytische Blick befragt die Bilder nach Einzelheiten und das ist ergiebig. Auffällig, bei aller Beschäftigung mit dem König Henri Quatre, bleibt, dass es kein authentisches Bild dieses Herrschers gibt. Die Feinde versuchen, sein Bild zu diffamieren, die Anhänger ihn zu adorieren („anzubeten“). Er ist Südfranzose. Nicht typisch für Paris. Dass er kleinwüchsig war, bedingt nach Le Corbusier, dass die Zimmer des Louvre, die er entwarf, die Deckenhöhe für kleinwüchsige Menschen, einen für den Geschmack des Bauhauses angenehmes Menschenmaß besitzen. Sicher aber ist es: Er hatte ungleiche Augen. Das rechte war kleiner als das linke. Er sah alles, vermutlich auf zwei verschiedene Weise. Es heißt, er habe einen präzisen Blick gehabt.

Das Massaker der sogenannten Bartholomäusnacht, bei der die Protestanten abgeschlachtet wurden, war die Vornacht für die Hochzeit dieses Königs mit einer Prinzessin aus dem französischen Königshaus. Dass er lebend entkam, gehört zu den Mirakeln Frankreichs. Er konvertierte dann zum Katholizismus. Seine Regierung blieb generös. Die Philosophie von Montaigne entspricht etwa der Mentalität, mit der er Politik und sehr kurze Kriege betrieb.

Als die Sansculotten nach 1789 die Königsgräber in Saint Denis plünderten und die Skelette der Toten in alle Winde zerstreuten, trugen sie doch den „guten König Henri Quatre“ nach Paris und setzten seinem Sarkophag auf einer der Seine-Brücken ein Denkmal.

Exkurs zu König Henri Quatre

Im Jahr 1610 hatte dieser König einen seiner entschlossenen Pläne. Dem Albtraum der spanischen Hegemonie in Italien und Mitteleuropa wollte er ein Ende setzen. Das geschah während des achtzigjährigen Kriegs zwischen den Niederlanden und Spanien. Der Feldzug schien unabweisbar, weil ein Erbstreit in den Provinzen Berg und Jülich-Cleve, zwei reichen Gebieten in Nordwestdeutschland, bei dem ein Widerstreit zwischen einem katholischen und einem protestantischen Fürsten bestand, alle Gleichgewichte zum Einsturz gebracht hätte. Verbündet mit den Geusen der Niederlande, suchte Henri Quatre – in der nur ihm eigenen Art – einen raschen Dezisivschlag. Der hätte, das bestätigt der Historiker Herfried Münkler, in einem halben Jahr alle Gründe für den späteren Dreißigjährigen Krieg hinweggerafft. 29 Jahre bürgerlicher, womöglich republikanischer Entwicklung wären freigesetzt worden. Mit Spätwirkung bis hin zum Jahr 1933.

In einer engen Gasse in Paris 1610 wird der König von einem körperlich riesenhaften Attentäter, einem Fanatiker Spaniens, in seiner Karosse erstochen. Der Attentäter langt körperlich durchs Fenster bis zur Brust des Monarchen. Alle Schützer versagen. Das tut mir noch heute leid.

Man muss – mit den Mitteln des Films und auch der K.I. – die Bilder, die hiervon handeln, aus der Fessel der damals zeitgenössischen Graphik lösen. Man muss sie aber auch „übersetzen“ in unsere und andere Zeiten. So entsteht der „Konjunktiv der Bilder“. Er entspricht dem Gegenalgorithmus zum „Prinzip der Fatalität“ – als sei die geschehene Realität ein Gott. Ikonographische und auch sonstige Beobachtung dagegen, lehrt: alle Realität ist porös. In ihren Lücken existieren glückliche Wendungen – wie Tunnels von Maulwürfen –, dicht daneben erst findet die Wirklichkeit statt.

Quasi die „beschriebene Rückseite der Geschichte“ ist mit affirmativen Bildern nicht darstellbar. Sie braucht Gegenbilder, Kommentar, Konstellation und – was den Film betrifft – die Montage. Diese ist nichts Willkürliches oder „Künstlerisches“, sondern das „Lesen der Realität wie in Schafslebern“. Direkt nicht sichtbare, aber ahnbare und intelligible Teile der Realität werden lesbar. Das ist Kernpunkt des Bilderatlas.