Kunstgeschichte in ihrer Longue Durée (Georges Didi-Huberman)

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Kunstgeschichte in ihrer Longue Durée (Georges Didi-Huberman)

Art History in its Longue Durée (Georges Didi-Huberman)

Die Sonnenlenker von Taos

Nicht weit von Santa Fé entfernt besuchte in den zwanziger Jahren Aby Warburg den Pueblo-Ort Taos. Auf dem Flachdach des fünften Stockwerks eines der in die Felsen eingefügten Gebäude befragte der Europäer einige der Indianer, welche die Bewegung der Sonne beobachteten. Die Sonne stieg über der gewaltigen Hochebene von Taos empor.

Könne sich der Indianer, es schien sich um eine Art Seher zu handeln, vorstellen, dass es sich bei der Sonne um eine feurige Kugel handele, von einem unsichtbaren Gott geformt? Das sehe man doch, dass es wohl kaum eine Kugel sei, antwortete der indianische Geistliche, wenn auch möglicherweise ein Gebilde aus Feuer.

Es zeigte sich, dass die zwölf auf dem Flachdachhockenden „indianischen Gelehrten“ von sich glaubten, sie müssten den Lauf der Sonne in dieser Weise lenken. Wenn wir das, was Sie hier uns tun sehen, nicht täten, dann wird in zehn Jahren die Sonne nicht mehr aufgehen.

Gut vierzig Jahre später besuchte ein Schüler Warburgs erneut die Pueblos. Die Sonnenwächter waren verschwunden. Verrostete Eimer, das Skelett eines Autos lagen am Ufer des einst klar dahinfließenden Flusses. Die Sonne stand „weiß und sengend“ über Taos. Irgendetwas fehlte dieser Sonne.

Das unvollendete Projekt

Im Jahr 1929 stirbt Aby Warburg. Das beendet seinen Bilderatlas. Im Mai jenes Jahres 1929 stehen Walter Benjamin und Bert Brecht an den Fenstern einer Wohnung in Berlin und betrachten – mit Vorsicht, die Fenster sind verhangen – den Blutmai 1929. Das ist eine bürgerkriegsähnliche Konfrontation zwischen Polizei und demonstrierenden Arbeitern in der Mitte Berlins. Dieses Wendejahr 1929 wird falsch verstanden, wenn man davon ausgeht, die Menschen, die in Mitteleuropa in diesem Jahr lebten, hätten von dem Black Friday und der anschließenden langjährigen Wirtschaftskrise gewusst. Den legendären Börsencrash gab es erst im Spätherbt dieses Jahres. Auch ist in diesem Wendejahr noch nicht entschieden, dass die politische Entwicklung in Richtung 1933 verläuft. Adolf Hitler wählten nicht mehr als 4 % der Wähler im Deutschen Reich. Eine Gruppe entschiedener Gegner, z. B. Pädagogen und Erwachsenenbildner, hätten seinen Aufstieg noch verhindern können.

Das Jahr 1929 ist genau der Zeitpunkt, zu welchem Walter Benjamin sich definitiv entschließt, mit der Arbeit an seinem Passagenwerk zu beginnen. Brecht und Benjamin verabreden auch die gemeinsame Arbeit an einer Kriegsfibel. Die Verbindung zwischen dem 1929 auslaufenden Bilderatlas von Aby Warburg und die Brücke zu uns, die das Passagenwerk von Walter Benjamin darstellt, insbesondere in dessen (meist bilderlosen) zweiten Band, sind offene Baustellen. Es geht darum, keines dieser elementaren Projekte als Baustelle liegen zulassen. Wir sollten weiterbauen, die Form davon heißt: Kommentar.

Die Kiste mit Walter Benjamins unvollständigen Aufzeichnungen zum Passagenwerk gelangte zu Th. W. Adorno aus Paris nach dem Krieg. Benjamins Arbeiten enden mit seinem Tod 1941. Weder der Tod Aby Warburgs von 1929 noch der Tod Benjamins 1941 macht auch nur ein Detail des gewaltigen Projekts unnötig.