Nachrichten aus der ideologischen Antike
Nachrichten aus der ideologischen Antike
Erste Fassung, 2008
Am 12. Oktober 1927 hat Sergej Eisenstein die Dreharbeiten zu „Oktober“ abgeschlossen. Wie soll er nach diesem gigantischen Film weiterarbeiten? Er notiert: „Der Beschluß steht fest, das KAPITAL nach dem Szenarium von K. Marx zu verfilmen.“ Aber wie kann man Geld, Ware, Profit, Kapital „kinofizieren“ (Eisenstein), wenn es sich dabei nicht um Inhalte, sondern um abstrakte Formen von allen möglichen Dingen, Menschen, Beziehungen geht? Deshalb stellt Eisenstein im Verlauf seines Plans für sich ein Verbot auf, die Börse zu fotografieren. Denn was sieht man dort, wenn man nicht gleichzeitig die von Warentermingeschäften hervorgerufenen Hungersnöte, die Armut, die Kinderarbeit, die Drogengeschäfte in anderen Kontinenten mitabfilmt? Man sähe nur den Schein einer schönen, geordneten Verwaltung, an den das Kapital selbst glauben möchte. Die Börse filmen heißt die Ideologie (das falsche Bewußtsein) des Kapitals filmen, nicht seine Realität.
Die Frage, wie man das Kapital verfilmt, hat Eisenstein umgetrieben. Sie hat dazu geführt, dass wir in den erst vor wenigen Jahren zugänglich gewordenen Notizen Eisensteins zu dem Kapital-Projekt einen völlig anderen Regisseur kennenlernen als den des Panzerkreuzers Potemkin. Eisenstein setzt sein Kapital-Projekt als eine völlig neue Art von Film ab von der bisherigen Filmgeschichte, die er „antiker Film“ nennt. Der „antike Film“ erzählt linear - er wollte jetzt eine „kugelförmige Dramaturgie“ entwickeln. „Der antike Film drehte eine Handlung aus mehreren Gesichtspunkten. Der neue Film montiert einen Gesichtspunkt aus mehreren Handlungen.“ Der Gesichtspunkt sollte bei Eisenstein vermutlich das Kapital sein. Mehrere montierte Handlungen, die in Konstellation, in Beziehung und Widerspruch zueinander stehen, sollten das im Zentrum stehende Kapital, das Abstrakte, das gegen jeden Stoff Gleichgültige spiegeln.