Direkte Demokratie
Transkript: Direkte Demokratie
- Text
- Die Debatte über die Protestbewegung von 1968, ausgelöst durch die Beteiligung des AUSSENMINISTERS am Kampf der GRUPPE PUTZ in Frankfurt 1973, bleibt merkwürdig UNZUSAMMENHÄNGEND / Tatsächlich gibt es einen UNMITELBAREN KONTEXT zur Ermordung Präsident Lumbumbas im Kongo, zu Vietnam, zum Protest in den US-Ghettos und in Berkeley, zu den Kämpfen in Paris 1968 / Oskar Negt, einer der Sprecher der Protestbewegung, berichtet - -
- Text
- DIREKTE DEMOKRATIE / Oskar Negt über Studentischen Protest 1967-1969
- Voice-over
- Dann kommt der Schah. Kaum ist der Schah im Rathaus verschwunden, gehen die Jubelperser zum Angriff über. Die Schranken, die sie von den Demonstranten trennten, sind plötzlich geöffnet, man weiß nicht wie, und ebenso plötzlich sind die unheimlichen Gäste mit Totschlägern und Holzknüppeln bewaffnet.
- Alexander Kluge
- In einer Rede von dir hast du ein Zitat des Generals Westmoreland, des Oberbefehlshabers in Vietnam, zitiert. Was sagt der da?
- Oskar Negt
- Er entwickelt eine Vision des Krieges und sagt: Ich sehe Schlachtfelder, auf welchen wir alles zerstören können durch sofortige Informationsaufnahme und fast sofortige Anwendung von tödlicher Zerstörungskraft. Auf dem Schlachtfeld der Zukunft werden feindliche Kräfte lokalisiert, aufgespürt werden, und fast ohne Zeitverlust beschossen werden können. Automatisierte Feuerkontrolle sichert eine fast hundertprozentige Tötungswahrscheinlichkeit. Ein ungeheuerlicher Satz.
- Kluge
- Man weiß heute, dass das eine militärische Chimäre ist. Das sind aber genau die Elemente, die am Vietnam-Krieg reizen. Das regt die Studenten auf.
- Negt
- Ja, die reizen. Und so irreal ist das nicht, was er sagt. Denn es ist bombardiert worden nach Planquadraten, und wo überhaupt nicht mehr geprüft wurde, ob da Vietcong ist oder nicht. Die Entlaubungsstrategien sind alle nach Planquadraten … Aber das ist natürlich ein Gewaltelement, auf das die neue Generation mit ungeheurer moralischer Empörung und mit Protest auch weltweit reagiert.
- Text
- Oskar Negt, Zeitkritiker
- Kluge
- Die Protestbewegung ist also nicht eine deutsche Sache spezifisch. Das ist sie 1967 nach dem Tod von Benno Ohnesorg, aber es ist seit 1965 in Berkeley an den amerikanischen Universitäten.
- Negt
- Berkeley, Bürgerrechtsbewegung, der Kampf also gegen die Rassendiskriminierung, schon in der Kennedy-Ära sehr stark auch von Kennedy selber gefordert und gefördert. Das heißt es ist eine Bewegung, die viel umfassender ist als das, was in Deutschland abläuft.
- Text
- Bürgerrechtsbewegung in den USA
- Kluge
- ‘63 wird dieser Präsident weggeschossen. Kennedy, ermordet. ‘62 ist die Spiegel-Krise. Augstein wird verhaftet. Es erweist sich, dass der Verteidigungsminister mit Spanien kollaboriert hat, um ein illegales Staatsgeheimnis zu schützen und hier eine Verhaftung, ein Presseorgan mundtot zu machen. Hat also eine lange Vorgeschichte.
- Text
- Rudolf Augsteins Verhaftung, 1962
- Text
- Verteidigungsminister FRANZ-JOSEF STRAUSS, gestürzt durch die Spiegel-Krise
- Negt
- Und die gewaltige Lüge von Adenauer: Wir befinden uns an einem Abgrund von Landesverrat, ist praktisch bestimmend dafür, dass allmählich auch dieses System, dieses Gesellschaftssystem in den Regelungen, die es vorgibt, in Frage gestellt wird. Viel früher als 1967.
- Kluge
- ‘62, ‘63, ‘65, ‘68 im Mai dann in Paris. Die große Auseinandersetzung, bei der es einen Moment den Anschein hat, als ob von der Hauptstadt her das Regime von De Gaulle entweder entmachtet wird – Mendès France als Ministerpräsident zurückkehrt – , oder aber überhaupt eine Destabilisierung der Verhältnisse entsteht.
- Text
- Paris, Mai 1968
- Negt
- Es sind ja soziale Bewegungen in Frankreich im Spiel, die sich verknüpfen mit dem Protest der Studenten gegen überholte Ausbildungsverhältnisse und verengte Ausbildungsverhältnisse. Und in der Tat geht das bis zu dem Punkt, wo das umkippen kann und diese von De Gaulle gegründete Republik ans Ende gerät. De Gaulle selber zieht sich zurück.
- Kluge
- Der fährt nach Baden-Baden, besucht den General Massu, versichert sich der Panzerstreitkräfte, und fasst offenkundig eine Art Bürgerkrieg ins Auge.
- Negt
- Ja, und du gibst das Stichwort. Natürlich ist der Algerienkrieg in Frankreich gegenwärtig für diese Generation des Protestes, genauso wie dann zunehmend der Vietnamkrieg für diese Generation …
- Kluge
- Gewalt, Folter, sozusagen Beharren auf kolonialer Eroberung …
- Negt
- Es ist völlig unsinnig, wenn Politiker heute behaupten, das wäre ja natürlich ein völlig rechtsstaatliches System und ein gewaltfreies System, mit dem es die Protestbewegung zu tun hatte. Ganz im Gegenteil, die Dekolonisierung, die nachgeholten Kolonialkriege, in Algerien noch, im Vietnamkrieg, alles das gehört zum Gewaltumfeld, auf das diese neue Nachkriegsgeneration reagiert.
- Negt
- Und es ist ganz klar, dass die offiziellen Gewalten in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland, in Frankreich und England, natürlich den Vietnamkrieg decken, die Rassentrennung in Südafrika decken, die Ermordung von Lumumba decken …
- Text
- Lumumba, Ministerpräsident des KONGO, vor seiner Ermordung
- Kluge
- Der Kongo. Ein Gebiet, das etwa von der Bretagne bis Moskau reicht. Ein Riesengebiet. Und jetzt ist da gewählt ein Mann, der Präsident Lumumba. Und der wird von Militärs verhaftet, ausgeliefert an Tshombe, einen Separatisten, der die Bergwerksprovinz Katanga in Besitz hat, und wird ermordet.
- Negt
- Wird ermordet. Auch unter den Augen der Presse und sogar des Fernsehens wird Lumumba ermordet. Und das ist auch ein Element von dieser Gewaltatmosphäre in der Welt, die nicht ausgeht von denjenigen, die rebellieren und die moralische Proteste in Gang bringen.
- Kluge
- Man kann das nicht unterscheiden im Moment vom Tod von Hammarskjöld, der im selben Kongo mit einem Flugzeug offensichtlich abgeschossen wurde.
- Negt
- Ja. Man weiß es nicht. Aber es ist sehr viel Gewalt im Spiel in diesen 60er Jahren, und natürlich hat das auch mit einer Umbruchssituation zu tun …
- Kluge
- Und niemand glaubt, dass Kennedy von einem Täter, oder einem Verrückten, oder einem Beauftragten, ermordet wurde. Sondern es gibt auch den Verdacht, gewissermaßen außer den gewalttätigen Tatsachen noch ein Umfeld des Misstrauens …
- Text
- Oskar Negt, Zeitkritiker
- Negt
- Ein Umfeld des Misstrauens gegenüber Formen der Rebellion, des Einklagens von Rechten, des Protestes, der Alternativen zur bestehenden Gesellschaftsordnung. Die Alternativen zu zerstören im Innern ist in den 60er Jahren ein sehr klares Programm auch der einzelnen Systeme.
- Kluge
- Und in der Bundesrepublik tritt jetzt noch hinzu ein Generationenproblem, dass man sich vom dritten Reich eigentlich nie gelöst hat, sondern auch hier, teils durch Tatsachen belegt, teils durch Misstrauen und Verdacht genährt, gesagt wird: Hier gibt es eine Kontinuität zum Dritten Reich.
- Negt
- Die Kontinuität besteht durch Personen, wie Globke, oder Filbinger, der sagt, was damals recht war, kann heute nicht unrecht sein. Und überhaupt gibt es ja so etwas wie eine Aufarbeitung der Vergangenheit erst Anfang der 60er Jahre durch die Dokumente …
- Text
- Hans Filbinger, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, 1945 Militärjurist
- Kluge
- Man spricht von der Kalten Amnestie, die unmittelbar nach dem Krieg … Durch den Ausbruch des Kalten Kriegs werden stabile Strukturen aus dem Dritten Reich nachträglich reproduziert.
- Negt
- Und es ist kein Richter verurteilt wurden, der rechtsverletzende Urteile gefällt hat. „Ungesühnte Nazijustiz“ von Reinhard Strecker, einem SDS-Mann, zur Ausstellung gebracht. Die Dokumente sind abgerissen worden, und Strecker ist selber angeklagt worden. Also die Erstdokumentation von nicht aufgearbeiteten Verbrechen des Dritten Reichs, das beginnt in den 60er Jahren erst.
- Kluge
- So dass die Wehrmachtsausstellung eigentlich eine letzte Konsequenz war dieser Bewegung. Ein anderes Beispiel – Kongo ist bis heute ungelöst, da ist eine Destabilisierung erfolgt seinerzeit vor ‘65, und die wirkt bis heute nach.
- Negt
- Und Lumumba war einer von denen, die sofort erklärt haben, wir brauchen Katanga, wir brauchen die Goldvorräte, um unsere eigene Wirtschaft aufzubauen. Das ist tödlich für ihn gewesen, weil die alten Kolonialherren das behalten wollten, was sie politisch geopfert haben.
- Kluge
- Und jetzt spitzt sich das zu durch den Schahbesuch in der Bundesrepublik. Auch heute haben wir kein ausgewogenes Verhältnis zum Iran. Und wenn man mal beschreibt, dieser Schah wird also als ein geehrter Monarch empfangen, besucht in Berlin eine Theatervorstellung. Außerhalb Proteste. Es werden durch Polizeitaktik diese Schläuche gebildet, diese Leberwürste aus Menschen, in denen man dann etwas abschneiden und verhaften kann. Und dabei löst sich der Schuss auf Benno Ohnesorg. Ein Todesfall. Und dies führt jetzt an allen Universitäten, auf diesem Gesamthintergrund, der in der Welt ohnehin vorbereitet ist, zum Protest.
- Negt
- Zum Protest, und zwar durch alle Fraktionen und Parteien hindurch. Auch CDU-Leute halten das für einen Einschnitt in die Geschichte der Bundesrepublik.
- Voice-over
- Bei Einbruch der Dunkelheit fällt ein Schuss.
- Text
- Ausschnitt aus dem Film DER POLIZEISTAATSBESUCH von Roman Brodmann
- Voice-over
- Eine Passantin, die sich um den in den Hinterkopf geschossenen Studenten Ohnesorg kümmert, wird zuerst angeschnauzt: Was, dem wollen Sie noch helfen? Aber bald danach weiß man, dass ihm nicht mehr zu helfen war. Die Studenten verbrennen Springer-Blätter. Die uniformierten Kommandos sammeln sich und schwärmen zu neuen Erfolgen aus. Wenig später haben sie in Notwehr noch ein Mädchen außer Gefecht gesetzt.
- Text
- Kritische Universität Berlin / Politische Universität Frankfurt
- Kluge
- Und jetzt entsteht einen ganzen Winter lang eine große Kampagne der Ernsthaftigkeit, der Arbeit. Die Kritische Universität in Berlin, die Politische Universität hier in Frankfurt.
- Negt
- Das ist richtig. Es ist eine Form der Verarbeitung von Gewalt. Und natürlich spielt Gewalt in den Diskussionen eine Rolle, aber nicht in Gestalt der Aufforderung zur Gewalt, sondern ganz im Gegenteil, also um zu reflektieren auf Gewaltformen in der Welt und auf Formen der Gegenwart. Und die Kritische Universität in Berlin, in Frankfurt, sind im Grunde große Foren, auf denen dieses System in seinen sublimen Gewaltformen auch diskutiert wird. Also Gewaltformen, die sich nicht nur durch Polizei ausdrücken, sondern in anderen Formen der Unterdrückung. Deshalb der antiautoritäre Protest, der zunächst einmal darauf gerichtet ist, die Verhältnisse aufzulockern, die alten Herrschaftsstrukturen aufzubrechen.
- Kluge
- Also nicht ein Bruch des Gewaltmonopols ist jetzt hier irgendwo gefordert.
- Negt
- Meines Wissens überhaupt nicht.
- Kluge
- Der Staat wird gar nicht in Frage gestellt. Er wird lediglich bezweifelt in seiner Legitimation. Er soll Rechtsstaat sein.
- Negt
- Richtig. Er soll Rechtsstaat sein. Er soll das, wozu er angetreten ist, auch realisieren und nicht gleichsam dieses System nur repräsentieren, also das kapitalistische Herrschaftssystem. Natürlich ist der Kapitalismus eigentlich der Gegenstand der Kritik gewesen, nicht der Staat.
- Kluge
- Das ist aber nicht bei allen Studenten so. Also das Wort Imperialismus, oder Militarismus, oder: Der Staat ist nicht auf der Höhe der Regeln, die er sich selbst gibt.
- Negt
- So ist es. Das Einklagen. Es ist ein Einklagen von Rechten der einzelnen Personen, der Gruppen, gegenüber der Wissenschaft, gegenüber der Verfassung. Den Sinngehalt sichtbar zu machen von wissenschaftlicher Erziehung, Tätigkeit, in dieser Gesellschaft; das heißt Demokratisierung ist eigentlich die positive Forderung, die dahinter steht. Demokratisierung.
- Text
- Strukturelle GEWALT / Manifeste GEWALT
- Kluge
- Nun gibt es den Begriff der strukturellen Gewalt. Das bedeutet, man kann Afrika aushungern, in dem man Afrika vom Weltmarkt abschneidet. Man kann Kinder von der Schule abschrecken, indem man in einer Staatsschule ganz bestimmte Bedingungen hat, die nur von Eltern reicher Kinder zu erfüllen sind. Man kann durch die Sprache in der Schule, die Sprechweise, dialektgefärbte Kinder ausschließen. Es ist also ein ganz starkes Pathos darin, dass man den gleichen Weg zur Bildung für alle fordert. Wieder ein demokratisches Element.
- Negt
- Es ist ja dann die Reformperiode auch die Folgerung aus diesen Protesten. Das heißt Bildungsreform, Strafrechtsreform, alle diese Reformen, Entstehung auch einer Zeitschriftenreihe, „Die kritische Justiz“ …
- Text
- Oskar Negt, Zeitkritiker
- Kluge
- Es entstehen all diese Arbeitsgruppen im Winter 1967 …
- Negt
- Und das ist völlig richtig, es ist strukturelle Gewalt. Und es taucht damals zum ersten Mal ein Satz von Heinrich Zille auf, der sagt: Man kann einen Mann mit einer Axt genauso töten wie mit einer Wohnung. Dieses Element der verengten Lebensverhältnisse produziert diese Formen der Gewalt, und erzeugt Gewaltpotential.
- Kluge
- Manifeste Gewalt wäre der Gegenpol, das ist das, was Polizeiknüppel tun.
- Negt
- Was Polizeiknüppel tun, und eben das Gegenteil auch.
- Kluge
- Und dann gibt es sozusagen Formen der Gewalt, die ohne Gewalt gegen Menschen stattfindet. Die Unterscheidung Gewalt gegen Sachen vs. Gewalt gegen Menschen gibt es zu dem Zeitpunkt noch nicht.
- Text
- GEWALT gegen SACHEN
- Negt
- Nein. Das hat Dutschke dann einmal erwähnt, obwohl das im Schwange ist und eine sehr schwierige Trennungslinie bezeichnet.
- Kluge
- Und kommt aber aus der Idee der symbolischen Gewalt. Das ist jetzt was anderes als strukturelle Gewalt, oder manifeste Gewalt – also hauen –; da gibt es die symbolische Gewalt, das heißt: Menschenmengen in großer Zahl treten drohend auf, schlagen aber niemanden.
- Negt
- Ich meine, man muss ja sowieso einmal festhalten: Es ist ja in diesem Land nie so viel diskutiert worden gewaltfrei, diskutiert worden. Das heißt, Tag und Nacht haben die Menschen sich ausgetauscht über die Sprache. Und die Sprache ist auch ein gewaltfreies Medium der Verständigung, der Verständigungsorientierung. Viele dieser Dinge bezeichnen eben auch eine ungeheure Bedeutung der Lust am Reden. Die Gegenpole sind alle zentriert gewesen um die Frage, wie die Menschen in ihren Bedürfnissen bestärkt werden können, am Gemeinwesen teilzunehmen. Also die Frage des Gemeinwesens spielt eine Rolle. Und damit auch die Frage: repräsentative Demokratie oder direkte Demokratie. Direkte Demokratie würde darin bestehen, dass in den Arbeitszusammenhängen die Menschen beginnen, über das, was ihre Bedingungen sind, unter denen sie arbeiten, mitzudenken.
- Kluge
- Wovon sie etwas verstehen.
- Negt
- Zu verstehen. Und wo sie sich wiedererkennen können. Deshalb spielt also in dieser Demokratiefrage eine Rolle entfremdete Arbeit, entfremdete Tätigkeit, Selbstentfremdung, oder Aufhebung der Selbstentfremdung, das heißt, dass einem nicht das, was man sagt und was man denkt, enteignet wird.
- Kluge
- Dass ich keinen Vormund brauche. Nicht alles in der Welt kann durch Stellvertreter geregelt werden, durch 500 Abgeordnete. Außerparlamentarische Opposition heißt Autonomie.
- Negt
- Es taucht ja immer wieder auf auch von höchsten Staatsrepräsentanten, dass wir vielleicht zu wenig plebiszitäre Elemente in unserer Verfassung vorgesehen haben. Und ich glaube, das kommt daher, dass die Loyalitätsbindungen zu den Parteien und Institutionen natürlich auch im Schwinden sind, weil die Beteiligung, die Partizipation zu gering ist, an dem, was unser Leben mitbestimmt auf dieser Ebene.
- Kluge
- Aber Plebiszite ist nichts, was aus der Protestbewegung kommt. Die hätten gesagt, das ist zu allgemein, eine Volksabstimmung.
- Negt
- Die ist ja auch sehr riskant. Eine Volksabstimmung über die Todesstrafe zu machen ist ja äußerst riskant. Aber plebiszitär im Alltagssinne. Nation ist ein alltägliches Plebiszit, hat einmal ein französischer Theoretiker gesagt. Das heißt, dieses plebiszitäre Element im Alltag, dass man über die eigenen Angelegenheiten auch mitbestimmen kann. Das ist damit gemeint, und das kommt zweifellos daher.
- Text
- OSTERN 1968 / Attentat auf RUDI DUTSCHKE
- Kluge
- Jetzt gibt es den Schuss auf Rudi Dutschke in der Osterzeit 1968. Und das beendet jetzt sozusagen eine friedfertige, mit reicher Diskussion besetzte Massenbewegung zur Reform, und erschreckt.
- Negt
- Ja. Macht viele betroffen. Also die Ostermärsche, die daran anschlossen, standen alle unter dem Eindruck dieses Gewaltaktes. Weil es anders als bei Kurras und Ohnesorg, also des Polizisten Kurras, der geschossen hat …
- Kluge
- Und hier ist nicht ein Polizist, sondern ein geistesgestörter …
- Negt
- Ja, geistesgestörter, aber aufgehetzter Attentäter. Durch das Milieu in Berlin, durch das Bildzeitungsmilieu aufgehetzter Attentäter, der praktisch so vollzieht etwas, was in der Atmosphäre ist. Denn das verfolgt Dutschke – und Dutschke ist immer wieder angegriffen worden – war dieses Klima. Es ist ein zweiter großer Einschnitt, ein Gewaltakt, der die Protestbewegung auch in gewisser Weise radikalisiert.
- Kluge
- Wobei in solchen Momenten, in denen eine aufgeheizte Atmosphäre ohnehin besteht weltweit, da gibt es den Unterschied zwischen Verdacht, Ahnungsvermögen und Faktum. Der ist nicht handelbar. Das heißt also, wenn so viele Menschen glauben, das ist ein geplanter Schuss; oder jemand ist sozusagen auf sein Mittelhirn gesetzt, und sein Großhirn ist ausgeschaltet, und hierdurch wirkt eine Hetzkampagne, die ja offenkundig in Zeitungen zu lesen war. Dann ist das ein Verdacht, der ist nicht ausräumbar.
- Negt
- Nein, der ist nicht ausräumbar. Deshalb wird es immer wieder Kennedy-Filme geben, in denen irgendetwas sichtbar gemacht wird, wo doch interessierte Leute dieses Attentat geplant haben, und es nicht ein Einzeltäter ist. Weil es in die Zeit passt, in der die Kennedy-Administration versucht, die Bürgerrechtsbewegung wirklich zum Durchbruch zu bringen.
- Kluge
- Da nimmt man sehr wohl an, dass Reaktionäre – nicht mal Mafia, sondern Reaktionäre – sich diesen Mord gekauft haben.
- Negt
- So ist es.
- Text
- Selbstauflösung des SDS in Hannover 1969
- Text
- Flugblatt des Weiberrats: „—Wir wollen uns hier auch nicht in das Problem der Kleinen Gruppen eingemeinden lassen / Zumal wir den Verdacht haben, daß diese Kleinen Gruppen –“
- Rednerin
- Wir wollen uns hier auch nicht unter das Problem der Kleinen Gruppen eingemeinden lassen. Zumal wir den Verdacht haben, dass eben diese Kleinen Gruppen an jener Machtstruktur, die wir angreifen, lediglich partizipieren wollen. Auf der anderen Seite haben wir gestern beobachten können, wie die Machtstammhalter des SDS auf eben jene Gruppen reagieren: Nämlich so, als ginge es wirklich um die Macht im SDS. Wir bestehen darauf, dass wir wieder eine kleine Minderheiten…
- Text
- Aus einer Dokumentation von Günter Hörmann /
- Text
- Mit Kommentaren von Tomas Schmid
- Text
- Die neue Mitte / Willy Brandts Koalition (SPD – FDP)
- Kluge
- Und es bildet sich hier eine neue Mitte. Die weder die Protestbewegung ist, noch das alte Establishment.
- Negt
- Und die geht dann ein in diese Reformkoalition.
- Kluge
- So dass eine zweite Republikgründung eigentlich ‘69 damit verbunden ist, dass diese Notstandsgesetze nicht angewendet werden.
- Negt
- Und gleichzeitig natürlich positiv jetzt die Schulreform, die Strafrechtsreform, also das Reformdenken …
- Kluge
- Das heißt, das Protestpotential löst sich in Arbeit auf.
- Negt
- So ist es, ja. In die einzelnen Arbeitsfelder.
- Und dies ist begleitet mit einer Amnestie, wo gewissermaßen die Straftaten während dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung amnestiert werden von der neuen Koalition. Mit einer Ausnahme
- Die späteren RAF-Angehörigen der ersten Generation sind alle so genannte Kaufhofbrandstifter, und die sind aus der Amnestie herausgenommen. Und dies ist jetzt sozusagen zwischen Ostern ‘68 – Attentat auf Dutschke – und dieser Amnestie von ‘69/70, das ist eigentlich die Schlussphase, der dritte Akt und die Schlussphase der klassischen Protestbewegung, die etwas Einheitliches ist.
- Negt
- Es zerlegt sich dann die Protestbewegung in verschiedene Momente, kann man sagen. Also die Momentarisierung dieser Protestbewegung. Die einen suchen jetzt die Entwicklung in der Neugründung proletarischer Ersatzparteien; diese ganzen K-Gruppen entstehen, Splitterparteien mit einem radikalen Anspruch, und mit Identifikationen mit anderen kommunistischen Systemen: Die einen mit Kambodscha, die anderen mit Vietnam, die dritten mit der Sowjetunion, die vierten mit …
- Kluge
- … Enver Hoxha …
- Negt
- … und China. Das ist das eine Spektrum, das das erfasst. Das zweite Spektrum ist dann in der Tat, was du erwähnst, die Abspaltung terroristischer Guerilla-Organisationen, auch Identifikationen mit …
- Kluge
- Nur von denen, die nicht unter die Amnestie fallen. Zu dem Zeitpunkt, wo sie aus der Amnestie ausgeschlossen werden, sind sie in Bildungsprojekten tätig. Sie sind integriert in eine Arbeit der linken Szene …
- Negt
- Nicht alle. Nicht alle, aber es sind auch welche da in diesen Kollektiven. Die Brüche erfolgen ja bei einzelnen auch aus persönlichen … Persönlichkeitsbrüchen. Also Ulrike Meinhof war in diesen Kollektiven nie mit drin, war eine begabte Journalistin. Und nach wie vor weiß man nicht, wo der Bruch da liegt. Aber die Arbeitsprozesse, die legalen Arbeitsprozesse werden natürlich durch das Herausnehmen aus der Amnestie völlig gekappt.
- Text
- Beerdigung von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan Raspe auf dem Dornhalden-Friedhof im Herbst 1977
- Stimme Sprecher
- Wir haben zwar den Weg, den diese Genossen in ihrem Kampf eingeschlagen haben, nicht für richtig gehalten. Angesichts ihres Todes, und insbesondere der Todesumstände, tritt dies jedoch in den Hintergrund. Diese Verbundenheit wird bestehen bleiben.
- Kluge
- Das sind also alles Bewegungen, die schon mit praktischer Tätigkeit zu tun haben. Der Revolutionär im Beruf wird unterschieden vom Berufsrevolutionär.
- Negt
- Und das ist eine ganz klare Scheidungslinie. Da trennen sich auch Gruppen voneinander. Diese Berufsrevolutionäre, die praktisch Politik auch etwas abtrennen von den gesellschaftlichen Produktionsprozessen. Aber diejenigen, die jetzt anfangen, in Arbeitsfeldern zu arbeiten, im Industriebetrieb, in den Gewerkschaften, in den Schulen, die sind eben doch so stark in der Mehrzahl in dieser Bewegung, dass man sagen kann, da reichert sich die Protestbewegung auch an, und geht nicht einfach nur zugrunde. Das heißt, es ist ein großer Theorievorrat, der hier auch das bestimmt, was unter Sozialismus verstanden wird. Das ist ein demokratischer Sozialismus, ein antiautoritärer Sozialismus –
- Text
- Oskar Negt, Zeitkritiker
- Text
- Grundmotiv des Sozialismus / Die Zimmerwalder Linke
- Kluge
- – der sich entzündet an der Tatsache, dass die Regierungen, die den Weltkrieg auslösen 1914, nicht gehindert werden können. Das heißt, der Internationalismus hat versagt. Und das ist der eigentliche Impuls für die Russische Revolution, für alle Oppositionsbewegungen im Sozialismus, die ihn vorwärtstreiben.
- Negt
- Der Internationalismus der Arbeiterbewegung hat versagt. Und deshalb treffen sich also 1915/16 in der Schweiz in der sogenannten Zimmerwalder Linke die Leute noch einmal, um zu sehen: Was hat eigentlich zu diesem Krieg geführt, und was kann gemacht werden, damit es einen solchen Krieg nicht wieder gibt? Und sie wenden es nach unten, genauso wie nach 1970. Also sie sagen, ein befriedigendes System von Arbeit, nicht entfremdete Arbeit, Lösung sozialer Konflikte. Die Menschen müssen autonom werden. Das ist eigentlich Friedenszustand. Nicht nur die bloße Abwesenheit von Krieg ist Frieden, sondern Friedenszustand ist etwas Positives.
- Kluge
- Und jetzt gibt es hier in Frankfurt die Gruppe RK, Revolutionärer Kampf. Was ist das? Die gehen doch davon aus, dass man bei Opel sich in die Fabrik einschmuggelt und die Arbeiterklasse selbst in Bewegung bringt.
- Negt
- Das ist ein zunächst sehr gutwilliger Versuch, in die Gewerkschaften, in die Betriebe reinzukommen. Aber die Tatsache, dass das mit einem betrügerischen Unternehmen verknüpft ist, also dass man sich verschleiern muss, kann natürlich zu keinem wirklich guten Resultat führen. Die fliegen ja wieder raus. Die Gewerkschafter betrachten das mit Misstrauen, allenfalls unter Gesichtspunkten des Witzes. Aber nicht als eine ernsthafte Arbeit. Deshalb beschränken die sich auch auf das Verteilen von Flugblättern jeden Morgen. Also das sind diese Spontis, dieser Revolutionäre Kampf ist eine spontanistische, agierende Gruppe, die zunächst den Betrieb als Aktionsfeld sucht, und dann später sich viel stärker dem sogenannten Häuserkampf widmet.
- Kluge
- Aber zunächst einmal mit starker Diskussion, mit der Verfertigung von Manuskripten … jede Woche, jede halbe Woche eine ganz neue Planung. Und man kann nicht sagen, dass das nicht chancenreich gewesen wäre. Wenn man zehn Jahre an allen diesen Plänen gearbeitet hätte …
- Negt
- Man hätte eine sehr große Geduld haben müssen, aber das hatten diese Spontis eben eigentlich nicht. Es bestand auch in der verkürzten Zeit gerade, also die Provokation, die darin lag, was sie machten, sollte ja das System irgendwie anfällig machen. Und die Zeitraffung, in der sie handelten, glaube ich, war ein Element ihres Scheiterns.
- Kluge
- Jetzt gibt es 1973 eine Tendenz im Westend – also da wo die Universität liegt in Frankfurt, da wo die Studenten wohnten zum Teil – klassische Bürgerhäuser niederzureißen und da Neubauten zu errichten. Also die Bodenspekulation in Frankfurt hat zu diesem Zeitpunkt eine ganz besondere Speerspitze, und zwar genau auf die Wohnviertel, in denen die Studenten auch wohnen.
- Text
- Besetzte Häuser in Frankfurt Bockenheim
- Negt
- Und auch das ist zunächst einmal eine Verteidigungshaltung von Wohnraum. Und wenn man also das Gewaltklima sieht, in dem das passiert – wie hier also Häuser niedergerissen werden und Wohnraum auch zerstört wird, kann man sagen, auch das Ursprungsmotiv eines solchen Häuserkampfs, den es ja auch in Berlin gegeben hat und an anderen Orten, ist durchaus verknüpft mit einem Versuch, die Verhältnisse zu humanisieren in dieser Gesellschaft.
- Kluge
- Es hätte ja Kompromisse geben können.
- Negt
- Es hätte Kompromisse geben können, und zum Teil hat es ja Kompromisse hinterher gegeben, dass man das ein bisschen anders eingerichtet hat. Und zum Teil sind die Häuser abgerissen worden und zehn Jahre ist nichts gebaut worden.
- Kluge
- Also an der Bockenheimer Warte, Schumannstraße. Dieser große altbürgerliche Hauskomplex, der wird in einer Nachtaktion binnen 24 bis 48 Stunden niedergerissen. Es gibt dann noch eine Schlacht dort. Und anschließend bleibt diese Ruine zehn Jahre lang brach. Und mit Mühe wird nach zehn Jahren ein Konsortium gefunden, das dahin eine Bank baut.
- Negt
- Und ich meine, das ist bei dieser Verbindung von Politik und Moral, die sich herstellt in den 68er und 70er Jahren, eine ungeheure Provokation für alle Menschen, also junge Menschen, die aufgewacht sind und irgendwie die Gesellschaft auch umgestalten wollen und befriedigend machen wollen, ist das natürlich der gewaltsame Ausdruck des Kapitalprinzips, gegen das sie entsprechend auch rebellieren.
- Text
- Häuserräumung Schumannstraße/Bockenheimer Landstraße, Februar 1974
- Abrissunternehmer
- Wir werden jetzt also zuerst mal den vorderen Teil an der Bockenheimer Landstraße abnehmen. Das heißt, wir werden das Dachgeschoss und das obere Geschoss wegnehmen, damit vor allen Dingen keine Gefahr besteht, dass hier Fußgänger oder Passanten oder auch die Straßenbahn behindert wird. Wir haben die Aufgabe, bis heute abend 15, vielleicht auch 17 Uhr soweit zu sein, dass in der Bockenheimer Landstraße von uns aus gesehen wieder die Straßenbahn fahren kann. Es ist nicht ganz einfach dabei, denn wir haben hier bei der Bauweise verschiedene vorgegebene Giebelstücke, die nur oben leicht angebunden sind, und aus dem Grund nicht ganz einfach technisch abzunehmen sind. Als zweites werden wir dann in die Schumannstraße reingehen und werden dann in der Schumannstraße auch genauso verfahren wie in der Bockenheimer Landstraße, auch wiederum das Dachgeschoss und das zweite OG abnehmen und dann auch wieder mit einem zweiten Gerät, das hier nebendran steht, dann den ganzen Block umlegen. Ob es uns gelingen wird, bis heute abend alles wegzubekommen, bezweifle ich aufgrund der Masse. Das sind immerhin 30.000 Kubikmeter, die wir heute hier in Angriff genommen haben, und die wir also unbewohnbar, beziehungsweise versuchen wollen sogar umzulegen, damit also heute abend nur noch hier ein Trümmerhaufen ist.
- Text
- Abrissunternehmer
- Text
- Wenn Ihr keine Irrtümer begeht, woraus wollt Ihr lernen? / Vademecum für Manager von Dirk Baecker
- Kluge
- In den Managerhandbüchern steht: Man muss Irrtümer zulassen. Man muss Irrtümer begehen. Wenn ihr keine Irrtümer begeht, woraus wollt ihr lernen? Das ist ein in der Ökonomie bewährter Lehrsatz. Wie geht es politisch? Darf man da irren? Darf man vor 25 Jahren geirrt haben?
- Negt
- Also mit Sicherheit darf man geirrt haben. Irrtümer sind auch dazu da, verarbeitet zu werden. Und politische Lernprozesse sind etwas komplizierter als Lernprozesse bei Managern, weil die ein ganz klares zweckrationales Kriterium haben. Aber nur Fehler sind diskriminierbar, die Fehler bleiben. Fehler, die aufgearbeitet werden durch die eigene politische Biographie, sind auch ein Produktionsfaktor für eine Gesellschaft, ein sehr wichtiges Stabilitätselement für eine demokratische Gesellschaftsordnung. Insofern, an den Fehlern, an dem Vorwurf, einen Fehler gemacht zu haben, festzuhalten, bedeutet, dass man eine Biographie auf einen bestimmten Zustand, der das Lernen noch nicht in sich trägt, festnagelt. Und das ist ein inhumanes Verhalten.
- Text
- Joschka Fischer
- Kluge
- Man fixiert einen Menschen in einer ganz fremden Zeit, die inzwischen völlig verändert ist.
- Negt
- Ja, und es wird gleichsam, das Lebewesen, der Mensch wird biologisiert. Also ob das so eine Art ewige Pubertät wäre …
- Kluge
- Einem Verdachtsmerkmal unterworfen. Das heißt, einmal Verbrecher, immer Verbrecher. Einmal Irrender, immer Irrender. Einmal leichtsinnig, immer leichtsinnig.
- Negt
- Wobei, ich meine, die ganze amerikanische Geschichte mit der Second Chance: Jeder Mensch hat eine zweite Chance, oder auch eine dritte Chance, ein sehr humanes Lernprinzip ist, das eigentlich jedem zusteht, auch dem Verbrecher, würde ich sagen.
- Kluge
- Wenn Vaterländer sich sehr schnell wandeln, Gemeinwesen implodieren. Wenn eine gesellschaftliche Landschaft sich sehr stark verändert, und dabei neue Menschen hinzutreten, wie zum Beispiel die neuen Bundesländer zur Bundesrepublik, entsteht ja eine ganz spezifische institutionelle Unwissenheit. Jemand in den Ostländern kann den Prozess, in dem das Grundgesetz in der Bundesrepublik zustande kam, so nicht empfunden haben. Er kann eine Protestbewegung von Mecklenburg aus gesehen nicht miterlebt haben, sondern nur vom Hörensagen kennen. Wie löst man das?
- Negt
- Also einmal löst man es durch eine intensive Bildung, die auch notwendig ist, auch politische Bildung ist notwendig, um ein solches Gefälle auszugleichen. Und zweitens ist natürlich notwendig, dass solche Menschen, die jetzt in einen anderen gesellschaftlichen Zusammenhang geraten, eine Menge zuhören müssen, und wahrnehmen und verarbeiten müssen.
- Kluge
- Nach beiden Seiten. Weil sozusagen Westdeutsche können nicht wirklich gelernt haben die Erfahrung der neuen Bundesländer. 40 Jahre Erfahrung sind ihnen entgangen. Und umgekehrt.
- Negt
- Und es wäre völlig arrogant, zu meinen, jetzt dieses Gefälle könnte dazu führen, dass man ihnen etwas mitteilt. Es sind Lernprozesse, an denen beide beteiligt sind. Aber es muss auch wirklich der Wille da sein, und der gute Wille, etwas dazuzulernen, und die Erfahrungsprozesse, die man nicht gemacht hat, wenigstens in Gedanken und in solch einem Lernvorgang nachzuholen.
- Kluge
- Und da, wo das Gemeinwesen einfach ein Unvermögen hat, etwas festzustellen. Oder das gemeinsame Lernen aussetzt der Bürger in einem Gemeinwesen, da muss so etwas, nicht wie Gnade, sondern wie Tabula Rasa, wie die Stunde Null, stattfinden. Es muss irgendwann mal das geschichtliche Wertependel, die Börse der Legitimation, da wieder auch auf Null gestellt werden. Aus diesem Grund. Und zwar nicht, weil man verzeiht, oder weil ein Verbrechen kein Verbrechen ist, oder ein Irrtum kein Irrtum ist, sondern weil es nicht feststellbar wäre.
- Negt
- Nicht feststellbar. Es ist in der Tat so etwas wie eine Unterbrechung. Alle Religionen, jedenfalls die christlichen Religionen, und ich glaube auch andere Hochreligionen, haben so etwas wie ein Aussetzen der Schuld. Und das gilt natürlich für Gesellschaftssysteme genauso. Man muss irgendwo aussetzen und neu anfangen können, was du als Tabula Rasa bezeichnet hast. Man muss das Material neu aufrauen können, und mit dem als Rohstoff neu arbeiten können.
- Kluge
- Das ist nicht irgendwie ein Gratiseffekt, sondern ist eine ganz wichtige Voraussetzung des Gemeinwesens. Und würde auch bedeuten, dass sich etwas Ungerechtes, was geschehen ist, dann, weil ich nicht mit dem Wort: Ich weiß es nicht …
- Text
- DIREKTE DEMOKRATIE / Oskar Negt über Studentischen Protest 1967-1969