Im Dschungel der Kriegsgründe
Transkript: Im Dschungel der Kriegsgründe
- Text
- Warum sind Präventiv-Kriege rasch zu gewinnen, aber so schwer zu beenden? / Welche praktischen Erfahrungen können wir aus dem Irak-Krieg von heute oder den Kriegen Athens von vor mehr als 2000 Jahren gewinnen? / Oskar Negt arbeitet an einem Buch über die QUELLEN DER POLITISCHEN URTEILSKRAFT –
- Text
- IM DSCHUNGEL DER KRIEGSGRÜNDE / Oskar Negt über die QUELLEN der POLITISCHEN URTEILSKRAFT
- Alexander Kluge
- Kritik der politischen Urteilskraft. Oder Quellen der politischen Urteilskraft.
Was ist politische Urteilskraft? Das ist ja ein Kantischer Begriff.
- Oskar Negt
- Ja, es ist ein Kantischer Begriff. Also er spricht von der ästhetischen Urteilskraft. Also Urteilskraft ist die Kraft, die Besonderes und Allgemeines miteinander angemessen verknüpft. So kann man es vielleicht sagen.
- Kluge
- Also eine Masse von Unterscheidungsvermögen. Und das ist, weil es motiviert ist, Unterscheidungsvermögen. Deswegen hat es Kraft.
- Negt
- Also Urteilskraft trennt das, was nicht zusammengehört, und führt zusammen, was eben zusammengehörig ist. Das heißt, also das Unterscheidungsvermögen bei der Urteilskraft ist das Entscheidende.
- Kluge
- Also nicht alle politischen Urteile, also ob Renten so oder so gemacht werden sollen, würden hier dieser Kritik unterliegen. Sondern wenn die Politik sich mit etwas beschäftigt, was unwesentlich ist, dann ist es egal, wie sorgfältig sie das tut. Das sind eigentlich wesentliche primäre Entscheidungen des Gemeinwesens, die in die Öffentlichkeit gehören.
- Negt
- Ja. Und das unterscheidet eben politische Urteilskraft von allgemeiner Urteilskraft, zum Beispiel philosophisches, logisches Urteilsvermögen …
- Text
- Oskar Negt, Kritische Theorie
- Kluge
- Also Urteilskraft, die sich auf das Gemeinwesen bezieht. Was gehört in die Öffentlichkeit? Was gehört ins Gemeinwesen? Was sind die wesentlichen Entscheidungen einer bestimmten Zeit?
- Negt
- Ja.
- Text
- Krieg als Testfall der POLITISCHEN URTEILSKRAFT
- Kluge
- Jetzt, Präventivkrieg ist ja ein Phänomen, das wiedergekehrt ist. 1914, das ist ja von allen Mächten aus gesehen mehr oder minder ein Präventivkrieg.
- Negt
- Ja, und die alten Kabinettskriege sind natürlich sowieso nicht besonders begründet, ob der Gegner also etwas im Auge hat oder nicht, sondern aus Machtinteressen.
- Kluge
- Wenn in fünf Jahren die Situation noch schlechter ist, lieber jetzt ein Ende mit Schrecken: Krieg. Und das ist eigentlich ein Rezept, was immer und zu jedem Zeitpunkt eine falsche politische Entscheidung garantiert.
- Negt
- Weil die Kriegsgründe imaginär sind häufig. Man nimmt etwas voraus, was sich so noch nicht in der Wirklichkeit entwickelt hat. Man konstruiert Feindpositionen, die sich noch nicht hergestellt haben. Das heißt also, sehr viel von Fantasie ist im Spiel bei solcher Begründung von Präventivkriegen.
- Kluge
- Und das führt dazu, dass ein Präventivkrieg, der erfahrungsgemäß schwerer zu beenden ist - ausgelöst ist er schnell. In der Durchführung unterscheidet er sich zunächst nicht. Aber es zeigt sich, dass er nicht zu beenden geht.
- Negt
- Nicht zu beenden geht, weil die Kriegsziele nicht eindeutig sind. Das gilt im Übrigen genauso auch für die großen zerstörerischen Kriege, wie der Peloponnesische Krieg. Da ist es in
- der Tat so gewesen, dass Athen sagte, also Perikles sagte
- Die Feinde um Sparta werden uns eines Tages angreifen. Die werden uns angreifen.
- Kluge
- Besser wir greifen sie jetzt an, und verschwören uns zu einem Krieg.
- Text
- Über das phantasiereiche ERFINDEN von Kriegsgründen
- Negt
- Ich habe, als ich Thukydides las über den Peloponnesischen Krieg, mir Gedanken darüber gemacht, wieviel Energie darauf verwendet wird, Kriegsgründe ausfindig zu machen, und wie schnell aus kleinen Anlässen große Zusammenbrüche, -stöße, Karambolagen entstehen. Zum Beispiel in dem Peloponnesischen Krieg, das fängt mit Kerkyra an, einer kleinen Stadt, einer Pflanzstadt von Korinth, die wiederum eine andere Pflanzstadt hergestellt hat. Pflanzstädte, das bedeutete also sehr viel damals, Kolonien mit ganz bestimmten sittlichen Beziehungen auch. Also die Gesandten einer Stadt mussten besonders empfangen werden, im Tempel wurde gebetet und so weiter. Und dieses Kerkyra hat eine andere Pflanzstadt geschaffen, Epidamnos.
Epidamnos ist bedrängt worden von nicht-griechischen Stämmen und wollte jetzt von der Mutterstadt Hilfe haben, und schickte Gesandte, und die haben im Heratempel gebetet, und
Kerkyra verweigerte diese Hilfe. Daraufhin hat sich diese Stadt an Athen gewandt und um Hilfe gebeten. Umgekehrt, Kerkyra ist zum Orakel nach Delphi gegangen und
hat die Auskunft bekommen, sich an Korinth zu wenden. Das war die Mutterstadt. Kerkyra ist aber sehr mächtig geworden und hatte praktisch eine genauso große Flotte aufgebaut wie Korinth und konkurrierte damit, und behandelte Korinth nicht mehr mit dem nötigen
Respekt. Kerkyra hat aber nie Bündnisse gehabt in dieser Zeit, sondern hat jetzt sich an Athen gewandt. Und Athen schickte eine kleine Flotte. Und so wird allmählich … entsteht ein Geflecht von sehr merkwürdigen Demütigungen und Rivalitäten zwischen den Städten und den Bündnissen.
- Kluge
- Jeder kann nicht mehr zurück. Jeder Schritt, der weiter gegangen wird …
- Negt
- Jeder hat Gesicht zu verlieren, was damals also in dieser antiken Welt eine große Rolle spielte. Und allmählich tritt das auf, was Carl Schmitt also in seinem Begriff des Politischen so definiert: Er unterscheidet ja zwischen dem öffentlichen Feind, den man nicht hassen muss, also dem Hostis, nicht, der Hostis ist der öffentliche Feind, und dem Inimicus, das ist der persönliche Feind. Er sagt, der persönliche Feind hat eigentlich beim öffentlichen Feind nichts zu suchen. Und im Griechischen ist auch der Unterschied zwischen Polemios und Echthros. Nicht, Polemios ist der öffentliche Feind. Und allmählich, in diesem Zusammenhang vermischen sich öffentlicher Feind und persönlicher Feind.
- Kluge
- Das heißt, Hass in die Politik.
- Negt
- Hass in die Politik, und Rechnungen werden beglichen. Demütigungen finden statt, beider Handelnden.
- Kluge
- Und das zunächst bei den Verbündeten. Und dann zwischen den Großmächten Sparta und Athen, die hineingezogen werden, weil zum Beispiel: Tapferkeit vor dem Freund, sagt man. Ich muss eigentlich den Verbündeten widersprechen können.
- Negt
- Das ist richtig. Und es ist zunächst in der Tat so, dass die beiden Zentralmächte Sparta und Athen noch keine große Rolle spielen. Sondern es spielt sich eigentlich symbolisch sehr viel ab zwischen den einzelnen Bündnispartnern, zwischen den einzelnen Städten, was dann zu diesem fürchterlichen Krieg führt, der …
- Kluge
- So wie heute zwischen Taiwan und China Konflikte entstehen können, die plötzlich China und die USA konfrontieren.
- Text
- Gründe für den dreißigjährigen Krieg zwischen Sparta und Athen
- Negt
- Und ich meine, was ich da bezeichne als fantasiereiches Produzieren von Kriegsgründen besteht eigentlich darin, dass man große Mühe darauf verwendet, bei diesen Gesandtschaften immer dem anderen Rechtsbruch vorzuwerfen. Das heißt, der ganze Peloponnesische Krieg besteht eigentlich darin, dass jede Aggression, jeder Überfall, jede Zerstörung von Städten und ein gewaltiges Maß – das ist der erste wirkliche Bürgerkrieg also in der griechischen antiken Welt – begründet wird mit Rechtsbrüchen.
- Kluge
- Aber die Moralität ist hier ganz falsch angewendet. Sie wird angewendet, um Kriegsgründe zu entwickeln und zu Propaganda zu machen.
- Text
- Oskar Negt, Kritische Theorie
- Negt
- Und die Unzuverlässigkeit und Vertragsbrüche …
- Kluge
- Während Moralität als Hemmschwelle für den Krieg, um Produktivität an die Stelle von Kriegshandlungen zu setzen – da wird die Moral nicht ausgeübt.
- Negt
- Und zustande kommt dieser Krieg, das sagt Thukydides also sehr eindeutig: der eigentliche Kriegsgrund ist die Rivalität also der Großmächte Sparta und Athen, und weil man glaubte, Athen rüstet immer weiter und baut die lange Mauer also zum Piräus, das heißt, baut also die Flotte aus.
- Kluge
- Macht sich unangreifbar.
- Negt
- Praktisch unangreifbar und hat eine solche Dominanz, dass die tributpflichtigen
Bundesgenossen ausgeblutet werden. Das ist auch, diese Bündnisfrage spielt dann auch eine ganz große Rolle. Die Bündnispartner werden schlecht behandelt von Athen. Die müssen sehr viel zahlen. Und allmählich wird dann auch die Bundeskasse aus Delos nach Athen gebracht, und das Geld wird verwendet für die großen Prunkbauten, nicht für die Verteidigung.
- Kluge
- Der eigentliche Krieg besteht zwischen Athen und seinen eigenen Verbündeten. Ausgeübt wird es durch einen Krieg Athen gegen Sparta.
- Text
- Athen
- Negt
- Und wenn man jetzt in dem Zusammenhang also dieser Beschäftigung mit den Kriegsgründen noch einmal die cäsarischen Eroberungen ansieht, so findet man bei Cäsar in seinem Buch über den Krieg in Gallien und auch im Bürgerkrieg eigentlich dieselbe fantasiereiche Produktion von Kriegsgründen. Er hat praktisch ganz Gallien erobert mit der Begründung, sich zu verteidigen. Das römische Reich zu verteidigen.
- Text
- Cäsar
- Kluge
- Er greift England an aus Verteidigungsgründen. Die Germanen greift er an. Aus Verteidigungsgründen.
- Negt
- Und immer wieder mit der Begründung, Vercingetorix und andere verletzen die Bündnis-, die Vertragspflichten, und stützt einzelne Stämme gegen andere auch aus solchen Vertragsbruchsgründen.
- Kluge
- Wenn man etwas nicht aushält als Mensch, dann gibt es ja eine Allergiebildung. So müsste man eine geistige Allergie haben, wenn diese Phänomene kommen. Fantasieanwendung beim Erfinden von Kriegsgründen.
- Negt
- So ist es. So eine Art Idiosynkrasie, also eine Reaktionsbildung, die immer Misstrauen weckt.
- Kluge
- Denn die ist immer falsch. Wir nährten das Herz mit Fantasien, die Kost versteinerte das Herz.
- Text
- “Wir nährten das Herz mit Phantasien / die Kost versteinerte das Herz.”
- Kluge
- Was ist der Grund, dass Präventivkriege, zu denen ja auch der Dreißigjährige Krieg gehört, der auch nicht zu beenden ist. Nach 30 Jahren ist er sozusagen in
sich zusammengebrochen. Die Menschen können einfach nicht mehr. Alle Kriegsziele sind einmal zerstört worden, und jetzt gibt es den Westfälischen Frieden, der eigentlich sowas wie ein Insolvenzverfahren ist. Ein Bankrott des Kriegs. Was ist eigentlich Krieg? Ist ja kein Produktionsprozess.
- Text
- Was ist KRIEG?
- Negt
- Nein, kein Produktionsprozess. Krieg ist eigentlich der Versuch, eine …
- Kluge
- … eine atavistische Gewalt noch einmal herzustellen. Grenzenlosigkeit noch einmal herzustellen.
- Negt
- Ja. Die Macht des anderen zu bannen, ihn botmäßig zu machen, und natürlich immer irgendwelche Kriegsziele, die mit Beute zu tun haben, damit zu verbinden. Es ist ein Gewaltakt jedenfalls. Ein Gewaltakt.
- Kluge
- Und der dem Gegner den Willen nehmen soll. Und dann wäre der Gegenpol von Krieg eigentlich die Herstellung des Willens des anderen.
- Negt
- So definiert es ja Clausewitz. Frieden ist nicht die bloße Abwesenheit des Krieges, sondern die Wiederherstellung der Autonomie des Willens des Kriegsgegners. Und da, in diesem Punkt beginnt dann der eigentliche Produktionsprozess. Das ist also …
- Text
- CARL VON CLAUSEWITZ
- Kluge
- Man hat jetzt sozusagen im Irak einen Präventivkrieg gewonnen, oder zunächst einmal durchgeführt. Und gewinnen kann man ihn nicht, weil man nicht weiß, wie kann man jetzt Frieden herstellen. Wie kann man den Willen dieses zusammengebrochenen Staatswesens, der ja nun stillgestellter Bürgerkrieg ist zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden. Wie kann man das wiederherstellen? Und das weiß man nicht.
- Text
- Nationbuilding als Mittel zur Beendigung des Krieges
- Negt
- Das weiß man nicht. Vor allen Dingen, weil auch die kulturellen Grundlagen einer solchen Wiederherstellung der Autonomie schwierig sind, weil es diese Autonomie so vorher auch nicht gegeben hat. Das unterscheidet eben den Präventivkrieg Irak zu der Situation von ‘45 in Deutschland, wo es gleichsam eine politische Kultur gegeben hat, Öffentlichkeit gegeben hat. Da kann man von einer Reeducation, von einer Wiederherstellung der Autonomie sprechen, unterstützt noch durch materielle Mittel des Marshallplans. Aber hier geht es ja im Irak darum, so etwas wie eine Nationenbildung überhaupt erst zustande zu bringen.
- Kluge
- Was 1923 noch gar nicht gelungen war, als der Irak errichtet wurde.
- Kluge
- Was ist eigentlich an einem Präventivkrieg anders als an einem sonstigen Krieg?
- Negt
- Naja, ein Präventivkrieg …
- Kluge
- … wird aus künftigen Gründen - es hätte so eintreten können oder nicht eintreten können - geführt.
- Negt
- Und insofern ist das auch die Legitimität eines solchen Krieges. Das ist kein Verteidigungskrieg, wird aber häufig begründet als Verteidigungskrieg. Der Peloponnesische
Krieg ist immer als ein Krieg verstanden worden, in dem die jeweiligen Kräfte in Notwehr, einer dauernden Notwehrsituation … Und das ist natürlich das Fiktive, Gespenstische an diesen
Kriegsgründen. Trägt mit dazu bei, dass eben die Kriegsziele unterwegs verloren gehen, weil man ja ohnehin sich immer nur wehrt gegen den andern. Das heißt also, das Imaginäre, das
Gespensterhafte nimmt überhand, sodass der Realitätssinn auch verkümmert in Bezug auf Beendigung des Krieges. Es ist bei diesen Präventivkriegen kein richtiges Ende zu sehen, was wir ja jetzt also im Irak sehen. Der Krieg wird mit anderen Mitteln fortgesetzt, und zwar nicht mit politischen Mitteln, sondern mit Privatkriegsmitteln, die in diesen Terroraktionen sich niederschlagen. Es gibt ja sozusagen drei Beobachtungen, die Clausewitz macht am Krieg. Zunächst einmal träumt der Krieg von seiner absoluten Gewalt, sagt er. Einerseits, er kennt keine Grenzen im Einsatz der Mittel. Zweitens, der Gegner zwingt sozusagen mir die Mittel auf, auch die Verschärfung, die Steigerung des Kriegs. Und drittens werden alle Munition, die überhaupt da ist, und alle Willenskräfte insgesamt eingesetzt. Und dem steht etwas gegenüber, nämlich die realen Verhältnisse. Die wirken dämpfend.
- Text
- “Der Krieg träumt von seiner absoluten Gewalt” Clausewitz
- Negt
- Die wirken dämpfend und die durchkreuzen vor allen Dingen also solche Machtfantasien, weil im Grunde die einzelnen Schritte, also die Zweckrationalität da verloren geht. Also dass die Mittelverwendung für bestimmte Zwecke begrenzt ist.
- Kluge
- Soldaten verirren sich. Die Landschaft passt nicht an den Krieg. Die Sümpfe bleiben offen.
- Negt
- Winterwetter und alle diese Dinge, mit denen ja eben die großen Kriege auch zu tun haben, nicht nur Napoleon und Hitler in Russland, durchkreuzen völlig diese intentionalen Fantasien.
- Kluge
- Und so kommt die absolute Gewalt des Krieges wieder zurück in die Wahrscheinlichkeiten und die realen Verhältnisse, und dies kann Kriege, wenn es aufeinander passt, beenden.
- Negt
- Ja. Durch Erschöpfung, durch dass die Menschen nicht mehr können. Und das gilt im Übrigen für den Peloponnesischen Krieg genauso wie für den Dreißigjährigen Krieg. Es ist auch bezeichnend, dass zum Beispiel Schiller in seiner Beschreibung des Dreißigjährigen Krieges sagt: Über das Ende des Krieges kann ich nichts sagen. Es ist nicht zu sagen, das ist …
- Text
- Schiller
- Kluge
- Er bricht zusammen.
- Negt
- Er bricht zusammen, und die Verhandlungen des Westfälischen Friedens ziehen sich über Jahre hin. Auch das ist kein richtiges Resultat, kein Kriegsende, nicht. Also insofern ist natürlich der Krieg, dieses Gewaltmedium außer Kontrolle der menschlichen Absichten und der
menschlichen Autonomie und setzt sich durch gegen alle Vernunft und allen Verstandesmut.
- Text
- Oskar Negt, Kritische Theorie
- Kluge
- Und diese Gegenwirkung der realen Verhältnisse gegen den Absolutheits- und Zerstörungswillen des Kriegs, das ist auseinander dividiert beim Präventivkrieg. Weil ich ja in
der Zukunft die Gründe suche, in denen ich jetzt einen Krieg provoziert habe. Und das läuft dann auseinander. Und das macht die Präventivkriege so gefährlich, weil die gedachte
Realität der Prävention nicht passt und nicht Gegenwirkung ausübt gegen die Gewaltsamkeit des Krieges. Ich habe dann immer eigentlich zwei Kriege, einen der Zukunft, den Krieg nach dem Krieg habe ich eigentlich im Präventivkrieg.
- Text
- Eingebildete Kriegsgründe können durch die Realität nicht widerlegt werden - -
- Negt
- Naja, das zeigt sich ja im Ersten Weltkrieg. Flottenaufrüstungen, und das sind ja alles nur erstmal Potenziale, oder die wachsende Macht eines Staates oder die Verfügung über Rohstoffquellen, oder das Unterbrechen von Rohstofflieferungen … alles dieses sind Dinge, die natürlich einen Präventivschlag, wenn man das verlängert in die Realität, begründbar machen. Aber dadurch wird natürlich das Ganze eigentlich zu einer Fiktion, in der Gewalttätigkeit sich zerfasert und privatisiert. Ich glaube, dass solche Präventivkriege häufig so etwas wie die Privatisierung von Gewalt zur Folge haben. Und das ist eben diese Frage, was also Krieg überhaupt produziert. Wenn überhaupt, kann er nur Rahmenbedingungen verändern, und die
eigentlichen Produktionsprozesse gewaltfreier Art sind. Wenn diese Produktionsprozesse nicht einsetzen, bleibt Kriegspotenzial in einer Gesellschaft erhalten.
- Text
- Deformierter Krieg / Privatisierung von Gewalt
- Kluge
- Dann bleibt man im Krieg hängen.
- Negt
- Man bleibt im Krieg hängen, und eines Tages kann aus diesen Gewaltpotenzialen wieder so etwas wie Krieg kommen. Das ist eigentlich die Lehre des 20. Jahrhunderts.
- Kluge
- Und von 400 Jahren ist die Lehre, dass eine Großmacht eigentlich ihre Autorität nur daraus
bezieht, dass sie keine Kriege macht. Dass sie das Gewaltmonopol nach innen, und
die nicht-kriegerische Auseinandersetzung nach außen verlagert.
- Negt
- Naja, das bezeichnet man ja eben mit dieser pax romana oder pax americana. Das hatte ja Cäsar zum Beispiel auch im Auge, die rebellischen Stämme zu pazifizieren, damit dann so etwas wie eine pax romana entsteht. Es ist natürlich auch eine Allmachtstäuschung eines solchen Weltmachtzentrum.
- Kluge
- Das ist ja einer der größten Propagandisten und Lügner in dieser Hinsicht. Er hat ja mehrere Präventivkriege vom Zaun gebrochen.
- Negt
- Er hat praktisch nur Päventivkriege geführt und hat dabei ganz Europa erobert.
- Kluge
- Immer aus Notwendigkeit.
- Negt
- Immer als Verteidigungskrieg.
- Kluge
- Eigentlich hat er den Bürgerkrieg damit eigentlich gespeist.
- Negt
- Ja, daraus entsteht der Bürgerkrieg. Also insofern verschieben sich die Gewaltpotenziale glaube ich. Durch diese fantasiereiche Erfindung von Kriegsgründen, die immer zur Prävention führen, wird die innergesellschaftliche Gewalt nicht pazifiziert und wird verarbeitet, und in Energien für Produktionsprozesse überführt, sondern die Gewaltpotenziale werden von einem Punkt zum anderen verschoben. Und am Ende entsteht so etwas wie eine Spaltung der Gesellschaft wie in Rom zur Zeit Cäsars der Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg ist das Ergebnis einer solchen Welteroberung, die auf Prävention beruht.
- Text
- Quellen der politischen Urteilskraft / Ihre Überprüfung in der Intimität
- Kluge
- Was sind das jetzt für Quellen? Eine Quelle ist geschichtliche Erfahrung über 2500
Jahre hin. Das wäre vom Peloponnesischen Krieg bis heute.
- Negt
- Zu lernen. Also das auch aufzunehmen, kann man vergleichen, das ist eine Art Analogiebildung, aber die halte ich für sehr wichtig, weil damit das historische Gedächtnis auch in die Gegenwart einbezogen ist und in die Bildungsprozesse der Gegenwart.
- Kluge
- Und eine zweite wären die intimen Prüfungen: love politics, also in den Intimbereichen, wo es Scheidung gibt, wo es Hass gibt, wo es Liebe gibt.
- Negt
- Ja. Die Privatverhältnisse, ja.
- Kluge
- Da gibt es ja genau dieselben Kriege, und da kann ich überprüfen an der eigenen Lebenserfahrung: wann ist das präventiv? Wann ist das friedensschließend? Wann ist es produktiv?
- Negt
- Also es geht eigentlich bei dieser politischen Urteilskraft immer darum festzustellen, wo sich Gewaltverhältnisse bilden und wo sie überwunden werden können. Und durch welche Mittel und in welchen Medien sie überwunden werden können, das spielt eine zentrale Rolle für politische Urteilskraft. Und eine dritte Quelle besteht zweifellos in dem, was Freud eben die Gewissensbildung nennt.
- Kluge
- Was ist das?
- Negt
- Eine Gewissensbildung, die Syneidesis. Im Griechischen heißt es Syneidesis. Das
heißt, die Griechen und Römer sind davon ausgegangen, dass bei jeder Entscheidung oder Nicht-Entscheidung des Menschen eigentlich einer immer zusieht, ein dritter da ist. Syneidesis heißt “zusammen sehen.”
- Kluge
- Wer ist der dritte, der zuschaut?
- Negt
- Naja, ich meine, nachher im Christentum ist es Gott. Aber die Griechen haben die Vorstellung, dass einer dieser Götter mit beteiligt ist.
- Kluge
- Athene, Zeus, Hera, irgendeiner, Neptun …
- Negt
- Egal. Und Conscientia, “mit wissen” - also der lateinische Begriff eben für Gewissen ist eben auch das Mitwissen. Also das heißt, es ist immer eine Instanz da.
- Text
- CONSIENTIA = Das Gewissen
- Kluge
- Eine Beobachterinstanz. Und das bin ich nie selber.
- Negt
- Meine Entscheidung liegt nie nur bei mir.
- Kluge
- Mindestens die Eltern sehen mir zu. Mindestens meine Kinder sehen zu. Mindestens diejenigen, die meine Opfer sind, muss ich wahrnehmen können.
- Negt
- Insofern ist das eine Quelle auch von politischer Urteilskraft. Von Urteilskraft, aber auch politischer Urteilskraft, eine solche Form der Gewissensbildung. Und wo sie ausfällt, fällt eben auch die Instanz aus, die mir sagt das, wovon Sokrates immer spricht. Der sagt also, dieses Daimonion, das in mir ist, sagt mir nicht, was ich tun soll; sagt mir nur, was ich unterlassen muss. Was ich tun soll, das muss ich selber finden. Aber was ich unter keinen Umständen tun darf …
- Kluge
- … das sagt der Chor des Gemeinwesens, der Chor meiner Vertrauensleute.
- Negt
- Der Chor ist eine Instanz.
- Text
- Oskar Negt, Kritische Theorie
- Kluge
- Wenn ich die nicht habe als einsamer Mensch, als Mensch, der glaubt, auf seine eigene Macht vertrauen zu können.
- Negt
- Ja, und das ist auch die Funktion des Chors in der griechischen Tragödie, ist immer: Das Gemeinwesen spricht. Warnt. Und fürchtet sich, drückt Angst aus, und da ist eine solche Instanz, die dann beim modernen Menschen eher nach innen geht in diese Gewissensbildung. Das wäre eine dritte originelle Quelle von politischer Urteilskraft.
- Kluge
- Wenn die Jeanne d’Arc Stimmen hört in sich: Du sollst jetzt mit Krieg das Vaterland von den Engländern befreien - ist das so eine Conscientia? Ist das ein Gewissen?
- Negt
- Das ist schwer zu sagen. Also ich glaube, wenn ich die Tradition von Sokrates aufnehme, würde er sagen, alles, was auf Gewalt geht, ist nicht gewissenhaft. Ist zerstörerisch. Aber alles, was auf Aufklärung geht, oder anders ausgedrückt, was auf Beseitigung von Unwahrheit und Unmündigkeit geht, das entspricht dem, was Gewissen ist. Nicht, also die Beseitigung von Lüge, also für Sokrates. Der Sokrates sagt ja nicht, was richtig ist, sondern enthüllt, was falsch ist, was Lüge ist, was Betrug ist.
- Text
- SOKRATES
- Kluge
- Wenn man jetzt zum Beispiel so etwas nimmt wie im Irak, da hat man eine Besatzungsmacht, und man hat Einwohner. Wie kann man so etwas auf dieses Verhältnis anwenden? Politische Urteilskraft zunächst mal auf der Seite der Besatzer.
- Negt
- Naja, ich meine, die Tatsache, dass also hier ein Krieg geführt wird, der eigentlich keine wirkliche Resonanz also bei der Bevölkerung oder jedenfalls nicht eine einhellige Resonanz bei der Bevölkerung gefunden hat, setzt schon eine Art Anfangsunrecht der Besatzungsmacht voraus, die sich ja selber nur als Befreier verstanden haben, aber nicht von denjenigen, die sie befreien wollten, als Befreier angesehen wurden.
- Kluge
- Wie kann jetzt Urteilskraft ausgeübt werden? Sie können ja nicht weggehen, und sie können nicht da bleiben. Sie sitzen wie eine Fliege auf Leim. Sitzen also jetzt ohne Entscheidungsmöglichkeit da, während sie vor dem Präventivkrieg eine Entscheidungsmöglichkeit gehabt hätten.
- Text
- Drei Formen der Rede bei Aristoteles
- Negt
- Es gibt bei Aristoteles drei Formen der Rede. Das ist eine Rede, die sich auf Gerichtsprozesse bezieht. génos dikanikón nennt er das. Das heißt also, das sind Anwendungen von Gesetzen auf spezifische Fälle. Also immer geht es um Allgemeines und Besonderes bei ihm. Und das zweite ist die Prunkrede, die Lobrede, epideiktikón, und die dritte, das ist für ihn die eigentliche politische Rede, die nennt er génos symbouleutikón. Das ist die beratschlagende Rede. Er sagt, das ist die eigentliche politische Rede, weil in der wird über Krieg und Frieden entschieden, in dieser Redeform. Und die bezieht sich auf Erfahrungsgehalt, die sogenannten topoi. Also die nimmt eigentlich alles auf, was Menschen so mit Krieg und Frieden erfahren haben, und füllen eben diese Urteilskraft auf. Und ich glaube, diese Definition also, symbouleutikón, ratschlagende Rede, ist das organisierende Zentrum politischer Urteilskraft. Und da geht es um Kriegsverhältnisse.
- Kluge
- Symballein heißt eigentlich zusammenwerfen. Man fügt zusammen, was die einen wissen, was die anderen wissen. Also nicht nur die Stiftungen in Washington sprechen untereinander, die Administration im Weißen Haus spricht untereinander, sondern man spricht mit den Gegnern und so weiter.
- Negt
- Und das ist immer ein kollektiver Vorgang, das ist ein öffentlicher kollektiver Vorgang für Aristoteles. Und ich glaube, diese Frage, wie sich politische Urteilskraft bildet in Privatkriegsverhältnissen genauso wie im großen Krieg, bedeutet, dass Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen getroffen werden, die entweder Gewaltverhältnisse, Kriegsverhältnisse, verringern oder vergrößern. Und das gilt selbstverständlich auch im privaten Zusammenhang. Hannah Arendt hat da in “Eichmann in Jerusalem” ein schönes Bild gebraucht, beziehungsweise eine Geschichte erzählt, wo ein deutscher Soldat, der beauftragt ist,
verstreute Soldaten in Wäldern Polens aufzusammeln, und der dann trifft auf Juden, auf jüdische Partisanen, und ihnen hilft mit Pässen und zur Flucht verhilft. Und sie sagt, es ist nicht
- erkennbar, woher seine Hilfe kommt. Das mag sein, dass er in einer Familie aufgewachsen ist, in der ein waches Bewusstsein gegenüber dem Wohlergehen des Gemeinwesens ist, oder eine Gewissensbildung oder so weiter. Und sie sagt, aber er entwickelt politische Urteilsfähigkeit. Er ist auch einer derjenigen, der zum ersten Mal Eichmann als einen wichtigen Menschen dieser Judenvernichtung bezeichnet hat, was eben in diesem Eichmann-Prozess dann zum Ausdruck kommt. Das Resultat dieser Überlegungen ist
- Sie sagt, unter Druckverhältnissen, unter totalitären Verhältnissen macht man die Erfahrung, dass die Mehrheit der Menschen diesen
Verhältnissen entgegenkommt, aber nicht alle. Es sind wenige da, die Widerstand leisten
und selbst also ihr Leben riskieren, und ich muss die Frage stellen, woher kommt so etwas.
- Und das kann nur etwas zu tun haben mit einer solchen politischen Urteilsbildung, mit einer öffentlichen Vernunft, die geübt ist und sich betätigt auch in solchen Entscheidungen. Und das finde ich sehr interessant, dass ja gerade in der Zeit der Weimarer Republik eben viele Menschen gedacht haben
- Hätten wir doch über Krieg und Frieden 1913, 12, 14, anders entschieden. Vieles, was dann an Erwachsenenbildung zustande gekommen ist, auch an Schulexperimenten, ist mit der Überlegung verbunden, warum hat es diese Kriegsbegeisterung gegeben, obwohl doch viele Menschen sehen mussten, dass das ein ganz fürchterliches Gemetzel sein wird.
- Kluge
- Und das wiederholt sich 1928, 29 bis 31. Hier hätte man jetzt noch den Nationalsozialismus verhindern können. Man kann ihn 36, 37, 38 nicht mehr verhindern. Und insofern liegt jetzt hier die Abzweigung für eine politische Urteilskraft nie bloß in der Gegenwart. Sie liegt meist nicht mal in der nächstliegenden Zukunft. Sondern die Erfahrung …
- Negt
- Sie liegt sehr stark in der Vergangenheit und Aufarbeitung.
- Kluge
- Und da gibt es sozusagen den Punkt, der die Karambolage, die jetzt besteht, das Unglück, das jetzt eingetreten ist, vorherbestimmt hat. Und dieses Unglück war nie notwendig. Und das ist eigentlich die Betrachtungsweise der politischen Urteilskraft im Hinblick darauf, dass die nächste Krise gewiss kommt. Sie kann nicht die Irakfrage hier klären im letzten Moment. Aber die darauffolgende, nächste falsche Abzweigung, die könnte anders beurteilt werden.
- Negt
- So ist es. Und ich meine, das bedeutet für mich die Intensivierung dieser politischen Bildung im Sinne der Herstellung und Erweiterung politischer Urteilskraft. Die geschichtlichen Lernprozesse nicht als naturwüchsig nur zu nehmen. Irgendwo gibt es die auch.
- Text
- Politische Urteilskraft im asymmetrischen Krieg
- Kluge
- Und wenn man mal als Bild das nimmt. Hier haben wir den 11.9., und zwei Tage darauf ist die amerikanische Flotte von Pearl Harbor vor New York aufmarschiert. Das heißt, eine Geste aus dem Jahr 1941 stellt sich schützend vor die verletzte Stadt. Gleichzeitig weiß man doch aber, dass gegen Teppichmesser und Attentate, die übrigens nicht am zweiten Tag nach der Katastrophe eintreten werden, eine Flotte gar nichts nützt. Und hier passen also, das ist die Asymmetrie, das heißt die Waffen der öffentlichen Hand einer Großmacht passen nicht auf die Gefährdung. Und jetzt ist der politische Fehler, dass ich jetzt einen Feind mir suche, erst in Afghanistan, dann im Irak, der zu den Waffen, die ich einsetzen kann, passt. Und ich greife aber nicht den Feind an, der die Gefährdung ausgelöst hat. Und so entstehen Abstraktionen, man hat einen Feind besiegt, der aber nicht wirklich der Feind ist, der das verursacht hat, was am 11. September passiert ist.
- Kluge
- Und verhindern mit Mitteln der Kritik der politischen Urteilskraft könnte ich jetzt den nächsten Konflikt, der vielleicht mit China ausbricht wegen Taiwan oder wegen irgendeiner anderen Sache. Oder zwischen Pakistan und Indien mit Hilfe eines Verhaltens der Großmacht USA ausbrechen könnte. Da ist noch Offenheit für Kritik der politischen Urteilskraft.
- Negt
- Insofern ist es immer ein Fehler, jetzt die politische Bildung oder politische Urteilskraft auf den Einzelfall zu beschränken. Sondern es ist immer notwendig, gleichsam mit soziologischer Fantasie, mit politischer Fantasie auch Situationen vorauszunehmen, die Lernprozesse in Gang setzen, die sich auf Vergangenes beziehen. Also Aufarbeitung der Vergangenheit in diesem sehr weiten Sinne ist ein wesentliches Element der Bildung politischer Urteilskraft. Und gerade das Verdrängen dessen, was geschehen ist, und das Unbewusst-Lassen
dessen, was geschehen ist, ist gefährlich, ist bedrohlich, für die Bildung politischer Urteilskraft.
- Text
- Oskar Negt, Kritische Theorie
- Text
- “Politik ist die genaue Bestimmung des Feindes”
- Kluge
- Und anknüpfend an Clausewitz, was wir zu Anfang diskutierten,eigentlich zwei Fragen: Erstens die genaue Bestimmung des Feindes ist erst die zweite Frage. Sie muss gewissenhaft erfolgen, und wenn der Feind ungenau bestimmt ist, dann ist der Krieg bereits und der Friedensschluss verloren gegangen. Umgekehrt aber wäre es noch interessanter festzustellen, dass ich gar nicht den Feind, sondern den Ausweg, der den anderen nicht zu meinem Feind macht, herausfinde. Das ist hier jetzt unpraktisch, weil gegen die Terroristen kann ich ja so nicht vorgehen.
- Negt
- Aber es wäre gerade die Veränderung des Kriegs- oder Gewaltgeschehen … sagen wir nicht Kriegsgeschehen, weil es ja nur eine Metapher, wenn man sagt: der Krieg der Terroristen.
- Kluge
- Das sei ein Krieg.
- Negt
- Das sei ein Krieg. Das ist auch gefährlich, also diese Sprache aus dem territorialstaatlichen Zusammenhang zu übernehmen.
- Kluge
- Und jetzt haben wir das symballein, also eine Redeweise nach Aristoteles. Und wie brauchbar das ist, obwohl es doch so alt ist als Gedankengang, zeigt sich, wenn ich jetzt nicht davon spreche: hier, das ist eine Kriegserklärung gewesen am
- 11.9. Sondern wenn ich sage
- es gehört ein theatralisches Element dazu, um diesen Terror auszuüben.
Menschen, die unterdrückt
leiden in Bangladesch oder auch in Palästina, haben das ja nicht getan, sondern Stellvertreter, Menschen aus gutem Hause. Praktisch sozusagen ein Hamlet, der aus Wittenberg nach Dänemark kommt, und hier ist es ein Saudi, ein Sohn aus gutem Hause, der stellvertretend leidet, was eine theatralische Maßnahme ist. Der hat das Netzwerk gebaut aus lauter weiteren Leuten, die stellvertretend leiden, und nicht selbst Unterdrückte sind. Und nur in der Isolierung, in kleinen Zellen, quasi verschwörerisch und nichtöffentlich, können sie diesen Terror und diese Gruppenbildung überhaupt durchführen. Das heißt, das ist wichtig zu erkennen, dass das etwas Künstliches ist, und die selben Menschen würden wahrscheinlich in zehn Jahren so etwas gar nicht mehr seelisch fertigbringen.
- Negt
- Ja, oder ganz was anderes machen. Es sind zum Teil ja auch hoch gebildete Intellektuelle, die auch in anderen Berufen erfolgreich sein könnten; die nur jetzt eine Chance, sagen wir mal
einen Angstrohstoff oder einen Feindrohstoff aufraffen.
- Kluge
- Es gibt doch seit dem Attentat auf die Zaren, seit den russischen Anarchisten, eigentlich lauter Verschwörungen und Terrororganisationen, die alle sich, wenn sie nicht gefunden wurden, von sich aus aufgelöst haben.
- Negt
- Es sind natürlich … ein Unterschied besteht also zu solchen Attentaten schon. Die Attentäter selber versuchen zu entkommen lebend. Die Selbstmordattentate sind, dabei nicht zu entkommen.
- Kluge
- Das ist neu.
- Negt
- Das ist neu und natürlich viel gefährlicher für eine solche Terrorbekämpfung.
- Kluge
- Aber gerade dies ist durch Feinderklärung und Bedrohung mit dem Tod am wenigsten zu bekämpfen. So dass man jetzt sozusagen wieder auf die Suchbewegung geht. Wir
wissen nicht, das daimonium kann uns nicht sagen, welcher Weg Terror ausschließt. Aber was Terror
auf gar keinen Fall ausschließt und was nur uns selbst verletzt, das können wir sagen. Das ist die Methode der Kritik der politischen Urteilskraft.
- Text
- Wie wir uns selbst verletzen, das können wir wissen
- Negt
- Ja. Urteilsfähigkeit bedeutet auch immer, dass die Menschen ihre Kräfte, über die sie verfügen, so einsetzen, dass sie ihre Konflikte und selbst ihre kriegerischen Absichten gegenüber anderen äußern öffentlich, aber doch in einem Kommunikationsprozess mit anderen sich verständigen können. So hat im Übrigen Kant das auch verstanden in seinem Vorschlag eines Völkerbundes. Er hat ja die föderative Struktur, im Übrigen der Begriff Völkerbund kommt von Kant, dass er sagt: Ich kann den Krieg nicht beseitigen.
- Kluge
- Der ist der Menschheit aufgepfropft worden. Nicht dem einzelnen Menschen, der einzelne Mensch taugt für den Krieg gar nicht langfristig. Aber die Menschheit hat bis jetzt noch nicht den Weg gefunden.
- Negt
- Also das heißt, die Natur, die Anfälligkeit der Menschen für den Krieg ist sehr groß. Das kann ich nicht ausschließen. Aber gerade deshalb ist es notwendig, dass wir Friedenswege …
- Text
- IM DSCHUNGEL DER KRIEGSGRÜNDE / Oskar Negt über die QUELLEN DER POLITISCHEN URTEILSKRAFT