Das Geheimnis des Immanuel Kant
Transkript: Das Geheimnis des Immanuel Kant
- Text
- Menschen leben und denken in drei verschiedenen Wirklichkeiten: In der WELT DER ERSCHEINUNGEN, in der INTELLIGIBLEN WELT und sie bereiten sich vor auf ein REICH DER FREIHEIT / Das ist der Kern von Immanuel Kants Philosophie / Oskar Negt, Sozialforscher und Philosoph, berichtet - -
- Text
- DAS GEHEIMNIS DES IMMANUEL KANT / Oskar Negt zum 200. Todesjahrs des “ALLESZERMALMERS”
- Alexander Kluge
- Bei Kant gibt es, hast du mir gestern erzählt, eigentlich drei Wirklichkeiten. Das ist das Geheimnis von Immanuel Kant. Es gibt nicht eine. Wie heißen diese drei Wirklichkeiten, mit denen er umgeht?
- Oskar Negt
- Also ich bezeichne sie einmal als eine Wirklichkeit, in der Ursache und Wirkung, Kausalitäten herrschen. Da wird etwas verursacht und hat eine nachprüfbare Wirkung.
- Kluge
- Das ist so im Krieg, das ist so in den Naturwissenschaften, weil die Sterne aufeinanderstoßen. Der gestirnte Himmel ist in diesem Sinne kausal.
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- Oskar Negt, Philosoph
- Negt
- Und das heißt, da ist der Mensch nicht frei. Diese Kausalverhältnisse kann man erkennen und sie verwenden. Aber nicht gestalten. Also da hat das Sollen, wie er sagt, also in der Naturwissenschaft hat das Sollen keinen Sinn.
- Text
- Xerxes, König der Perser ließ den Bosporus mit Ketten schlagen, weil die durch Sturm aufgepeitschten Wellen den Übergang der Perser störten
- Kluge
- Wer wie Xerxes den Bosporus mit Ketten schlägt, ist ein alberner Tyrann. Jetzt kommt die zweite Wirklichkeit, die ist sozusagen als Universum immanent. In diesem Wirklichkeitsuniversum 1 gibt es ein zweites.
- Negt
- Das zweite besteht eigentlich darin, dass es notwendig ist, dass es eine Grenze bezeichnet. Er hat verschiedene Ausdrucksformen für diesen zweiten Wirklichkeitsbereich, nämlich Ding an sich, also unabhängig von uns; Noumenon, Wesen gegenüber der Erscheinungswelt.
- Kluge
- Und was ist das?
- Negt
- Das können wir nicht erkennen, aber es bezeichnet die Grenze unserer Einflussmöglichkeiten auf die Welt.
- Kluge
- Aber es gibt eine zweite Welt, ein zweites Universum, in dem auch wir leben, integriert sind. Ist das die intelligible Welt?
- Negt
- Das ist die intelligible Welt. Und mundus intelligibilis, das ist eine sehr frühe Bestimmung bei Kant. Mundus sensibilis, die Welt …
- Kluge
- Das ist das, was wir mit den Nerven erfahren, was wir messen können. Was nach Meter und Zeit geht.
- Negt
- Und es liegt also in der sogenannten vorkritischen Zeit schon, hat er diese Unterscheidung. So. Die zweite. Und die dritte Wirklichkeitsebene, der Wirklichkeitsbereich ist eigentlich der Gestaltungsbereich der Menschen durch Moralität, dass er sich selber Gesetze geben kann und damit eine Welt sich aufbaut, die gesetzmäßig ist, die nicht willkürlich ist, aber die auf der Autonomie seiner Gesetzgebungskompetenz beruht, auf der Freiheitsfähigkeit.
- Kluge
- Und die ist nur möglich, weil die mundus intelligibilis, also die intelligible Welt, durch den Menschen durchströmt oder dass sie sich versteht, und gleichzeitig die reale Welt, die kausale Welt der Natur ebenfalls in ihm noch einmal wirkt. Und er trägt sie mit sich in sein Zelt.
- Negt
- Deshalb ist gegenüber dieser Welt, dieser Gesetzgebungswelt – das moralische Gesetz und der bestirnte Himmel über mir – bezeichnet also die Welt der Kausalitäten und das moralische Gesetz in mir als ein eigenes Reich. Er bezeichnet es auch als ein Reich der Freiheit. Aber wir können nicht dieses Reich der Freiheit beweisen, weil sobald wir in dieses Reich der Freiheit eindringen mit unseren Kategorien von Erkenntnis, müssen wir Sinnlichkeit und Verstand, Sinnlichkeit und Kategorien gleichzeitig haben. Das heißt, er weigert sich, in diese Welt ein sinnliches Element zu bringen, weil er damit befürchtet, dass wiederum ein Stück Autonomie vom Menschen weggenommen wird.
- Text
- Herkules trifft Prometheus
- Text
- Der bestrafte Prometheus
- Kluge
- Ein Stück Zukunft. Der Mensch muss erst noch gemacht werden. Es ist ein prometheischer Gedanke. Prometheus hat ja die Menschen quasi entwickelt. Und er hat nicht aufgepasst, sie wurden keine Gesetzgeber ihres Schicksals, sondern er betrog gemeinsam mit ihnen die Götter. Und auf den Opferstätten hat er immer alles, was essbar war, für die Menschen genommen, und all die Knochen, was unbrauchbar war, den Göttern geopfert. Und dieser Betrug wird bestraft. Und diesen Betrug will Kant um jeden Preis vermeiden.
- Negt
- Deshalb hält er eben eine bestimmte Ebene offen …
- Kluge
- …. für künftige Bautätigkeit.
- Negt
- … dass sie in die Autonomie der Menschen gehört, was wir nicht vollständig erkennen. Deshalb können wir nicht erkenntnismäßig erfassen, was Freiheit ist. Freiheit ist nur zu verteidigen. Und das Sittengesetz ist das Dokument, das fassbare Dokument, dass der Mensch freiheitsfähig ist.
- Kluge
- Quasi ein Gefäß. Es ist nicht der Inhalt schon, sondern das Verfahren, mit dem Menschen dieses Gefäß einmal werden füllen können. Humanisierung der Natur wäre am Ende dann der Umbau des ganzen Planeten nach menschlichen Maßstäben, die aber nicht die der kausalen Welt sind.
- Negt
- Die nicht die der kausalen Welt sind, sondern der moralische Hausbau der Vernunft, wenn man es so bezeichnen will, würde die Kausalitäten verwendbar machen für die Humanisierung der Welt.
- Kluge
- Und das fordert sehr starke zauberische Anleihen.
- Text
- Emmanuel Swedenborg, Geisterseher
- Negt
- Wobei er sehr vorsichtig ist also mit magischen Qualitäten. Es gibt ja die Auseinandersetzung mit Swedenborg, der jetzt die Sinnlichkeit in diese Welt schiebt und sagt: Also die Menschen erfahren doch die Toten, die sprechen mit den Toten. Und er sagt: Das ist Betrug. Sobald ich versuche, das erkenntnismäßig zu fassen, muss es experimentell beweisbar sein und muss die Sinnlichkeit intersubjektiv, das heißt von anderen nachprüfbar …
- Text
- Oskar Negt, Philosoph
- Kluge
- Er ist also gleichzeitig als Zollbeamter, als Grenzschützer zwischen der kausalen Welt und der intelligiblen Welt tätig. Da kommt nichts durch.
- Negt
- Deshalb sagt er auch, Ding an sich ist ein Grenzbegriff. Der ist absolut notwendig.
- Kluge
- Der gehört den Menschen nicht.
- Negt
- Weil wir sonst im Grunde nur in Kausalitätsverhältnissen leben und denken würden. Und das Sittengesetz, dass wir auch gegen Kausalität handeln können, ist ein Beweis dafür, dass es so etwas wie Freiheit gibt. Das ist also die Lösung der dritten Antinomie der “Kritik der reinen Vernunft”, wo er sagt: Es widerspricht sich nicht Kausalität und Freiheit, sondern der Mensch ist freiheitsfähig und gleichzeitig auch eingebunden in bestimmten sinnlichen Wahrnehmungen … er ist ja auch ein … er hat einen tierischen Teil in seiner Existenz.
- Kluge
- Und der gibt ihm aber keine Ratschläge in moralischer Perspektive. Er kann auch nicht rückwirkend lernen, dass in der Evolution etwas enthalten sein mag, was gut ging und sozusagen Auftrag der Vorfahren wäre. Das würde Kant nicht sagen.
- Negt
- Er würde sagen, die Natur hat uns ausgestattet mit einem Potenzial, mit einer Möglichkeit, mit einem Vermögen, einem Freiheitsvermögen.
- Kluge
- Und das möchte ich mal noch näher wissen. Also zum Beispiel in der Mathematik ist da ein Stück dieses Vermögens, ein Gefäß dafür enthalten …
- Negt
- Nein, das nicht. In der Mathematik … die Mathematik ist gleichsam ein Produkt menschlichen Erkenntnisvermögens, des Erkenntnisvermögens. Und das kann sehr weit gehen in der Erkenntnis und weniger weit, aber die Gesetzmäßigkeiten sind praktisch vorgegeben. Die Gesetzmäßigkeiten sind vorgegeben.
- Kluge
- Aber es ist es doch so, dass sozusagen im Kosmos offenkundig mathematische Regeln, ganz einfache elegante Formeln, die Einsteinsche, die er noch nicht kannte, als Beispiel, etwas sind, was jetzt auch dem menschlichen Verstand quasi selbsttätig zu verstehen möglich war. Nur aus den Kausalitäten, den Wirrnissen der sinnlichen Welt hätte man das ja gar nicht entwickeln können. Dafür ist also Mathematik viel zu komplex. Und geht er da nicht so weit, dass er sagt: Hier gibt es so ein paar solche Zeichen, dass wir gut geführt wurden durch die Evolution des Kosmos, von dem wir abstammen.
- Negt
- Also ganz gewiss. Aber wir sind auf der einen Seite also Bestandteil dieser Naturentwicklung mit der Ausnahme und dem Gegensatz zu allen anderen Naturereignissen, dass wir plötzlich also ausgestattet werden mit der Möglichkeit autonomer Gesetzgebung, was kein anderes Lebewesen, was auch die Natur nicht teilt.
- Kluge
- Wir können uns vertragen, wir können den anderen verstehen. Wir können mit dem Kopf des anderen denken, und dies ist jetzt eine zusätzliche Eigenschaft.
- Negt
- Das ist eine zusätzliche Eigenschaft, die allerdings …
- Kluge
- Das kann Gott nicht. Der versteht uns gar nicht.
- Negt
- Das weiß ich nicht.
- Kluge
- Kant würde es bezweifeln, und zwar ohne Naturwissenschaftler zu sein.
- Text
- Einfluß der GEISTERSEHER
- Negt
- Naja, ich meine die Geisterseher, das war für ihn ein Problem, weil dieser Swedenborg ja also großen Einfluss auf die Seelen und Köpfe der Menschen seiner Zeit hatte. Er klagte darüber, er hätte sich jetzt dieses teure Werk angeschafft und gelesen und verfluchte seinen Vorsatz, indem er sagte: Also so wenig Verstand hätte er nie vermutet in diesen 18 Bänden oder dies …
- Kluge
- Ist ja ein poetisches Machwerk.
- Negt
- Ein poetisches Machwerk mit Halluzinationen. Er hat ja sehr viel nachgedacht. Er ist ja selber etwas hypochondrisch gewesen. Also jedes Husten, und er ist ja ein Hypochonder gewesen, zum Beispiel …
- Kluge
- Er konnte philosophieren, wie man den Husten langsam unterdrückt bis zur vierten Nachtstunde. Da hat er Regeln aufgestellt.
- Negt
- Da hat er Regeln aufgestellt. Das Diätetische, das er da bezeichnet, also sagen wir mal, Lebensregeln: Wenn man spazieren geht, soll man nicht mit dem anderen reden, weil dann kalte Luft in die Lunge käme. Also so hypochondrische Elemente, die hat er schon.
- Kluge
- Aber das grenzt er ab. Das grenzt er ab. Da kann ein Arzt ihm einen Ratschlag geben, aber darauf kann man keine Philosophie gründen.
- Negt
- Da kann man keine Philosophie und keine Erkenntnisse gründen. Er hat ja einen sehr strikten Erkenntnisbegriff. Und der ist wirklich gebunden an die zwei Stämme der Erkenntnis. Der eine Stamm sind die Kategorien, also Verstand, und der zweite Stamm ist Sinnlichkeit. Nur wenn beides zusammenkommt, gibt es Erkenntnisse. Dagegen Spekulation oder so, also die Vermutung und so weiter ist alles bei Kant auch zulässig.
- Kluge
- Aber eben nur Vermutung.
- Negt
- Nur Vermutung. Es muss unter dem selben Namen erscheinen, wie es da auftritt.
- Kluge
- Und wenn du noch mal beschreibst: Er sagt ja, dass der Verstand was ganz anderes tut, als die sinnliche Erfahrung nur zu sortieren.
- Negt
- Naja, der Verstand gibt im Grunde ein bisschen der sinnlichen Erfahrung auch die Gesetze vor. Also ich schreibe der Natur die Gesetze vor. Das heißt, die Gesetze sind nicht einfach empirisch durch Erfahrung aus der Natur genommen.
- Kluge
- Solche Kategorien sind Raum, Zeit …
- Negt
- Raum, Zeit, Kausalität, Wechselwirkung, also zwölf solcher Kategorien, apriorische Kategorien.
- Kluge
- Und wenn ich diese Suchbegriffe nicht habe, dann kann ich mit der Sinnlichkeit nicht umgehen.
- Negt
- Dann ist sie diffus. Dann ist sie durcheinander und eignet sich nicht für Erkenntnis. Allerdings ist: Ich erzeuge diese Sinnlichkeit nicht. Da ist ein Element enthalten in der Erkenntnis, das vom Objekt ausgeht. Ich werde affiziert, sagt er, also berührt, angerührt durch die sinnliche Wahrnehmung.
- Kluge
- Es sind eigentlich die Häuser der Erkenntnis, die Wohnung der Erfahrung, die er wie ein solider Handwerker eigentlich in Ordnung hält, wie ein Baumeister auch, mit Zeichnungen versieht.
- Negt
- Ich meine, man muss sehen, er ist 1804 gestorben.
- Text
- DAS GEHEIMNIS DES IMMANUEL KANT / Oskar Negt zum 200. Todesjahrs des “ALLESZERMALMERS”