Was heißt Aufklärung?

Transkript: Was heißt Aufklärung?

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Im Advent 1783 schrieb Immanuel Kant seinen berühmten Aufsatz “WAS IST AUFKLÄRUNG?” / Was sind die Grundlagen eines solchen VERSUCHS DER VERNÜNFTIGEN EMANZIPATION, der so lange ein Projekt blieb und der doch, so Immanuel Kant, unaufhaltsam zu sein scheint / Oskar Negt, Soziologe und Philosoph, berichtet - -
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WAS HEISST AUFKLÄRUNG? Oskar Negt über Immanuel Kants berühmten Aufsatz vom Dezember 1783
Alexander Kluge
Am 5. Dezember 1783 erscheint in der Berlinischen Monatsschrift ein Artikel von Immanuel Kant: “Was ist Aufklärung? Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung.” Und er schreibt: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündig ist …?
Oskar Negt
Unmündigkeit würde bedeuten, dass der Mensch die Vermögen, die er hat, nicht nützt im Sinne dessen, was er eigentlich kann.
Kluge
… und sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Das kann er nicht, und selbstverschuldet, sagt er, ist es dann, wenn es an Mut und Entschlossenheit fehlt.
Negt
Mut und Entschlossenheit fehlt. Das heißt, er hat alle Möglichkeiten, es zu tun, und er nutzt es aber nicht, weil Gemütskräfte nicht ausreichend mobilisiert werden, diese Verstandestätigkeit als autonome Tätigkeit zu mobilisieren.
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Oskar Negt, Philosoph
Kluge
Wenn er nun unmündig ist, nicht selbst verschuldet, sondern unverschuldet - zum Beispiel er verirrt sich in seinen Gemütskräften, in einer Liebesbeziehung weiß er nicht weiter. Dann sucht er trotzdem den Ausgang aus der Unmündigkeit.
Negt
Also er würde sagen, also Kant würde sagen: Es bedarf da zusätzlicher Kraftanstrengung, aus dieser fremdverschuldeten Unmündigkeit herauszukommen. Aber an sich hat jeder Mensch die Möglichkeit, Auswege zu suchen und auch zu finden. Das ist glaube ich sein präziser Begriff von Aufklärung und Selbstaufklärung.
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Alle Konspiration gegen Aufklärung ist null und nichtig
Kluge
Und da gibt es eine Stelle in demselben Artikel, in dem er ganz zentral sagt: Und alle Verschwörungen, die gegen einen Prozess der Aufklärung sich richten …
Negt
… sind null und nichtig, ja.
Kluge
… die so etwas ausschließen wollen, dass sie sagen, also zum Beispiel, hier gibt es Fragen, bei denen die religiösen Vorbehalte oder die obrigkeitlichen Gründe gegen Aufklärung sprechen. Da sagt er: Dies kann es nicht geben.
Negt
Ja. Also es ist eine sehr gute Auskunft darüber, dass das, was legitimiert ist, was berechtigt ist, was begründet ist, auf keinen Fall den Prozess dieser Aufklärung, Selbstaufklärung der Menschen verhindern darf. Das widerspricht gleichsam dem Naturrecht.
Kluge
Und gleichzeitig stützt er sich auf ein Staatswesen Friedrichs des Großen, an das er ja mehrfach anspielt. Und dieser Friedrich der Große sagt, oder Friedrich II von Preußen sagt: Räsoniert -
Negt
Ja, aber gehorcht!
Kluge
Und das ist ja so ähnlich wie Glasnost eigentlich. Es ist ja nicht eigentlich ein neues Gemeinwesen, eine Republik, die hier jetzt entsteht oder eine Weltrepublik des Geistes auf der Welt. Sondern es ist zunächst einmal ein Übergangsstadium, sehr ähnlich der Gorbatschow’schen Vorstellung: Gehorcht, aber bereitet etwas vor, was den Gehorsam unnötig macht.
Negt
Es ist so, dass die Erweiterung der Urteilsfähigkeit der Menschen, dass sie auch die Verhältnisse, von denen sie abhängig sind, müssen beurteilen können und kritisieren können, ist der wichtigste Punkt. Nicht, dass sie jetzt also diese Verhältnisse alle unmittelbar einreißen könnten. Das sieht ja Kant sehr klar, dass das so einfach nicht geht. Aber dass der Mensch seine eigenen Kräfte so entwickelt, dass das, was der Fingerzeig der Natur dabei ist, dass er eben autonom sein kann, befolgt wird. Das setzt voraus, dass man auch Autorität respektiert und gleichzeitig fähig ist, sie zu beurteilen, auch als notwendig und unabwendbar zu beurteilen. Diese Urteilskraft steht im Zentrum eigentlich der Aufklärung bei Kant.
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Was kann AUFKLÄRUNG im Jahre 1932 helfen?
Kluge
Jetzt hast du das Jahr 1932. Und die Kritische Theorie, die Frankfurter Schule der Kritischen Theorie steht angriffslustig aufgestellt gegen die herandrängenden Massenbewegungen vor allem des Faschismus. Und es entsteht die Frage: Was bedeutet Aufklärung, wenn doch offensichtlich hier die Wissenschaft, die Menschen, das Gemeinwesen hier die faschistische Bewegung so schwer aufhalten können. Dann reicht doch vielleicht das Projekt der Aufklärung an irgendeiner Rohstoffquelle nicht aus. Verstandeskräfte sind offenkundig nicht genügend, um so einen Aufstand der Gemütskräfte …
Negt
Ja, vor allen Dingen wenn die Gemütskräfte auch in eine ganz andere Richtung gehen, also eben in die Richtung von …
Kluge
Wir wollen unmündiger werden.
Negt
Ja, wir wollen unmündiger werden in bewusster Abhängigkeit von Autorität. Der Führerkult besteht ja darin, dass ein Selbstopfer des Ich, der Vernunft miteinbezogen ist in die eigene Gefühlswelt. Und wenn das der Fall ist, nimmt Aufklärung gleich eine ganz andere Dimension an. Sie muss die Sinne genauso einbeziehen wie die Gefühle und den Verstand. Das ist im Übrigen bei Kant auch in den anderen Schriften so, dass die Gemütskräfte eine ganz große Rolle bei ihm spielen in der Behinderung, aber auch in der Förderung von Aufklärung.
Kluge
Jetzt geht ja das, was Kant denkt, auf eine Tradition von gut 100 Jahren zurück, in der die neue bürgerliche Gesellschaft, der innovative Mensch sich herausbildet. Und zwar ist es ja immer so, dass der Prozess der Aufklärung und der Bildung, der damit verknüpft ist in der Philosophie, parallelisiert ist von der Entwicklung der Gewerbefreiheit, der Tulpenzüchtung in Holland, der Börsen, der Märkte, des Kapitalismus, fast ununterscheidbar. Der Handel dringt so vor, wie der freie Gedanke vordringt. Kann man das so sagen?
Negt
Ja. Also Markt und Öffentlichkeit haben sehr viel miteinander zu tun. Also dass die Menschen sich frei auf dem Markt bewegen können, dass es so etwas wie Gewerbefreiheit allmählich gibt, beeinflusst natürlich auch stark die Gedankenfreiheit.
Kluge
Und sagen wir mal, der Prozess der Aufklärung hat ja sehr viel Respekt vor demjenigen, mit dem ich Aufklärung beabsichtige. Kant sagt mehrfach, spricht von den Indianern und ihrem Recht auf Grund und Boden, den Fuß auf ein Stück Eigentum zu setzen. Das ist auch das Recht der, wie er sich ausdrückt, Wilden. Und das tut ja der Markt, die Handelsfreiheit, nicht. Die geht respektlos vor. Dies ist fundamentalistisch.
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Oskar Negt, Philosoph
Negt
Da kommt ein gewisses Element der Kälte in die menschlichen Beziehungen hinein, durch Geldverkehr und Tauschverkehr. Und der Respekt gegenüber der Bodenständigkeit, gegenüber dem, was den Menschen lieb und teuer ist, geht allmählich verloren. Aber das ist mit ein Element auch dieser Form der Aufklärung.
Kluge
So dass man aber einen Prozess der Aufklärung, der sozusagen rein davon existiert, der nicht einfach nur parallelisiert ist mit der Handelsfreiheit, auch mit der Unterjochung anderer Völker, mit der Inanspruchnahme der Welt, mit der Kolonialisierung, wenn man so will, den haben wir noch nicht kennengelernt.
Negt
Nein. Es sind Ansätze da in vielfacher Hinsicht, auch wissenschaftliche Ansätze. Auch der Freudsche Ansatz ist ein solcher Versuch, einmal die Kräfte, die menschenwirksam sind, die Motive in Zusammenhang zu bringen. Also gerade bei Freud spielt das ja eine Rolle, wenn er sagt: Das Ich ist nicht Herr im eigenen Hause. Bedeutet das also, da sind Triebenergien, da sind Gefühle, die völlig quer gehen zu dem, was der Verstand eigentlich will. Unbewusstes …
Kluge
Zu dem Gebrauch der Verstandeskräfte.
Negt
So ist es. Gebrauch der Verstandeskräfte.
Kluge
Und man müsste eigentlich jetzt sozusagen analytisch ja zunächst einmal sich versammeln. Die Kräfte vereinigen, die unbewussten und die bewussten, dieses Über-Ichs.
Negt
Und ich meine, in eine spezifische Kooperation bringen. Also insofern ist der Mensch in seinen Gemütskräften noch nicht richtig zusammengesetzt. Er muss sich dauernd mühen, die Kräfte so zu mobilisieren, dass der Ausgang aus der Unmündigkeit möglich ist. Deshalb ist auch Bildung, politische Bildung ein permanenter Vorgang - und nicht ein für allemal, dass man einmal zur Schule geht und da Gemeinschaftskunde mitbekommt und dann für das Leben ausgestattet ist. Ich glaube, das ist also ein großes Problem eben von Aufklärung, dass es ein Prozess, ein nicht abschließbarer Prozess der Mobilisierung, der nicht zusammenhängenden Kräfte im Menschen ist, die einen Zusammenhang herstellen müssen.
Kluge
Sapere aude. Habe den Mut, dich der eigenen Kräfte, Verstandeskräfte, aber auch aller anderen Kräfte, die du hast, selbst zu bedienen. Sei autonom. Wage es. Das ist ja etwas, was um 1600 schon als eine große Bewegung in den Niederlanden von Italien aus - Shakespeare schreibt seine großen Stücke genau in den Jahren nach 1600 - ist es ja eigentlich eine europäische Bewegung hin zu einem neuen Menschen, zu einem neuen Selbstbewusstsein. Wenn du mir dieses Selbstbewusstsein, also die Rohstoffbasis der Aufklärung einmal näher beschreibst. Also nicht das rhetorische 18. Jahrhundert, sondern das sehr arbeitsame 17. Jahrhundert.
Negt
Naja, im 17. Jahrhundert ist eigentlich das, was die Verbindung dieser Kräfte betrifft, viel stärker ausgeprägt als zum Beispiel im 19. Jahrhundert in dieser nationalstaatlichen Isolierungswelt. Es ist so etwas wie ein Universalismus. Die Menschen des 17. Jahrhunderts denken universalistisch, und deshalb mobilisieren sie auch ganz verschiedene Kräfte und fragen an – also Erasmus von Rotterdam oder so; er hat selbstverständlich mit den englischen Philosophen, mit John Locke und anderen Beziehungen.
Kluge
Und ihm stecken noch die Religionskriege im Nacken. Das heißt also, sie sind in Not. Der Dreißigjährige Krieg ist ja im Kommen. Also das heißt, es sind Verhältnisse sehr aggressiver Art zu bewältigen. Und inmitten dieser Verhältnisse gibt es jetzt einmal ein Selbstbewusstsein: Ich bin Eigentümer meines Lebenslaufs und bin verantwortlich zu was ich mich binde. Zum Gemeinwesen, der Ehe, den Kindern gegenüber …
Negt
Und das ist natürlich die …
Kluge
Ist eigentlich zunächst einmal eine Bestellung des Hauses notwendig, die neu ist.
Negt
Und die ist insofern also absolut neu, als dieses kopernikanische System zunächst einmal den Menschen also aus dem Kosmos rausnimmt, und ihm jetzt eine Aufgabe gibt, den Kosmos neu aufzubauen.
Kluge
Er ist an den Rand gesetzt. Er ist nicht der Mittelpunkt der Welt.
Negt
Nein, nicht mehr der Mittelpunkt.
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Der NEUE MENSCH von 1600 / Anfang der modernen Wissenschaften
Kluge
Die Anatomen des Nachts wühlen in den Menschenkörpern, untersuchen die toten Menschen.
Negt
So ist es. Leonardo klaut sich die Leichen, um sie zu untersuchen.
Kluge
Und diese Seite ist auf eine bestimmte Weise rücksichtslos. Gleichzeitig entwickelt sich die Oper, die Musik, die Monodie. Monteverdi, 1607, Orpheo, die erste europäische Oper. Man könnte sich auch vorstellen, dass diese Opernkomponisten, statt schlechte Schauspielstücke oder missverstandene griechische Tragödien zu komponieren, in den anatomischen Instituten, in den naturwissenschaftlichen Sammlungen ihre Musik hätten anbringen können.
Negt
Kann man sich vorstellen.
Kluge
So wie Musik ja vorher in Kirchen ist. Die ist ja gar nicht in erster Linie im Theater. Und dann wären doch sozusagen die Musik und die Naturwissenschaften eine Ehe eingegangen.
Negt
Aber ich glaube ja auch, dass die Entwicklung zum Beispiel der Mensuralnotenschrift und so weiter etwas mit diesem Aufklärungsprozess zu tun hat. Also wie man das aufschreibt, also die Harmonik und also bis zu Bachs Kunst der Fuge, das hat ja etwas Naturwissenschaftliches an sich. Das wohltemperierte Klavier …
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WAS HEISST AUFKLÄRUNG? Oskar Negt über Immanuel Kants berühmten Aufsatz vom Dezember 1783