Was heißt NICHTS?
Transkript: Was heißt NICHTS?
Was heißt NICHTS?
- Text
- Unser neuer Nachbar: die Philosophie / Menschen fürchten das NICHTS und die LEERE / Philosophen (und moderne Physiker) gehen dagegen mit dem NICHTS täglich um / NICHTS ist, sagt G.F.W. Hegel, der notwendige Gegenpol von jeglichem Etwas / Ohne NICHTS keine BEWEGUNG / Oskar Negt berichtet - -
- Text
- WAS HEISST NICHTS? / Oskar Negt über einen philosophischen Begriff
- Text
- G.W.F. Hegel
- Alexander Kluge
- Diese höchsten allgemeinsten Gattungsideen: Nichts und Etwas, Gut und Böse. Wenn du mir einmal das Wort „Nichts“ philosophisch erklärst: Was ist nichts?
- Oskar Negt
- Das Nichten des Nichts …Nichts … Also zunächst einmal hat es den Status eines Begriffs, wie Etwas.
- Kluge
- Es ist das Gegenteil von Etwas.
- Negt
- Descartes würde sagen, das ist auch eine eingeborene Idee, wie Gott, und … wir haben eine Vorstellung, die vielleicht ein horror vacui, also eine Angst vor der Leere erzeugt, also das – aber wenn wir an ein Etwas denken, dann müssen wir auch das Nicht-Etwas denken können, die Verneinung des Etwas.
- Text
- Oskar Negt, Philosoph und Soziologe
- Kluge
- Und was wäre nach Kant – die Philosophen haben ja verschiedene Auffassungen davon – was wäre nach Kant die Verneinung des Etwas?
- Negt
- Die Verneinung des Etwas würde Negation, es gibt den Begriff auch bei ihm, in der Kategorientafel: Negation. Aber das Nichts wäre immer bestimmt durch das, was ist. Das heißt, die Verneinung des Ist wäre das Nichts. Und das Nichts hat jetzt in der Geschichte der Philosophie sehr viele Facetten, sehr viele Komponenten. Wenn ein Buddhist von dem spricht, von der Verneinung der Welt, dann hat dieses Nichts einen Befreiungsgehalt, einen Aufbewahrungsgehalt, das ist etwas, worauf man … die Ruhe, die Ruhe …
- Kluge
- Daraus wird das Sein entstehen. Daraus werden mehrere Möglichkeiten des Seins entstehen. Die Möglichkeit ist das Nichts, das wäre für einen Buddhisten nichts Absurdes.
- Negt
- Nein. Deshalb gibt es in den verschiedenen Religionen auch verschieden angereicherte Bereiche, die mit Nichts bezeichnet werden. Philosophisch meint hier Hamann zweifellos nichts anderes als die Negation des Etwas. Aber die Negation des Etwas ist genauso wenig etwas rein Empirisches: Das heißt also, man kann weder das Etwas nachweisen, weil es ja ein Allgemeinbegriff ist …
- Text
- Johann Georg Hamann, Philosoph in Königsberg
- Kluge
- Das Interessante ist, das Etwas kann ich mir noch vorstellen, zerteilt vorstellen. Bei dem Nichts ist in dem Wort etwas Seltsames, was auch in dem Wort Finsternis wäre. Ich kann mir ja Dunkelheit vorstellen, ich kann mir etwas Bestimmtes als dunkel vorstellen, aber ich habe große Schwierigkeiten, das Substantiv Finsternis, das sozusagen eine Allgemeinheit darstellt – der Orkus, der Abgrund, das was außerhalb des Seins ist …
- Negt
- Das hat alles Orte und Zeiten, das hat alles Orte und Zeiten, und würde nicht unter den Begriff des Nichts fallen.
- Kluge
- Und jetzt gibt es aber in der modernen Naturwissenschaft Spheren exzessiv kurzer Zeiten. So kurzer Zeiten, wie sie nur nach dem Beginn, der Entstehung des Kosmos, in wenigen Zentimetern vom Urknall entfernt existiert haben mögen, und in denen würde ein Physiker oder ein Kosmologe das Nichts ansiedeln, nämlich die reine Möglichkeitsform. Hier nehmen Unschärfe und Möglichkeit und Unwahrscheinlichkeit so extrem zu, dass keine Naturgesetze und Elementarteilchen entstehen können. Dies ist eine Vorstellung von Nichts, die nicht nur eine definitorische Funktion hat. Denn in den kleinsten Elementen und in den kürzesten Zeiten würde auch in der Gegenwart dieses Nichts existieren, und permanent das Sein oder irgendetwas, was nicht Nichts ist, produzieren.
- Text
- Abstand der Galaxien / Zeit
- Negt
- Das mag richtig sein. Aber wir als Menschen, mit unseren Sinnen ausgestattet, mit unserem Verstand, entwickeln alles, was wir uns unter Nichts vorstellen, auf dem Hintergrund des kategorialen Rahmens von Etwas. Das heißt, das Sein definiert durchgängig das, was wir für eine Vorstellung von Nichts erachten.
- Kluge
- Wo steckt das Nichts jetzt? Steckt das sozusagen in den Lücken des Seins? Ist das wie ein Meer des Nichts, das das Sein umrundet? Wo ist das Nichts?
- Negt
- Also da würde ich ganz orthodox Hegelisch sagen: Das Nichts ist nichts weiter als das verneinte Sein.
- Kluge
- Das heißt, das ist eine andere Eigenschaft, ein anderer Status, ein anderer Aggregatzustand des Seins.
- Negt
- Und wenn du Bewegung hast, wenn du Prozess hast, hast du Sein und Nichts immer …
- Kluge
- … miteinander verschaltet. Ohne das Nichts kann das Sein sich gar nicht bewegen.
- Negt
- Ohne das Nichten des Gegebenen – jetzt nicht Heideggerisch ausgesprochen, der hat auch das Nichten – gibt es keine Bewegung. Das heißt also, das entfaltet Hegel wirklich am Anfang der Logik ganz prägnant. Der sagt, wir fangen mit dem Sein an, aber Sein, reines Sein, was ist das? Das reine Sein ist nichts. Es ist in Nichts übergegangen, weil es keine einzelne Bestimmung hat. Deshalb kann man sagen, reines Sein und reines Nichts sind identisch, sind ineinander übergegangen. Und erst das Werden schafft konkrete Übergänge vom Sein zum Nichts, da wird nämlich im konkreten Werden, in einem Prozess, wird das, was gegeben ist, verneint, und es geht in einen anderen Zustand über.
- Kluge
- Wenn eine 48stel Sekunde im Film dunkel ist, Transportphase, und eine 48stel Sekunde Bild, wäre das als Emblem oder Metapher für das Zusammenwirken von Sein und Nichts zu einer Bewegung, wäre das plausibel?
- Negt
- Wenn man sagt, eine dunkle Stelle ist nichts, dann ja. Aber wenn man das nicht so sieht, weil man in der dunklen Stelle auch ein dunkles Etwas sieht, was also höchstwahrscheinlich ist, dann ist es nicht Nichts.
- Text
- Oskar Negt, Philosoph und Soziologe
- Kluge
- Nächste Frage: Wenn ein Filmschnitt, also ein Bild, und ein zweiter Filmschnitt, wiederum ein Bild, die einen Kontrast enthalten, an der Schnittstelle – die ist ja tatsächlich nicht gegenständlich vorhanden – eine Assoziation auslöst: das ist Filmmontage à la Godard.
- Negt
- Das ist richtig.
- Kluge
- Da würde eine innerliche Bewegung entstehen.
- Negt
- Aber der Schnitt bewirkt, dass unsere Sinne und unser Denken ….
- Kluge
- … sich in Bewegung setzen.
- Negt
- In Bewegung setzen und diese Grenze, diesen Schnitt so nicht wahrnehmen.
- Kluge
- Sie füllen die Diskontinuität.
- Negt
- So ist es. Sie überbrücken. Man würde den Schnitt gar nicht sehen.
- Kluge
- Das Nichts im Film ist das Etwas im Kopf.
- Negt
- Was ist das Nichts im Film?
- Kluge
- Der Schnitt. Das heißt, der Film setzt an der Stelle tatsächlich aus. Er schafft eigentlich nichts anderes als einen Gegensatz, einen nackten, nicht interpretierten, nicht überbrückten Gegensatz. Und dadurch das Bedürfnis, ihn zu überbrücken, weil der Kopf …
- Negt
- Das ohnehin. Es geht ja weiter. Kein Mensch kann den Schnitt-Augenblick in einem Film in seinem Gehirn nachvollziehen.
- Kluge
- Das geht ja gar nicht.
- Negt
- Ja.
- Kluge
- Also wenn ich mich verspreche, und du das Wort von mir ergänzt. Oder ich lasse etwas aus, und du ergänzt es, einfach weil wir beide hier sind. Dann wäre das Nichts dasjenige, was magnetisch quasi den Sinn anzieht.
- Negt
- Deshalb kehre ich zu meiner Hegelschen Definition zurück: Diese kleinen Einheiten, die man so definiert als Nichtse, sind besondere Nichtse. Das heißt, ist etwas Nichts. Man definiert dieses Etwas als Nichts, aber man kann es nicht, man hat keine Leere, man hat keine wirkliche Leerstelle.
- Kluge
- Denn das gibt es doch nicht.
- Negt
- Jedenfalls ist das für unsere Sinne, und so wie wir ausgestattet sind gattungsgeschichtlich, glaube ich unmöglich. Deshalb auch diese mythische Angst vor diesem horror vacui, vor der Leere, vor den Leerstellen. Die ganze Philosophie ist ja voll davon, dass es eigentlich keine Leerstellen, keine leeren Stellen, keine Löcher geben darf. Und wenn man sie dann nur mit Ersatz zustopft oder zuklebt, ist besser als sie leer zu lassen.
- Kluge
- Das ist aber etwas, was in unserem Kopf vorgeht.
- Negt
- Ja. So denken wir. Und so empfinden wir auch. Eher ganzheitlich. Wir empfinden ja nicht quantenmäßig. Wir setzen ja nicht Quanten zusammen, sondern wir haben ganzheitliche Vorstellungen. und wir ergänzen sofort das fehlende Glied. Also ich glaube, die Gestaltpsychologie hat da etwas Richtiges an unserem Erkenntnis- und Sinnenprozess begriffen. Wir ergänzen sofort eine fehlende Stelle. Insofern springen wir von einem Etwas, dem ein definiertes Nichts hinzugefügt ist, gleich zum nächsten Etwas.
- Kluge
- Also Nichts-Füller, gewissermaßen, als Produzenten.
- Negt
- Ja.
- Kluge
- Wenn du mir mal den Hegel beschreibst. Ist das ein kleinwüchsiger Mann? Hat ja große Augen, glaub ich.
- Negt
- Das weiß ich nicht. Riesig ist er bestimmt nicht gewesen. Ich kenne nur Bilder in seinem Talar.
- Kluge
- Für was würde man ihn halten?
- Negt
- Etwas verkleidet sieht er aus, als Dekan und Rektor. Ein ausdrucksvolles Gesicht hat er, ein breites, und offenkundig eben ein Mensch, bei dem diese Form des reflektierenden Denkens, des öffentlichen Denkens, also der Entwicklung der Gedanken im Reden … wie Kleist sagte, eigentlich die Macht der Rede dadurch, dass er seinen Verstand öffentlich macht, und die Prozesse seines Verstandes offen legt …
- Kluge
- Es ist nicht: Ich weiß etwas, bei Kleist, sondern: Etwas ist in mir, welches weiß, und das wird hervorgeholt dadurch, dass der andere es magnetisieren kann.
- Negt
- Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden ist bei Kleist darauf gerichtet, dass er sagt: Es ist egal, wer vor mir sitzt, ob es eine Magd ist oder die … ein menschliches Gesicht, eine menschliche Reaktion führt dazu, dass ich meine Gedanken entwickeln kann. Und auch ganz neue, spontane entstehen. Ich teile nicht nur etwas mit.
- Kluge
- Das ist an sich eine spinnenartige Tätigkeit: Ein breites Netz legen, und darin auf die Ankunft der Wahrheit warten. Kann man das so sagen?
- Negt
- Nein, nicht warten. Sondern die rhetorische Dialektik, die hier drin steckt, bedeutet: Ich wende und drehe einen Begriff so lange, bis er etwas Neues aufnimmt. Bis das sichtbar wird, was er ausgeschlossen hat, und was er aufnehmen muss.
- Kluge
- An der Widerstandlinie entlang.
- Negt
- An der Widerstandslinie entlang. Die Grenzen um den Begriff so lange dehnen, bis er in einen anderen übergehen muss, ist eine ganz spezifische Denkweise der Dialektik, eine vermittelnde Denkweise. Also ich betrachte den Begriff in seinem Wahrheitsanspruch, halte ich so lange fest, bis er von sich aus sagt, ich bin nicht die ganze Wahrheit. Ich muss einen weiteren Begriff, einen weiteren Erfahrungszusammenhang aufnehmen.
- Text
- WAS HEISST NICHTS? / Oskar Negt über einen philosophischen Begriff