Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt
Transkript: Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt
Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt
- Text
- Glückspiel, Tonspiel, Verstandesspiele (= UNTERHALTUNG) sind unentbehrliche Lebensmittel der Menschen / So beschreibt es Immanuel Kant in seiner Schrift KRITIK DER URTEILSKRAFT / DAS FREIE SPIEL DER GEMÜTSKRÄFTE trägt zur Erkenntnis nichts bei / Doch hält es den Körper intakt, in dem Erkenntnis gedeiht / Prof. Oskar Negt berichtet - -
- Text
- DER MENSCH IST NUR DORT GANZ MENSCH, WO ER SPIELT / Immanuel Kant über GUTE UNTERHALTUNG
- Alexander Kluge
- In der „Kritik der Urteilskraft“ hatten wir ja gestern eine Stelle gefunden, wo sich Kant damit auseinandersetzt: Es gibt offenkundig Vergnügungen des Kopfes, des Menschen, die ganz wichtig sind. Und er sagt, sie sind gesundheitsfördernd, sind also notwendig. Aber sie werden dem bloßen Verstand nicht notwendig gefallen, und sie dienen auch nicht der Erkenntnis. Das, sagt er, ist das Glücksspiel, das Tonspiel, und das Verstandesspiel. Das Tonspiel wäre …
- Oskar Negt
- Musik.
- Kluge
- Sozusagen Komödien mit Musik. Er bringt sie immer zusammen, Tonspiele, die machen Musik, und da ist auch was zu lachen dabei. Er hat offenbar Singspiele gesehen, und die haben ihm gefallen. Und da ist auch, sagt er, der Kopf beteiligt, aber es hat keinen Zweck. Das sagt er nicht bedauernd. Sondern er sagt, das ist eine Tugend, dass es keinen Zweck hat.
- Negt
- Nein, nein. Dieses spielerische Umgehen mit Dingen eröffnet den Gemütskräften einen Zugang zu einer Dimension, die in der klassischen Aufteilung von Begehrungsvermögen, Erkenntnisvermögen, und anderen Vermögen nicht aufgehen. Es ist ein Spiel der Gemütskräfte, das Lust bereitet. Und dazu gehört sicherlich auch das Risikospiel einer Spielbank, wo man mit Einsätzen arbeitet und etwas gewinnt oder verliert …
- Kluge
- Er selber ist ja auch Billardspieler.
- Negt
- Er war, während der Russischen Besatzung hat er sich sehr gut verstanden mit den lebenslustigen Offizieren, und war sehr …
- Kluge
- Das ist im Siebenjährigen Krieg. Da ist Königsberg besetzt. Zum Entsetzen des Königs Friedrichs kapitulieren sie nicht nur, sondern kooperieren.
- Negt
- Sie schicken sofort Demutsgebärden an die Elisabeth, also die damalige Zarin. Und Kant schreibt auch eine Bitte, ihm einen Lehrstuhl zu verschaffen. Und seitdem ist Friedrich II nie wieder nach Königsberg gegangen. Er war so über diese …
- Text
- Oskar Negt, Philosoph
- Text
- Königsberg
- Kluge
- Dass die Krönungsstadt Preußens zum Feind nahtlos übergeht.
- Negt
- Und die Offiziere, die haben da ein ganz anderes Leben, die russischen Offiziere, reingebracht, mit Trinken und Spielen und selbstverständlich Glücksspiel.
- Kluge
- Das reizte ihn sehr. Kleine Summen …
- Negt
- Ich weiß nicht, ob er selber gespielt hat. Aber zum Beispiel, er war ein bekannter und guter Billardspieler.
- Kluge
- Und man kann eins sagen, er sagt sinngemäß: Menschen werden sich die Glückssuche nicht ausreden lassen, und dieses Jenseits der Vernunfttätigkeit, und Jenseits des Moralischen. Aber wenn ich Glück habe, wie Hans im Glück, und tausche, das ist etwas, was ich auch entfalten und in ein Gleichgewicht bringen sollte.
- Negt
- Ja, und Schiller greift diesen Gedanken ja auf, dass bei ihm der ästhetische Zustand, der ästhetische Staat immer verknüpft ist mit der Balance zwischen den Vermögen: Also auch Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen und Vermögen der Pflicht. Der Lustgewinn liegt eigentlich im …
- Kluge
- … raschen Wechsel zwischen den Gemütszuständen …
- Negt
- … und in dem harmonischen Ausgleich dieser Gemütszustände.
- Kluge
- Quasi eine Artistik der Gemütszustände.
- Negt
- Und das hat natürlich bei ihm insgesamt auch in der „Kritik der reinen Vernunft“ eine große Bedeutung: Die Einbildungskraft. Die Einbildungskraft als eine sehr authentische, und eigenständige, originäre Kraft der Menschen. Das spielerische Umgehen mit Gedanken und mit Gefühlen. Es ist ja in der Tonkunst, in der Musik … deshalb sagt er ja im Grunde, der Verstand ist nicht ausgeschaltet. Aber es ist nicht die eigentliche Verstandestätigkeit.
- Kluge
- Auch nicht bei den Verstandesspielen. Wenn bei der Abendgesellschaft Diskurse hin- und hergehen. Witz in die Diskussion kommt. Das kommt, was der Erkenntnis, wie er sagt, doch nicht besonders gefallen kann. Dass sozusagen ein Witz umso besser ist, je widersinniger er ist.
- Text
- „Daß ein Witz um so besser ist als er widersinniger ist - - “
- Negt
- Das widerspricht eigentlich der Logik der Vernunft, so wie man sie verengt sieht. Aber im Kantischen Sinne ist das durchaus ein sehr weiter Begriff von Vernunft, in den das durchaus als ein Förderungselement eingeht.
- Kluge
- So dass man es anders formulieren könnte, dass den Kant interessiert: Was lässt ein Mensch sich auf gar keinen Fall ausreden? Und die Sammlung davon kann in einer spielerischen Form, und das ist etwas sehr Ernstes, das ist etwas Lebensnotwendiges, er sagt, der Gesundheit Notwendiges, dass das parallel zu der Erwerbstätigkeit, Begehrungstätigkeit, Erkenntnistätigkeit verläuft. Und das bringt eigentlich überhaupt die Atmosphäre. Kann man es so verstehen? Den Kokon …
- Negt
- Wie gesagt, Schiller bringt das manchmal auf den Begriff, indem er sagt: Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt. Und er spielt nur dort, wo er ganz Mensch ist. Das ist sehr kantisch gedacht.
- Kluge
- Und das ist nicht Spielen, wie wir sagen Kinderspiel. Es ist nicht: Später mal wird es erwachsen sein. Das ist ganz ernst. Das ist die Tätigkeit, wenn ich den Zwängen für einen Moment entkommen bin.
- Text
- DENKEN als TESTEN!
- Kluge
- Da gibt es ja eine Fähigkeit im Menschen, einen Gedanken spielerisch in die Welt zu setzen, und dann zu sehen, was ihm geschieht. Man testet. Man kann übrigens auch mit Irrtümern testen. Man merkt es ja dann, dass die Reaktion der Welt auf den Irrtum den Irrtum dementiert. Und diese Fähigkeit, wie eine Fledermaus Echolote zu werfen und dann zu lernen an dem, was zurückkehrt. Das wäre etwas, was Kant nicht für absurd halten würde.
- Negt
- Nein, überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Also gerade in dieser kleinen Schrift, diese Echolotmethode, also immer zu probieren, wo das Gegenständliche ist, an dem ich meine Fantasie und meinen Verstand abarbeiten muss, an der Sinnlichkeit. Er sagt ja auch hier: Die Welt ist eigentlich der Inbegriff der Gegenstände möglicher Erfahrung. Das heißt, die Weltorientierung ist auch bezogen auf das Gegenständliche. Und für Kant ist durchaus dieses Element der Freisetzung von Einbildungskraft und Fantasie ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Auch im Übrigen – nicht im Überschwänglichen, wie er sagt, im Schwärmerischen, Überschwänglichen, sondern auch in dem Bedürfnis nach bestimmten Dingen, die wir nicht mehr anschaulich machen können: das Bedürfnis nach Gott, Unsterblichkeit. Das sind ja Dinge, Gedanken, die im Grunde nicht beweisbar sind, das heißt keine Erkenntnis sind, und trotzdem notwendig. Das macht ja einen großen Teil seines Denkens aus, dass er unterscheidet, was notwendig ist, wovon sich die Menschen auch gar nicht abbringen lassen. So beginnt auch die „Kritik der reinen Vernunft“, dass sie sagt: Das ist ein Feld, in dem die Menschen nicht aufhören werden … also Metaphysik, das metaphysische Bedürfnis, und trotzdem zu sagen, es sind Grenzen. Es ist nicht Erkenntnis. Gott ist kein … Das Bedürfnis nach Gott ist kein Beweis seiner Existenz. Das Bedürfnis nach Unsterblichkeit ist kein Beweis, dass es sie wirklich gibt. Aber für unser Leben ist es etwas Notwendiges.
- Text
- Oskar Negt, Philosoph
- Kluge
- Wenn du jetzt mal den Kant beschreiben sollst. Ist er großgewachsen, klein? Er hat ja glaub ich einen ganz kleinen Körper.
- Negt
- Ein kleiner Mensch, der eigentlich sein Leben lang dachte, dass er nur kurz leben würde, und kränkelnd …
- Kluge
- Hypochonder.
- Negt
- Absoluter Hypochonder. Hat untersagt, wenn er mit jemand spazieren ging, mit ihm zu reden, weil er der Auffassung war, dann kommt kalte Luft in die Lungen.
- Kluge
- Und abends muss er husten.
- Negt
- Und auch die ganze Wanzengeschichte mit seinem Diener Lampe.
- Kluge
- Was war das für eine Wanzengeschichte?
- Negt
- Sein Schlafzimmer war verwanzt. Und er hatte die Theorie entwickelt, dass Wanzen sich durch Dunkelheit bekämpfen lassen. Was der Lampe entschieden bestritt. Er sagte, die Dunkelheit ist genau das, was die Wanzen nährt. Und dann war Kant einmal verreist, und dann hat Lampe das alles aufgemacht und gesäubert. Als er zurückkam, waren die Wanzen weg. Und Kant fand das eine Bestätigung seiner Theorie.
- Kluge
- Große Augen?
- Negt
- Er galt glaube ich als ein ansehnlicher Mensch, und ein sympathisch aussehender Mensch. Er ist immer dargestellt worden eben als ein gebückter, eher krüppliger …
- Kluge
- Das ist aber mehr die Altersphase.
- Negt
- Die Altersphase, aber schon früh.
- Kluge
- Also er war ja früh nicht berühmt. Da war er ein preußischer Hochschullehrer, der relativ lange nur Lateinisch geschrieben hat. Da war er nicht wirklich bekannt. Er ist in den letzten Lebensjahren weltberühmt gewesen.
- Negt
- Er war schon als Naturwissenschaftler, hat er schon große Anerkennung gehabt. Aber natürlich erst 1781, mit der „Kritik der reinen Vernunft“ entstand das große Werk.
- Kluge
- Da läuft ihm die Jugend zu. Da sind plötzlich alle Dichter und Poeten und alle Geister auf seiner Seite.
- Negt
- Zunächst auch nicht. Das ist … allmählich setzt sich das durch, weil das ja eine ungeheure Baustelle ist, diese „Kritik der reinen Vernunft.“
- Kluge
- Schwer zu lesen. Die muss man erstmal lesen.
- Negt
- Schwer zu verstehen. Und da reiben sich also sehr viele. Aber sagen wir mal, innerhalb von 10 Jahren ist dann wirklich die Grundlage von vielen, vielen Intellektuellen, von Schelling und Fichte und Hegel, und wie sie alle heißen …
- Kluge
- Kennen die Französischen Revolutionäre denn Kant? In der Interpretation von Schiller.
- Negt
- Ja … Aber eher Schiller. Schiller ist ja Ehrenbürger der Französischen Revolution.
- Kluge
- Also Nachrichten von den Kantischen Schriften, die gehen in Frankreich ein.
- Negt
- Es gibt sogar einen Briefwechsel zwischen Kant und Abbé Sieyès. Da gibt es einige Vorschläge jetzt in der französischen Kantforschung, da sind diese Briefe zum Tragen gekommen. Und man hatte ja Kant auch teilweise als einen Jakobiner betrachtet. Es gibt Verbindungen.
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- Oskar Negt, Philosoph
- Kluge
- Aber er ist keiner. In Wirklichkeit ist er keiner. Er ist ja ein vorsichtiger Mensch. Er hat sich mit seiner Obrigkeit nicht verstritten. Also er sagt immer, Gehorsam, man muss den Gesetzen Preußens gehorchen. Aber mehr auch nicht.
- Text
- Immanuel Kant (1724-1804)
- Negt
- Naja, er hat in der Religionsschrift, dann erst spät, der späte Kant legt sich mit der Obrigkeit an. Die Religionsschrift, also „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft,“ ist ja verboten worden. Und er hat seiner Majestät, dem Nachfolger von Friedrich II. geschrieben: Während der Lebenszeit seiner Majestät werde ich das nicht veröffentlichen. Und als er gestorben war, war es auch gleich veröffentlicht.
- Kluge
- Woran ist er gestorben?
- Negt
- Man sagt, Altersschwäche. Er war in den letzten zwei Jahren eigentlich nicht mehr bei Verstand, kann man sagen. War vergesslich. Die Todesursache im Einzelnen ist nicht dokumentiert.
- Kluge
- Das ist ganz tragisch, dass er ….
- Text
- DER MENSCH IST NUR DORT GANZ MENSCH, WO ER SPIELT / Immanuel Kant über GUTE UNTERHALTUNG