Der Mehrwert und seine Bilder
Transkript: Der Mehrwert und seine Bilder
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- Ist die “Politische Ökonomie” verfilmbar? / Gibt es Bilder für den “Warenfetisch”?/ Für Begriffe wie “Entfremdung”, “Mehrwert” und “Ursprüngliche Akkumulation”? / Der russische Regisseur Sergej Eisenstein plante 1928 einen Film über das KAPITAL von Karl Marx / Oskar Negt, Autor des Buches KANT UND MARX, im Gespräch - -
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- DER “MEHRWERT” & SEINE BILDER / Wie verfilmt man das KAPITAL von Marx?
- Alexander Kluge
- Der Filmregisseur Eisenstein hatte 1928 vor, nachdem er “Oktober” gemacht hatte, seinen berühmten Film, einen Film zu machen über das “Kapital” von Karl Marx. Da gibt es Aufzeichnungen, Pläne und so weiter. Wie würde man das “Kapital” von Marx verfilmen können? Zum Beispiel das vorletzte Kapitel, Große Maschinerie und Kooperation.
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- Große Maschinerie und Kooperation
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- Adam Smith
- Oskar Negt
- Das ist das alte Beispiel also von der Nähnadelfabrikation von Adam Smith, der damit angefangen hat, dass diese Massierung von Arbeitskräften, die Konzentration von Arbeitskräften durch hohe Arbeitsteilung … also einer macht die Stecknadelknöpfe, der andere härtet die Stecknadel, und in etwa 100 verschiedenen arbeitsteilig abgedichteten und aufeinander bezogenen Produktionsprozessen kommt dann so etwas wie eine Stecknadel raus. Und diese Beispiele greift hier Marx in diesem Kapitel auf. Das heißt also, da ist sehr viel sinnliches Material, sehr viel Bildmaterial.
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- Oskar Negt, Sozialforscher
- Kluge
- Das heißt, Kooperation ist eine menschliche Eigenschaft. Sie entspricht der Geselligkeit, dem, dass wir gesellige Tiere sind.
- Negt
- Er sagt das hier auch an einer Stelle, die wir hier zur Verfügung haben. Ich darf das mal
- kurz vorlesen
- “Abgesehen von der neuen Kraftpotenz, die aus der Verschmelzung vieler Kräfte in eine Gesamtkraft entspringt, erzeugt bei den meisten produktiven Arbeiten der bloße gesellschaftliche Kontakt…” – der bloße gesellschaftliche – “… ein Wetteifern und eine eigene Erregung der Lebensgeister, animal spirits, welche die individuelle Leistungsfähigkeit der Einzelnen erhöhen …” und so weiter. Und er sagt dann, dies rührt daher, dass der Mensch von Natur, wenn nicht, wie Aristoteles meinte, ein politisches, jedenfalls ein gesellschaftliches Tier ist. Die gesellschaftlichen Kräfte werden herausgefordert und kommen zum Tragen in solchen Kooperationsprozessen.
- Kluge
- Und wenn es heißt: “Die Landschaft der Industrie ist das aufgeschlagene Buch der menschlichen Psychologie,” das heißt, 30 Jahre, nachdem man teilgenommen hat an großer Maschinerie und Kooperation, wirkt sich im Innern der Menschen die Fabrik aus. Das heißt, da kommt sie dann noch einmal. Das ist doch richtig?
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- “Die Landschaft der Industrie ist das aufgeschlagene Buch der menschlichen Psychologie –”
- Negt
- Das ist richtig. Jedenfalls Marx hat in den Frühschriften die Vorstellung, dass sich die Industrielandschaft innen noch einmal abbildet und mit allen Folgen, die …
- Kluge
- Auch als Produzentenstolz. Auch als Vorstellungsvermögen, dass Konzentration möglich ist. Das ist ja Konzentration, das kann man ja sagen.
- Negt
- Ja, Konzentration der Kräfte und eine Form der Leistungsanerkennung durch den anderen
in der Kooperation. Also jeder sieht dann doch, was der andere leistet und ist stolz auf die gemeinsame Leistung. Da ist ein Produzentenstolz mit bezeichnet.
- Kluge
- Am leichtesten kann das sozusagen der Produzent sehen beim Kriegswerkzeug. Den Tigerpanzer, das Schlachtschiff, die Flugzeuggeschwader – die konnte er im Grunde … wenn Speer das organisiert oder in Chicago die amerikanischen Organisatoren, dann konnte er seine Leistung, die gemeinsame Leistung von so vielen Menschen am leichtesten sehen. Das kann man bei Zivilprodukten etwas weniger.
- Negt
- Obwohl Autos und Flugzeuge durchaus eine ähnliche Funktion haben. Nun kommt also bei der Kriegsproduktion während des Krieges noch hinzu, dass so eine Art Patriotismus zusätzlich die inneren animal spirits erregt, und so die Siegesgewissheit kommt zu dem Produzentenstolz hinzu.
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- Sergej Eisenstein
- Kluge
- Das erste, was der Eisenstein spannend findet, ist, dass man an diesen Beispielen von Marx, kann man eigentlich über die menschliche Seele sehr viel sagen. Sie ist, durch das was außen arbeitet, innen geprägt, und zwar zeitversetzt.
- Negt
- Und das gilt natürlich auch für die anderen Kapitel des “Kapitals”, dass man die bebildern kann. Wenn Marx also von den Phantasmagorien der Warenproduktion spricht. Etwas verdrehen, der Warenfetisch oder auch Fetisch …
- Kluge
- Was ist denn der Warenfetisch? Was ist ein Fetisch?
- Negt
- Naja, das ist also ein als heilig und heilend betrachteter Gegenstand. Und der Warenfetisch ist eigentlich …
- Kluge
- … eine gefühlsmäßige Fahne.
- Negt
- Das ist die Abkopplung vom Gebrauchswert als einem eigenen Gegenstand, der Verehrung genießt.
- Kluge
- Weil die Ware tauschbar ist. Weil in dem Sack Getreide gewissermaßen ein Stückchen Gold, ein paar Schuhe, ein … alles Mögliche steckt. Das ist der Warenfetisch.
- Negt
- Die Universalisierung all dessen, was in dem Tauschwert, in dem Wert liegt,
der ja bestimmt ist durch das Quantum von lebendiger Arbeit, der da drinsteckt. Aber dass dieser eine Wert in Geld umgesetzt, in das universelle Tauschmittel, praktisch das ganze Universum der Waren …
- Kluge
- … tauschbar macht …
- Negt
- …mit enthält, so dass es eigentlich repräsentiert, jede Ware repräsentiert die ganze Warenwelt. Das ist etwas Faszinierendes, das er eben als Fetisch bezeichnet.
- Kluge
- Sozusagen wie ein Parlament der Wünsche, kann man so sagen, sind die Waren. Sie haben kleine Köpfe, kleine Lichtchen in sich.
- Negt
- Und auch das kann natürlich Eisenstein … ich weiß nicht, wie weit seine Vorarbeiten gegangen sind …
- Kluge
- Naja, sorgfältige Notizen. Er hat sich vor allen Dingen im ersten Kapitel beschäftigt: die Ware. Ja, als die Elementarform.
- Negt
- Aber die Ware geht nicht selbstständig. Also wenn es da heißt im “Kapital”: die Ware geht nicht selbstständig auf den Markt. Sie braucht den Warenträger, das heißt also einen Warenhüter. Warenhüter sind natürlich Konfigurationen, das sind figürliche Elemente, die wunderbar umsetzbar sind in Filmmaterial oder …
- Kluge
- Die Warensammlung …
- Negt
- Die dramatis personae spricht er doch auch an. Die handelnden Personen treten auf.
- Kluge
- Es ist ein Drama, ja?
- Negt
- Und der eine geht eben selbstbewusst voran, sagt er, der Kapitalbesitzer, und der andere zögernd hinterher, als ob er wüsste, dass jetzt seine … er trägt seine Haut zu Markte und erwartet jetzt nur, dass sie der Gerberei zum Opfer fällt.
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- Eisenstein traf sich mit dem Kollegen Dsiga Wertow
- Kluge
- Oder anders gesagt, einer gibt seine ganze Lebenszeit gegen Geld, gegen Lohn, ja dahin. Und kriegt als Gegenwert später mal Magentabletten. Wenn er sozusagen nicht mehr kann. Er hat sich dann getroffen mit Wertow. Und Wertow hat gesagt, man kann jetzt, muss auch den Gegner darstellen in diesem Drama, das heißt den Kapitalisten. Und den kann man nicht karikieren nur. Denn dann weiß man ja gar nicht, was die Revolution, was die Stärke der Revolution ist, wenn sie lauter Karikaturen besiegen konnte. Was ist das dann? Sondern man muss im Grunde die noble Zeit, in der der Kapitalismus etwas aufgebaut hat, beschreiben. Was ist dieser bürgerliche Mensch, der um 1600 anfängt, sozusagen ein neues Bewusstsein zu entwickeln, sich alles zuzutrauen, und sein Eigentum an seinem Lebenslauf begründet?
- Negt
- Ja, der bürgerliche Mensch ist ja auch einer, der, sagen wir mal, die Klassenmerkmale von lebendiger Arbeit aufhebt. Zum ersten Mal in der Geschichte ist dieser Typ “Bürgerlicher Mensch” derjenige, der die Arbeit aufwertet, also der Leistungsstolz ist nicht nur bei denjenigen zu finden, die als Arbeiter auftreten. Sondern der bürgerliche Mensch ist stolz auf seine Leistung. Und insofern verliert Arbeit, die ja vorher im Mittelalter Zwangsarbeit ist – im Griechischen heißt Arbeit ponos, im Lateinischen labor, also das Schwanken zwischen zwei schweren Lasten. Das heißt, es ist immer entwertet. Gearbeitet haben nur diejenigen, die es mussten.
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- Oskar Negt, Sozialforscher
- Kluge
- Es ist Mühsal. Mühsal. Und jetzt ist es die Verbindung zwischen Menschen.
- Negt
- Verbindung zwischen Menschen und trägt zur Identität bei.
- Kluge
- Gottgefällig. Gott zeigt durch das Produkt, das ich produziert habe, wenn es einen Wert hat, seinen Segen.
- Negt
- Wohlgefällig. Es ist ein wohlgefälliger Blick Gottes also auf das. Und insofern ist natürlich der Bürger, der produzierende Bürger, der Bourgeois, überhaupt keine Karikatur. Und Marx hat ihn auch nicht karikiert, sondern hat davon gesprochen, er ist auch ein Abhängiger. Das ist eine Tragödie, eine Personfikation von ökonomischen Kategorien und eine Charaktermaske. Abgesehen davon, dass er auch also konkreter Mensch ist, ist er in dem Kapitalzusammenhang auch so etwas wie einer, der eine Rolle spielt. Und diese Rolle …
- Kluge
- Und wenn er das nicht tut, versagt er als Kapitalist. Das heißt, dann wird er gestraft, durch den Markt gestraft. Er kann nicht anders.
- Negt
- Und er kritisierte eher die Selbstidealisierung dieses Bourgeois zum Citoyen, zu einem, der vorgibt, getrennt von seinen individuellen Produktionsinteressen so etwas wie eine Gemeinwesenverantwortung zu haben.
- Kluge
- Er soll nicht lügen, sagt Marx. Er soll nicht schwindeln. Er soll sich nichts vormachen.
- Negt
- Er soll sich nichts anmaßen, was er nicht kann. Das heißt also, das Gemeinwohl ist nicht repräsentiert in diesem Citoyen, weil er klebt an dem, was ihn eben als einen auch kleinkrämerischen Bourgeois ausmacht, der in Interessenkonstellationen verwickelt ist.
- Kluge
- Das heißt, der einzelne Bourgeois ist schwächer als die Summe aller Bourgeois, die die Ökonomie vorwärtstreiben. Sie sind dann Rädchen. So wie sie zusammenarbeiten, sind sie Rädchen.
- Negt
- So betrachten es auch heute noch manche Unternehmer, so wie Edzard Reuter in seinen Memoiren sagt: Auch die Manager sind Getriebene. Getriebene. Und ein bisschen von diesem Gedanken ist bei Marx drin. Es sind diejenigen, die die Gesetzmäßigkeiten, denen sie unterliegen, auch nicht brechen.
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- Dsiga Wertow
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- Ausschnitte aus KINO-PRAWDA
- Kluge
- Wertow ist der große Dokumentarfilmer, der Kino-Prawda gemacht hat, also die Wochenschau, die eigentlich die Revolutionszeit sehr anschaulich beschreibt. Und er arbeitet in einem Kollektiv mit seinem Bruder und vielen anderen, und geht raus. Der hat nicht im Studio gefilmt, was Eisenstein schon durchaus hauptsächlich getan hat. Der ist ein Spielfilmregisseur, der Eisenstein. Und Wertow ist der Dokumentarist, der Detektiv, der Bilddetektiv. Und er hat so bestimmte Auffassungen, was man alles für dieses Projekt hier, das “Kapital” zu verfilmen,
zur Verfügung hat. Und er kommt dann immer an die Schwelle, wo er mit der Parteiräson in Konflikt gerät. Da wird dann also der Schwarzmarkt beispielsweise, den möchte er beschreiben. Zum Schwarzmarkt hatte aber Marx gar nichts gesagt. Was ist Marx und der Schwarzmarkt? Wie würde man das beschreiben?
- Negt
- Das ist ein Markt, der praktisch also unterhalb des offiziellen Marktes liegt, aber in dem eigentlich die Prinzipien nicht verändert sind, die für den offiziellen Markt …
- Kluge
- Aber mehr Naturaltausch.
- Negt
- Ja, mehr Naturaltausch. Es ist ja eher ein archaisches Element des Warentauschs. Aber
natürlich wird da auch nach Wertrelationen getauscht.
- Kluge
- Teppiche gegen Butter.
- Negt
- Naja, was er da erläutert im Beginn des Waren-Kapitels, diese … also zwischen Eisen und Öl und Butter gewissermaßen werden Wertrelationen ausgehandelt.
- Kluge
- Das an der Börse, und das offiziell, und das in einem Gemeinwesen des Kapitals, kann man sagen. Das lässt die Menschen weitgehend draußen, ist gleichgültig zu ihnen, aber in sich ist es eigentlich ein Gemeinwesen. Und auf dem Schwarzmarkt sind diese Regeln karikiert. Also da ist zum Beispiel der besondere Hunger einer reichen Frau, die jetzt auf dem Schwarzmarkt tauscht, und einen sehr wertvollen Teppich gegen ein sonst billig, also im Ausland zum Beispiel leicht zu habendes Pfund Butter tauscht. Das ist jetzt verdreht.
- Negt
- Es ist ein bisschen wie Grenznutzenlehre, gilt eher, also der Grenznutzen, der hohe Grenznutzen einer hungernden adligen Dame, die einen Teppich hat, wird bezahlt mit einem Gut, was unter normalen Tauschbedingungen …
- Kluge
- … weniger wert ist. Und dazwischen sind Schnäppchenjäger tätig.
- Negt
- Also es ist sehr viel Kommunikation, Verhandeln, und das ist ja auf dem offiziellen Warenmarkt eigentlich nicht der Fall, weil mit bestimmten Preisrelationen gearbeitet wird, die eher Allgemeingültigkeit haben.
- Kluge
- Ich bin Arzt, und gebe den Rat, um 12 Uhr, da ist die Sprechstunde nicht mehr so voll, da kommen Sie mal. Den Rat gebe ich aber deswegen, weil ich einen Schock Eier bekomme von der Patientin. Deswegen bin ich auch besonders sorgfältig mit ihr. Das wäre der Schwarzmarkt.
- Negt
- Ja. Ich habe sogar Kaninchenfutter ausgetauscht gegen Zensuren in der Schule.
- Kluge
- Und Wertow brachte hier wertvolle Materialien für den Film, die alle nicht angewendet wurden von Eisenstein, weil er sagte, das kann ich den Parteizensoren, die den Film ja hinterher abnehmen müssen, eigentlich nicht anbieten.
- Negt
- Und das hat auch niemand später aufgegriffen.
- Kluge
- Das Projekt nicht, nein. Dieses Projekt ist liegen geblieben samt den Materialien, die schon gedreht sind. Eine große Rolle spielt auch das Kapitel Ursprüngliche Akkumulation.
- Text
- Was heißt “Ursprüngliche Akkumulation”?
- Negt
- Zum Beispiel strömen Hunderttausende von Menschen vom Land in die Stadt, ist eine große Stadtbewegung, haben keine Arbeit. 72.000 Bettler lässt Elisabeth hinrichten. Und die Leute, die keine Arbeit bekamen nach vier Wochen, wurden mit dem Zeichen “S - Slave” versehen oder hingerichtet. Das heißt, es ist eine brutale Zeit der Anfangsgeschichte des Kapitalismus.
- Kluge
- Wobei zunächst mal Großgrundbesitzer, die vorher Cottages auf ihrem Boden duldeten. Das waren Bauern, und das wird jetzt platt gemacht, verbrannt, damit Schafe darauf können, weil die Wolle von Schafen in Amsterdam, Antwerpen ja sehr viel Geld bringt, während die Arbeit von konkreten Menschen kein Geld bringt. Wieviel glaubst du, um auch nur ein Kapitel des “Kapitals” zu verfilmen? Wieviel Stunden wird man brauchen? 20?
- Text
- Wieviel Stunden Film braucht man für das KAPITAL?
- Negt
- Ist schwer zu sagen. Ich kann mir vorstellen, dass es also, wenn man das sehr durchorganisiert und exemplarisch macht, dass daraus auch durchaus kein weitgedehntes Epos
entstehen muss. Also wenn man konzentrische Punkte nimmt. Nehmen wir mal an, Ursprüngliche Akkumulation kann man natürlich …
- Kluge
- … als Roman beschreiben.
- Negt
- Ja, 20, 30 Stunden, das kann mal ausmalen. Aber da malt man eigentlich die ganze Geschichte aus. Aber zum Beispiel das Kooperations-Kapitel, das erste Kapitel Ware: Gebrauchswert, dann das Fetisch-Kapitel der Ware, und Kooperation und Arbeitsteilung, da könnte man so 4, 5 Blöcke machen, die sehr wohl das, was Kapitalismus auf der eigenen Basis ist, gut in Bilder umsetzt und auch anschaulich dokumentiert.
- Kluge
- Und da macht wieder Wertow dem Eisenstein, der ja sehr kritisch ist gegenüber dem Eisenstein, den Vorwurf, er wolle alles in Pathos verwandeln, und wolle immer die Ergebnisse vorher wissen. Während doch Film Experimentieren, Testen heißt. Man muss sich anvertrauen, und wenn die Kamera etwas anderes aufnimmt als man beabsichtigte, dann ist das der Film. Und er wollte vor allen Dingen darstellen, dass es nicht einen Kapitalismus gibt bei Marx, sondern ganz verschiedene Gewässer. Das kommt dann heraus, wenn man die anderen Schriften von Marx hinzuzieht: über die Klassenkämpfe in Frankreich beispielsweise, oder den 18 Brumaire des Louis Bonaparte. Dann sieht man, dass die französischen Handwerker in Paris, das Quartier Saint-Antoine, in der Französischen Revolution – das sind zweifellos bürgerliche Naturen, die arbeiten nach einem kapitalistischen System. Aber sie sind am Objekt geschult. Das sind Schmiede, das sind Handwerker.
- Negt
- Und sie sind Handwerker geblieben, und das bedeutet …
- Kluge
- Und die sind von einem britischen Börsianer völlig verschieden. Die werfen nichts weg. Wenn sie es im Moment nicht gebrauchen können, tun sie es ins Lager in der Hoffnung, dass man es später gebrauchen kann. Sie gehen pfleglich um. Und der pflegliche Kapitalismus, wollte er sagen, müssen wir darstellen. Denn das ist eine Eigenschaft, die wir aufnehmen können.
- Negt
- Die wir aufnehmen können, und vor allen Dingen, die auch eine gewisse Stärke also dieses Kapitalismus ausmacht. Wenn man das Räuberische so in den Vordergrund rückt wie eben die Ursprüngliche Akkumulation die Gewalt in den Vordergrund rückt, würde man überhaupt nicht verstehen, warum der Kapitalismus diese Haltbarkeit hat. Das gilt auch für heute noch.
- Kluge
- Wie würdest du das “Kapital” bezeichnen? Ist das ein Roman? Ist es ein Dokumentarprojekt?
- Negt
- Es ist mehr als eine wissenschaftliche Analyse. Ich glaube, das Selbstmissverständnis ist,
dass das Wissenschaft ist. Das “Kapital” arbeitet sehr viel mit Metaphern, also mit Bildern.
- Kluge
- Es ist also Dichtkunst.
- Negt
- Ja, Dichtkunst, jedenfalls literarisch. Ich habe mal den Vorschlag gemacht, also es war in Hannover eine Proust-Lesung, über 5, 6 Jahre das “Kapital” so zu lesen als ein literarisches Produkt.
- Kluge
- Abwechselnd mit Proust. Das heißt also, eine dreiviertel Stunde Proust, eine viertel Stunde “Kapital.”
- Negt
- Wäre möglich.
- Kluge
- Man kann ja in großen Portionen das nicht lesen.
- Negt
- Nein. Aber die Portionen betreffen hauptsächlich ganz enge ökonomische
- Relationen
- was Mehrwert ist, was Profit ist. Das hat die Arbeiterbewegung nie verstanden, und Bebel hat gesagt: Mir wäre es lieber gewesen, es hätte ein Handwerker das “Kapital” geschrieben als Marx. Dann hätte ich es besser verstanden. Und Liebknecht hat ja im Gefängnis versucht, Wilhelm Liebknecht, eine Kurzfassung des “Kapitals” zu machen, und die ist viel unverständlicher als die Langfassung des “Kapitals.” Das heißt also, das ist schon eine Form der Erzählung auch in den Bildern und Metaphern, die Marx benutzt, die äußerst prägnant sind. Und das ganze Material, was im engeren Sinne als Wissenschaft gilt, die Mehrwertlehre,
daran haben sich natürlich auch die Ökonomen wie Schumpeter und andere so festgebissen und gesehen, dass Marx noch eine ganz andere Ebene hat, nämlich die eines Geschichtsphilosophen, könnte man durchaus sagen.
- Kluge
- Der durchaus ein dramatisches Temperament hat. Das ist der Grund, warum Heiner Müller auch das “Kapital” dramatisieren wollte im Berliner Ensemble.
- Negt
- Ja, aber hat er auch nicht gemacht.
- Text
- DER “MEHRWERT” & SEINE BILDER / Wie verfilmt man das KAPITAL von Marx?