Absterben des Staates
Transkript: Absterben des Staates
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- Was bedeutet GLOBALISIERUNG? / Was davon betrifft die SYSTEMWELT, was die LEBENSWELT? / Was heißt LINKS? / Oskar Negt zum Stichwort: ABSTERBEN DES STAATES –
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- ABSTERBEN DES STAATES, was heißt das? / Oskar Negt über: Globalisierung als Erpressungsmittel
- Alexander Kluge
- Stichwort Absterben des Staates. Was heißt das? Das ist ein Begriff von Marx.
- Oskar Negt
- Das ist ein Begriff von Marx in “Klassenkämpfe in Frankreich”, also anlässlich der Pariser Commune 1870-71 geprägt, wo er sagt: Was ist eigentlich die Commune, was ist
die Kommune? Sie definiert sich durch ihr eigenes arbeitendes Dasein. Der Staat ist in die Gesellschaft zurückgenommen. Das heißt, der Staat hat seine Gewaltfunktionen als Klassenstaat verloren, und die ihm eigentümlichen Funktionen werden von der Gesellschaft reguliert. Das betrachtet er als Absterben des Staates.
- Kluge
- Marx und Engels sitzen zu diesem Zeitpunkt als Schriftsteller in London. Wissenschaftler oder Schriftsteller. Schreiben für eine New Yorker Zeitung und beobachten, was in Paris geschieht. Paris ist umringt von den preußischen Truppen, belagert. Die französische Staatsarmee, wenn man so will, ist besiegt bei Sedan. Und jetzt hat das Volk einen
Widerstand ausgelöst, eine Widerstandsbewegung ausgelöst, das heißt, die Macht übernommen in Paris, und regiert Paris brüderlich.
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- Oskar Negt, Soziologe
- Negt
- Aber eben überwiegend nur Paris, das ist das Problem eben dieses Aufstandes, dass er sehr zentralisiert ist, und wenn Paris fällt, fällt das ganze übrige Land. Und die preußischen Truppen haben ja mitgeholfen, oder sind entscheidend gewesen für die Niederschlagung dieses
Kommune-Aufstands.
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- Marx mit seiner Frau Jenny, geb. von Westphalen
- Kluge
- Aber in der Phase, also in der Todesstunde eines Reiches, wenn man so groß reden will, bildet sich sozusagen eine Utopie, dass die Menschen selber das Regiment in die Hand nehmen.
- Negt
- Ja. Für eine kurze Zeit und in begrenzten Räumen. Und Marx spricht bewusst vom
Absterben des Staates. Er sagt nicht von der Abschaffung des Staates. Den Staat kann man nicht abschaffen, und den kann man auch nicht zerstören. Sondern er stirbt nur in dem Maße ab, wie seine die Gesamtgesellschaft betreffenden Funktionen …
- Kluge
- … von anderen übernommen werden. Selbstreguliert übernommen werden.
- Negt
- Von der Gesellschaft übernommen werden, ausgeführt werden. Die Selbstregulierung ersetzt den repressiven Eingriff der Staatsmacht. Dann stirbt er ab. Wenn er überflüssig wird, stirbt er ab.
- Kluge
- Das heißt also, einerseits kann er dadurch, dass die Menschen ihre Autonomie organisieren, das müssten sie wahrscheinlich auf allen einzelnen Gebieten verschieden
tun. Das heißt, sie organisieren, wie sie lernen; sie organisieren, wie sie sich ernähren und wie sie produzieren. Sie organisieren, wie sie mit andern Völkern Verkehr haben. Das ist doch richtig. Das wär jedes Mal etwas anderes. Es wär vielfältiger als der Staat. Das wär nicht also Ministerien, 10, 12 Ministerien, sondern es wäre eine unendliche Fülle von Selbstorganisation.
- Das ist die eine Richtung. Und die entgegengesetzte wäre
- Der Staat ist überflüssig, weil er überlagert ist, zum Beispiel durch die Mafia. Ist das auch richtig? Der stirbt auch ab durch Raubbau.
- Negt
- Ja, dann bedeutet das, dass also eine Refeudalisierung stattfindet, wie in bestimmten Systemen, in denen die Mafia Staatsfunktionen übernimmt, zum Beispiel Eintreiben von Steuern oder Eintreiben von … wie ich das erfahren habe in Königsberg, dass man mir sagte, die Mafia spielt da eine sehr große Rolle in der Sanktionierung von Verträgen. Keiner hält hier
Verträge ein, aber die Drohung der Mafia, dieser mafiosen Gruppen, durch Abgaben erzwingen die das Einhalten von Verträgen.
- Kluge
- Und das ist eigentlich das Vorstaatliche, das ist so mal eine Gesellschaft im Mittelalter, bevor es einen Staat gibt.
- Negt
- So ist es, und das bedeutet natürlich auch nach demselben mittelalterlichen Prinzip: protego ergo obligo, also ich schütze euch, also kann ich euch verpflichten. Und das ist eine gefährliche Aufhebung des Staates, eine gefährliche Aufhebung des Staates. Da stirbt der Staat nicht einfach ab, weil die Funktionen in die Gesellschaft zurückkehren, in die zivile Gesellschaft, sondern hier bilden sich staatsähnliche Gewaltmonopole, die am Ende vielleicht sogar Hoheitsbefugnisse annehmen, indem sie eigene Polizei aufbauen. Und auch die Privatisierung bestimmter Funktionen geht in diese falsche Aufhebung eben des staatlichen Gewaltmonopols.
- Text
- WOHER KOMMT der Ausdruck: LINKS?
- Kluge
- Woher kommt der Ausdruck links im politischen Sinn?
- Negt
- Er hat verschiedene Wertungen durchgemacht. Ursprünglich ist es einfach eine Ortsbezeichnung, Bergpartei, Gironde, Mitte, Sumpf, das heißt also eine Sitzordnung …
- Kluge
- Das heißt, die Bergpartei, die Jakobiner sitzen links in dem Amphitheater, in dem der Konvent …
- Negt
- … tagt, in dem der Konvent tagt, und hat zunächst einmal noch überhaupt gar keine richtige Wertigkeit an sich. Er bekommt, dieses Wort, dieser Begriff bekommt seine Wertigkeit in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, wo dann die Ordnungsparteien rechts sitzen, um auch ihren rechtmäßigen Titel auf Ordnung zu unterstreichen – und die rebellierenden Revolutionäre, die früheren Revolutionäre, das heißt alle, die die bestehende Ordnung in Frage stellen, auf die
linke Sitzordnung gedrängt werden, und die entwickeln jetzt ein positives Verständnis von links. Da beginnt es eigentlich erst, dass links eine Identitätsbestimmung, auch eine politische Identitätsbestimmung ist, die über die bloße Sitzordnung hinausgeht. Also Anfang des … mit Beginn der Chartistenbewegung in England, also mit Beginn der Arbeiterrebellion, der Arbeiterbewegung beginnt so etwas wie ein positives Verständnis von links.
- Kluge
- Und im 20. Jahrhundert?
- Negt
- Ist links und Freiheit und Sozialismus sind alle diese Begriffe, die damit verknüpft werden, mit Kritik an der bestehenden Gesellschaft, an der Herrschaftsordnung, so hoch besetzt, dass die Linke in ihren verschiedenen Variationen einigermaßen trennscharf in ihrem
Selbstverständnis sich von allen Rechtsparteien abgrenzt. Also es ist … eine Entwertung von rechts findet im 20. Jahrhundert statt.
- Kluge
- Woran würde man einen Rechten erkennen? Was ist der gemeinsame Nenner?
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- Oskar Negt, Soziologe
- Negt
- Zunächst einmal nur, dass ein Rechter … da ist ja immer eine Konstellation, ist rechts-links, also es sind auch …
- Kluge
- … rechter ist als ein Linker.
- Negt
- Ja, eine Ansammlung von Verhaltensweisen und Eigenschaften, die zum Beispiel darin bestehen, also vorhandene Interessen zu bestätigen. Die bestehende Ordnung als die rechtmäßige und richtige Ordnung zu betrachten, und natürlich auch alles das, was diese Ordnung in Frage stellt, in die Situation eines Feindes, eines Gegners bringt.
- Text
- STICHWORT: GLOBALISIERUNG / Was würde Adam Smith dazu sagen?
- Kluge
- Stichwort Globalisierung. Was versteht man darunter? Das ist ja auch etwas, was den Nationalstaat zunächst einmal gefährdet.
Überlagert.
- Negt
- Ja. Die nationalstaatliche Organisation im 18./19. Jahrhundert ist ja wesentlich ein Prozess, in dem die bürgerkriegsähnlichen Tendenzen eines Territoriums aufgehoben werden. Und was da an bürgerlicher Gesellschaft entsteht, hat auch immer Regulierungsfunktion gehabt, gegen dem an sich durch Globalisierung bestimmten kapitalistischen Produktions- und Austauschprozess. Das heißt, die innere Mechanik, das innere Gesetz der kapitalistischen Akkumulation ist das der Globalisierung. Im “Kommunistischen
- Manifest” ganz deutlich ausgedrückt. Wie sonst keiner hat Marx gesagt
- Der Kapitalismus hat die Tendenz, sich überall in der Welt auf der Erde festzusetzen und eine Weltgesellschaft zu bilden. Der Markt ist überall. Und sogar eben, dass so etwas wie Weltliteratur damit entsteht. Also er hat das nicht nur negativ definiert, diesen Prozess.
- Kluge
- Es ist eine planetenweite Intelligenzform.
- Negt
- Es werden Borniertheiten, lokale Borniertheiten auch überwunden. Und gleichzeitig ist dieser Globalisierungsprozess bis vor 20, 30, 40 Jahren immer eingebunden gewesen in staatliche und sozialstaatliche Regulierungen. Staatliche, was den Handel betrifft, also bestimmte Zollgrenzen, bestimmte Handelsmarkierungen, die der Staat vorgegeben hat.
- Kluge
- Der Nationalstaat nimmt ein Interesse seiner Bürger auf, definiert es, und hält es dem Markt entgegen. So kann man es doch nennen.
- Negt
- Ja, nach außen und nach innen. Nach außen, also was Freihandel betrifft, die Grenzen des Freihandels, und nach innen die sozialstaatliche Komponente, die natürlich sehr stark auch geprägt ist durch die gewerkschaftlichen Kämpfe und durch die Arbeiterbewegung. Aber er nimmt das auf. Es wird sozialstaatlich sanktioniert, was an solchen sozialen Errungenschaften vorliegt. Und Globalisierung heute bedeutet, dass diese Grenzmarkierungen außerhalb der kapitalistischen Logik zerbrechen. Sowohl die sozialstaatlichen Verankerungen wie auch, was eben genau so schlimm ist, dass der Kapitalismus dadurch, dass nach der Oktoberrevolution eine Art Alternative entstand, sich immer damit befassen musste, besser und freier zu sein, also freiere Bürger, gesichertere Bürger, angstfreiere Bürger zu haben. Diese Abgrenzungsrealität gegen den Ostblock ist zerbrochen. Und jetzt bewegen wir uns in einer Zeit, die eigentlich keiner der bürgerlichen Ökonomen für möglich gehalten hat, dass der Kapitalismus sich völlig frei bewegt von allen Schranken und allen Barrieren, allen Beißhemmungen auch. Und das ist ein weiteres Element der Globalisierung. Globalisierung in diesem Sinne ist ein Erpressungsmittel.Wenn ihr nicht Löhne senkt, wenn ihr euch nicht zufrieden gebt mit dem, was wir euch vorschreiben, dann gehen wir in andere Länder. Das erfolgt nicht, aber es ist ein sehr starkes öffentliches Erpressungsmittel, diese Globalisierungsdrohungen auch.
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- Oskar Negt, Soziologe
- Kluge
- Wenn wir uns einmal in Adam Smith hineinversetzen, den großen Nationalökonomen an der Grenze des 18. Jahrhunderts. Wie würde der Globalisierung positiv fassen? Also zum Beispiel das Problem aufgreifen, dass Südamerika in seinen Wirtschaftsströmen, in seiner Produktivität ja tun kann, was es will. Aber ein Mensch, der dort geboren wird, kann nicht gleichwertig werden einem Menschen, der in Europa in einem Industriegebiet geboren ist, Krise hin oder her. Afrika mit einem Prozent Kontakt zum Weltmarkt kann gar nicht die gleichen
- Chancen haben, so dass also hier
- Du bist ungleich geboren, noch mal wieder auf einer ganz anderen Weise als in der Französischen Revolution ausgedrückt wird weltweit.
- Negt
- Die Idee der invisible hand bei Adam Smith mit der unsichtbaren Hand, die das reguliert, ist bei ihm selbst immer sehr vorsichtig interpretiert worden. Er ist nicht der Auffassung gewesen, dass das immer funktioniert, dass das Privatinteresse in Konkurrenz dazu führt, dass auch die Gesamtgesellschaft reguliert wird.
- Text
- ABSTERBEN DES STAATES, was heißt das? / Oskar Negt über: Globalisierung als Erpressungsmittel