“Verschleiß” von Menschen / Genosse Mauser / “Opfer der Geschichte”
Transkript: “Verschleiß” von Menschen / Genosse Mauser / “Opfer der Geschichte”
- Text
- “Verschleiß” von Menschen / Genosse Mauser / “Opfer der Geschichte”
- Text
- Aus einem Gespräch mit dem Dramatiker Heiner Müller 1991 / Texte von Carl Schmitt / Befreiung als “Umverteilung von Gewalt” / Chaos als eine Hoffnung? / Rückblick auf 1990 / “Das Bedürfnis nach Gewalt wächst–”
- Heiner Müller
- In Italien war grad so ein Mordfall jetzt. Ein Junge, ich glaube 15, 16, gemeinsam mit seinen Freunden - die sind ins Kino gegangen, zurückgekommen, maskiert, haben die Eltern erstochen, also er, seine Eltern, assistiert von seinen Freunden, waren drei oder vier… Und er hatte zwei Schwestern, die wollten sie auch erstechen, die kamen aber zu spät nach Hause. Die Freunde mussten nach Hause und haben auch gar nicht sich besonders Mühe gegeben, das zu kaschieren, wurden am nächsten Tag gefasst und haben auch gleich alles gestanden, aber ohne jede Reue…
- Text
- Was war Deine Haupttätigkeit 1989/1990 - - ?
- Müller
- Und das war eigentlich meine Haupttätigkeit von September bis März: diese Hamlet-Inszenierung plus „Hamlet-Maschine“. Und das war ganz interessant, weil das lief völlig parallel mit und zu den Ereignissen auf der Straße und überall. Und das war so was wie - ist eine Formulierung von Carl Schmitt, die kennst du - Einbruch der Zeit in das Spiel. Das finde ich eine ganz interessante Überlegung, der…
- Alexander Kluge
- Von dem Staatstheoretiker, Carl Schmitt…
- Müller
- Ja. Es gibt ein Buch über Hamlet von ihm: “Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel”, wo er sagt, dass… Tragödien kann man nicht erfinden oder Tragödienstoffe, das sind Mythen, die man verwendet, verändert, wie immer, aber man kann sie nicht erfinden und die einzige moderne Tragödie für ihn war Hamlet und das ist zur Tragödie geworden durch den Einbruch der Zeit in das Spiel, d.h. der Shakespeare hat das Stück angefangen zu schreiben, noch unter der Regierung von der Elizabeth, also Tudors und dann kamen die Stuarts, Jakob, das war der Sohn von Maria Stuart und es gab ein Gerücht, dass die Maria Stuart den Mörder ihres Mannes geheiratet hatte. Das war also plötzlich der Hamlet-Stoff. Damit rutschte das Stück in eine Aktualität, die nicht zu ertragen war, also das Theater politisch, und Shakespeare musste das Stück verdunkeln und verwirren.
- Kluge
- Ach, und dadurch kommt der Hamlet…
- Müller
- Und dadurch wurde es eine Tragödie.
- Kluge
- Dadurch wird es eine Tragödie und dadurch… Sonst hätte es ein Boulevardstück sein können… oder ein Entspannungsstück, Actionstück…
- Müller
- Ja. Oder einfach ein Rachedrama…
- Kluge
- Rachedrama, ja. Und es verliert seine Unschuld…
- Müller
- …durch diesen Einbruch der Zeit und dadurch wird es eine Tragödie.
- Text
- Maria Stuart, Hinrichtung der schottischen Königin
- Kluge
- Silvester. Was hast du da gemacht, 1990?
- Müller
- Das weiß ich, glaube ich, ziemlich genau, da habe ich… Mein Traum war immer Silvester allein zu sein in dem ganzen Lärm und zu arbeiten und das habe ich, glaube ich, gemacht.
- Kluge
- Und was hast du gearbeitet?
- Müller
- Ich hab irgendwas geschrieben, ich weiß nicht mehr, was das war…
- Kluge
- Und was hast du geschrieben?
- Müller
- Weiß ich nicht. Aber das war eigentlich für mich einer der ruhigsten Tage, also einer der wenigen Tage, wo ich allein war, weil alle anderen waren mit Feiern beschäftigt. Das war immer mein Traum gewesen, mal Silvester nicht mit Leuten zusammen zu sein und allein zu sein und was zu tun.
- Kluge
- Um 12 Uhr bist du auf?
- Müller
- Jaja.
- Kluge
- Vorhin war die Rede von Carl Schmitt. Wenn du mal unseren Zuschauern erläutern kannst: wer ist Carl Schmitt überhaupt? Schmitt ist ja ein relativ normaler Name, mit zwei “t” geschrieben…
- Müller
- Ja, ja. Für mich war er ursprünglich der… oder zuerst der Autor eines Textes zur “Theorie des Partisanen”, den kennst du. Und das war für mich ein sehr wichtiger, ich weiß gar nicht mehr…
- Kluge
- Ein später Text, ein extrem später Text.
- Müller
- Ja, ja, ich weiß. Das war der erste Text, den ich gelesen habe. Danach habe ich diesen Hamlet-Text erst gelesen. Und für mich war das ein ungeheuer wichtiger Text, weil…
- Text
- Carl Schmitt über: Industrialisierte Brutalität, Französische Revolution, und das totale Feindbild
- Müller
- …so dieser konservative Blick auf die Revolution, auf die Problematik von Revolution, also der Punkt, dass erst mit der Französischen Revolution, mit der Idee und der Realität des Volkskriegs entstand die Notwendigkeit des totalen Feindbilds.
- Kluge
- Die Brutalität entsteht.
- Müller
- Ja, ja, ja. Und das war für mich sehr wichtig.
- Kluge
- Industrielle Brutalität.
- Müller
- Ja, ja, ja, ja.
- Kluge
- Wann bist du eigentlich auf den gestoßen? Du kennst doch relativ viel Texte von ihm…
- Müller
- Ja. Ich glaube, erst in den achtziger Jahren, so Mitte achtziger Jahre. Das erste war “Theorie des Partisanen” und danach kam so einiges andere.
- Kluge
- Was sagt er in der „Theorie des Partisanen“?
- Müller
- Der Hauptpunkt war für mich eigentlich die Verbindung von Revolution und Feindbild. Also Feindbild ist ja eine Hauptkategorie bei ihm, also eigentlich die politische Kategorie…
- Kluge
- Politik ist die genaue Bestimmung des Feindes.
- Müller
- Genau. Und in dem Text ist die Grundthese eigentlich, dass mit der Revolution, mit der Französischen Revolution, also Volkskrieg, entfällt die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Militärs, also vorher…
- Kluge
- Weil die ganze Nation sich militarisiert!
- Müller
- Genau. Vorher hatte Krieg einen Duellcharakter und der fällt weg mit der Französischen Revolution und mit der Revolution, mit dem Konzept oder mit der Realität des Volkskriegs entsteht die Notwendigkeit des totalen Feindbilds. Und es gibt keine Zivilisten mehr und diese Unterscheidung fällt weg.
- Kluge
- Und jetzt: Was ist die Folge für den Partisanen davon?
- Müller
- Die Konsequenz ist eigentlich in dem Text, dass… in einer modernen, also technokratisch definierten Struktur, ist der Partisan so etwas wie ein Hund auf der Autobahn. Das ist die ziemlich gnadenlose Konsequenz daraus. Und mit der Möglichkeit des Atomkrieges: das totale Feindbild. Der Feind muss ein Feind der Menschheit sein, damit man diese Technologie, diese Waffen gegen ihn anwenden kann. Man muss ihn zum Feind der Menschheit machen, sonst kann man diese Waffen nicht anwenden.
- Kluge
- Diese Waffen sind so ungewöhnlich brutal, dass dahinter die Bilder der Französischen Revolution, der Emanzipation nicht aufgestellt werden können, auf der einen Seite. Und eine ganz besonders hohe Moralität würde so brutal sein müssen, dass Friedensschlüsse gar nicht mehr möglich sind, richtig?
- Müller
- Ja. Ich find auch in dem Zusammenhang wichtig, dass, glaube ich, von dem Flusser, den kennst du? …
- Kluge
- Ja.
- Müller
- …einfach dieser Satz, dass man die bolschewistische Revolution nicht erklären kann aus der Französischen. Man kann aber die Französische nur erklären aus der bolschewistischen.
- Kluge
- Wie geht das? Das habe ich nicht verstanden.
- Müller
- Ja. Das finde ich ganz gut, weil: er geht aus von einem anderen Begriff von Zeit. Es ist kein linearer Begriff von Zeit und man versteht die Französische Revolution erst, wenn man die bolschewistische im Blick hat.
- Kluge
- Also die Zukunft erklärt, begründet überhaupt erst die Vergangenheit.
- Müller
- …begründet die Vergangenheit, ja. Ich glaube Lenin war viel pragmatischer…
- Kluge
- Aber Lenin interessiert sich ja nicht für die Armen…
- Müller
- …viel pragmatischer und viel zynischer.
- Kluge
- Gut. Also mag er sich für Macht interessiert haben, aber ob er sich für die Armen interessiert hat, das weiß ich gar nicht genau.
- Müller
- Ne, ich glaube nicht, ne.
- Kluge
- Und was die Armen in Russland sind, das weiß man gar nicht genau. Das ist so ungeheuer viel im Jahre 1917…
- Müller
- Es gibt so ein - das ist jetzt eine Abschweifung, aber… - von einem Italiener, dessen Namen ich natürlich vergessen hab jetzt, aber vielleicht kennst du das Buch „Das Schweigen des Körpers". Ich weiß den Namen des Autors jetzt nicht. Das ist so eine Sammlung von merkwürdigen Aphorismen und einer davon ist: “Das russische Volk mit seinem tiefen Instinkt für ein langes Leiden entschied sich für Lenin und nicht für Kerenski”.
- Kluge
- Steht da drin?
- Müller
- Ja. Das finde ich eigentlich ganz gut.
- Kluge
- Wenn du mir mal Kerenski beschreibst. Das ist der Diktator der Februarrevolution 1917, die alle zunächst mal mit einer Euphorie erfüllt.
- Müller
- Naja, es war der Versuch wahrscheinlich, die europäische Entwicklung nachzuholen, aber nicht mit einem Schnitt.
- Kluge
- Nein. Also die Französische Revolution in Form der französischen Republik gewissermaßen in Petersburg einzuführen. Und zunächst einmal geht eine Euphorie davon aus, dass jetzt Demokratie und nicht mehr der Zar bestimmt.
- Müller
- Das war Kerenski, ja.
- Kluge
- Sehr schnell müssen sie sich in den bösen Menschen von Sezuan verwandeln, weil das Ganze überhaupt nicht klappt. Es ist Freiheit, parlamentarische Freiheit, Schwierigkeiten und jetzt entwickelt sich ein Diktator, eine Art Bonaparte, ohne dass die Französische Revolution vorher stattfand, richtig?
- Müller
- Kerenski war der Versuch, glaube ich, die Resultate der Französischen Revolution für Russland herzustellen und Lenin dann der Versuch, die Französische Revolution noch mal zu machen in Russland. Und so verstehe ich den Flusser eigentlich.
- Kluge
- Und wenn man darauf jetzt noch mal einen Moment beharrt: Der Kerenski macht das, was die Franzosen, die französischen Patrioten machten. Sie sind völlig indifferent gegenüber dem Krieg, d.h. sie potenzieren ihn. Jetzt geht der Krieg erst richtig los. Das ist der Punkt bei Kerenski: am Krieg ändert sich gar nichts, aber er wird demokratisch verwaltet. Es ist eine andere Form der Administration. Eine Administration über “les nouveaux riches”, die Neureichen, die Neuen, die Neuarmen. Und demgegenüber ist bei Lenin - das kannst du jetzt 50 mal idealistisch bezeichnen, aber bei Rosa Luxemburg auf jeden Fall und beim Kienthaler Kreis insgesamt - der Protest gegen die Barbarei von Verdun. Der setzt die doch erst richtig in Gang. Und die Aprilthesen handeln eigentlich von… dass Krieg aufhören muss. Ist das eine bloße Taktik oder ist das der Kern? …
- Text
- Das Entweder/Oder aus den Massakern des 1. Weltkrieges: “Sozialismus oder Barbarei”
- Kluge
- Das ist die Barbarei selber, für alle Beteiligten, der Weltkrieg. Und jetzt ist er rechthaberisch genug um zu sagen: So, und wir sind in der Lage ein Konzept der Menschheit zu entwickeln, dass anders funktioniert, dass es nicht zum Krieg führt. Mindestens diese eine These hat er eigentlich selber und mit seinen Nachfolgern eingehalten. Kriege haben die nicht angezettelt.
- Müller
- Nur den totalen Bürgerkrieg.
- Kluge
- Ok. Was heißt der totale Bürgerkrieg, was heißt das?
- Müller
- Naja, ich glaube, die geniale Idee von Lenin war, dass man die Massen nur gewinnen kann mit dieser Haltung gegen den Krieg. Den Krieg wollte keiner mehr, die wollten alle, dass das aufhört. Das war die geniale Idee. Und damit konnte man die Massen gewinnen.
- Kluge
- Und jetzt entsteht freiwillig oder unfreiwillig ein Bürgerkrieg?
- Müller
- Dann entstand der Bürgerkrieg einfach aus…
- Kluge
- …oktroyiert zunächst…
- Müller
- Ne, aus der Situation der Unterentwicklung. Und oktroyiert natürlich von außen, das ist wahr, klar.
- Kluge
- Da kommen ja nun ’ne Menge Mächte…
- Müller
- …und ich glaube, man muss das auch mal ernst nehmen, diese These von Toynbee, glaube ich, dass… die Industrialisierung Russlands war nur möglich mit einer westlichen Ideologie. Und der Marxismus als Vehikel des Frühkapitalismus in Russland.
- Kluge
- Nun weiß man ja auch gar nicht, warum agrarische Nationen…
- Müller
- …industrialisiert werden müssen, ist klar…
- Kluge
- …industrialisiert werden müssen…
- Müller
- Das wusste aber Lenin nicht. Ich glaube es gibt so… die letzten Telegramme von Lenin sind ja ganz schön, [wenn er] zum Beispiel in einem einfach sagt, kurz bevor er starb, dass er… er kannte Europa, er kannte die deutsche Philosophie, er kannte den Marxismus, aber er kannte Russland nicht. Ich glaube, das ist der Punkt einfach, dass der eigentlich Fehler von Lenin, dass er nicht auf die Idee kam, dass das in Russland auch ganz anders laufen könnte. Also die Chance der Verlangsamung, die hat er nicht erkannt.
- Text
- “Lenin, der ewige Emigrant, erkennt zu spät, wie wenig er von Rußland weiß –”
- Müller
- Und immer mit Blick auf den Westen, also aus dem Minderwertigkeitskomplex des Unterentwickelten eigentlich.
- Kluge
- Wie hätte das in Russland laufen können?
- Müller
- Du, das weiß ich auch nicht, aber ich find schon einen Punkt ganz interessant bei Solschenizyn, so fragwürdig das alles ist, aber in Fortsetzung von Dostojewski. Und Dostojewski hatte ja immer diese große Angst vor dem Westen, wenn der Westen nach Russland kommt. Bei Carl Schmitt zum Beispiel in der “Theorie des Partisanen” gibt es so ein Zitat. Also einmal: Russland ist reif für eine soziale Revolution. Das schlimmste, was Russland passieren kann, ist ein akademischer Pugatschow. Das finde ich einen großen Satz.
- Kluge
- Das ist ein großer Satz…
- Müller
- Und Lenin war natürlich, auch für Schmitt, der akademische Pugatschow.
- Müller
- Da verstehst du diesen Satz von dem Italiener in dem Instinkt für das lange Leiden.
- Kluge
- Instinkt für das lange Leiden…
- Müller
- Ja, ja. Dass das russische Volk mit seinem Instinkt für das lange Leiden, für ein langes Leiden, Lenin gewählt hat und nicht Kerenski.
- Kluge
- Aber wie verstehst du “langes Leiden”? Würde das bedeutet, dass das Leiden schwächer wird?
- Müller
- Ne, es hat aber zu tun mit der Geschichte von Russland. Das war das dritte Rom. Byzanz, das zweite, Moskau, Russland…
- Kluge
- Das dritte Rom…
- Müller
- …das dritte Rom, ja. Es ist nicht so einfach, weil es gibt von Foucault so einen merkwürdigen Text - kennst du den? - “Das Licht des Krieges”…
- Kluge
- Nein, was heißt das?
- Müller
- So eine Mitschrift von einer Vorlesung, wo er so versucht… eine Schematisierung von europäischer Geschichte, und [er] beschreibt die zwei Hauptlinien: die eine ist die jüdisch-christlich-messianische…
- Kluge
- Die ist bekannt ja, richtig.
- Müller
- Kennst du. Die andere ist die römisch-staatliche. Und die zwei letzten Ausformungen oder Ausprägungen der jüdisch-christlich-messianischen sind der Nationalsozialismus und der Bolschewismus.
- Kluge
- Harte These!
- Müller
- Ne, das ist nicht nur hart, weil, wenn du dich erinnerst, die Naziterminologie war ganz jüdisch. Das Tausendjährige Reich und dann gibt es von Lyotard diesen merkwürdigen Versuch zu erklären, warum der deutsche Antisemitismus so besonders brutal war. Weil für die Germanen… die Missionare kamen aus Rom, der Hauptstand der Germanen waren die Franken…
- Text
- Eine These des französischen Philosophen Lyotard, der eine Behauptung des Theoretikers Foucault erweitert –
- Müller
- …und die Missionare haben den Franken erklärt: Ihr seid die Führungsnation, die führende Nation der Germanen und ihr seid das auserwählte Volk und deswegen müsst ihr als erste das Kreuz nehmen. Und die Franken nahmen das Kreuz und damit alle Germanen, weil sie das auserwählte Volk waren. Im Mittelalter tauchte plötzlich ein zweites auserwähltes Volk auf: die Juden, in Europa. Und es kann nicht zwei auserwählte Völker geben, das ist ausschließlich der Konflikt dann und es kommt tief aus dem Unterbewusstsein, aus der Geschichte dann, diese Tödlichkeit des Konfliktes.
- Kluge
- Es gibt den Satz: Sozialismus oder Barbarei. Das ist ein Satz von einer Französin, aber Rosa Luxemburg hat diesen Satz aufgegriffen und dieser Satz bezieht sich ausschließlich auf den ersten August 1914 und ist das Protestpotential, das sagt: wer diese Art von Barbarei auf europäischem Boden, Kriege anzuzetteln, die hinterher erstens nichts entscheiden, zweitens eine Schlachtbank, industrialisierten Tod organisieren… und diese Art von Krieg, sei es als Bürgerkrieg oder als Außenkrieg, muss vermieden werden, sonst ist dieses 20. Jahrhundert überhaupt des Teufels.
- Müller
- Das ist ja das Problem. Bei dem Golfkrieg, das erste, was mir einfiel war, wie sehr dieser eine Satz von Hitler die Geschichte dieses Jahrhunderts bestimmt, immer noch. In der Rede vor dem Industrieclub - du kennst die - wo er sagt, der Lebensstandard der weißen Rasse kann nur hochgehalten werden, wenn der Standard der anderen Rassen niedrig gehalten wird und dazu genügen nicht mehr politische und ökonomische Mittel, dazu braucht es jetzt militärische Mittel. Und das ist ja die Frage… Und der andere Punkt ist - ich kann es jetzt nicht mit Zahlen belegen -, aber ich glaube, es gibt da so eine Ausrechnung - ich weiß nicht wie korrekt das ist -, dass seit einiger Zeit die Anzahl der Lebenden die Anzahl der Toten in der Geschichte der Menschheit, soweit sie überschaubar ist, übersteigt. Das ist doch eine ganz neue Situation. Bisher waren die Toten immer die Mehrheit…
- Kluge
- …immer die Mehrheit…
- Müller
- …und jetzt sind sie die Minderheit…
- Kluge
- Aha…
- Müller
- Also sie müssen… Diese Minderheit muss gestärkt werden. Es gibt zu viel lebende Menschen, das ist doch die neue Situation. Und die können nicht alle leben. Also jetzt mal ganz barbarisch gedacht.
- Kluge
- Und jetzt ist das Konzept, das der Französischen Revolution, der russischen Revolution zugrunde liegt - die russische Revolution als Bestätigung, also die nachträgliche Rechtfertigung der Französischen, dass es Lebensmöglichkeiten für beliebig viele Menschen geben möge.
- Müller
- Ja, ja. Gibt es aber nicht…
- Kluge
- Und das wäre das Utopische?
- Text
- Eine Haltung von Tolstoi zum Untergang der Menschheit –
- Müller
- Und er sagte dazu nur, die Dinosaurier sind auch ausgestorben. Das ist auch eine mögliche Position.
- Kluge
- Ihm war das kein Argument, um ihn zu einem alternativen Verhalten zu veranlassen…
- Müller
- Ne, ne, überhaupt nicht.
- Kluge
- …wobei er nicht annahm, dass die Menschheit deswegen aussterben muss, weil die Dinosaurier ausstarben, sondern dass er sich nicht zu falschem Verhalten…
- Müller
- …ne, aber er fand es nicht wichtiger…
- Kluge
- …er fand es nicht wichtiger.
- Müller
- Die Frage ist, ob man - ist jetzt aber ganz… absolut theologisch-anarchistisch -, ob man nicht den Unterschied zwischen Leben und Tod überschätzt…
- Kluge
- Weil für das Individuum ist es ja Überschätzung…
- Müller
- Ja, und weil auch… Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird Leben ja immer unlebbarer und immer weniger an Wert…
- Kluge
- …Und der Verwaltungsvollzug von Leben wäre ja nicht das, was die Evolution mit einem Sinn versieht.
- Müller
- Genau, ja, ja, ja.
- Kluge
- Und da würdest du was sagen?
- Müller
- Ich kann es zunächst mal nur ganz subjektiv sagen. Als ich zum Flughafen fuhr heute Morgen, war mir ziemlich schlecht, weil ich wenig geschlafen hatte, wegen des gestrigen Tages. Ich war auch erst nach eins zu Hause, weil da noch eine Veranstaltung war in der Akademie und ich bin 62 Jahre alt, da muss ich also irgendwie damit leben, dass ich sterbe irgendwann und ich merke zunehmend, dass mich das gar nicht mehr so sehr interessiert, ich hab keine Angst mehr davor. Gut, das ist eine Altersfrage, das kann man darauf abschieben, aber ich glaube, das ist auch noch was anderes. Dass für… immer mehr für Massen das Leben obszön wird und der Tod an Obszönität verliert. Das ist ein Reflex auf das, was du sagst, also mit dem Ersten Weltkrieg und so. Da hat etwas angefangen, ein Prozess angefangen, der jetzt schon Folgen hat, auch für individuelles Verhalten.
- Kluge
- Und ein Verdun, ein Gaskrieg, könnte sich auch durch einfache Spießigkeit des Alterslebens wiederholen, sodass also dort ebenfalls Stellungskrieg stattfindet: im Leben.
- Müller
- Klar, ich meine es ist ja… Alle Lebensformen sind kriegerisch jetzt und du kennst diese blöde Rechnung, wie viele Tote durch Verkehrsunfälle es gibt in der ehemaligen DDR und das steht in überhaupt keinem Verhältnis zu den Toten an der Mauer. Das wurde einfach nachgeholt, was da gefehlt hat und das geht weiter, dieser Prozess.
- Kluge
- Wenn du einmal - es gibt doch bei Marx die Bezeichnung “lebendige Arbeit”, “tote Arbeit”, also lebend und tot, das durchzieht seine ganzen Überlegungen. Wenn du einmal sagen würdest: was wäre eigentlich Leben, das Lebendige? Wenn es nicht einfach darauf besteht, verwaltete Existenz zu sein? Was würden Dramatiker da sagen, sozusagen, dass er sagt, das ist ein Wurf, das gibt es, das ist lebendig?
- Müller
- Du für mich persönlich ist es so im Moment - das ist jetzt eine ganz naive Antwort -, wenn ich morgens aufstehe, weiß ich schon: ich werde nicht Zeit haben an diesem Tag für das, was ich eigentlich tun möchte. Ich werde also Dinge tun müssen, die mich nicht wirklich interessieren. Damit vergeht Lebenszeit, die ich eigentlich ganz anders gebrauchen möchte. Und ich würde gerne was machen oder was schreiben oder auch inszenieren, was mit der Realität nur zu tun hat als Entwurf einer anderen Realität. Ich merke, wie mir die Situation die Zeit dafür wegnimmt und damit wird Leben immer mehr leere Zeit. Gestern Abend zum Beispiel war eine Veranstaltung in der Akademie von einem sehr begabten, eigentlich Clown, also ein junger Mann aus Leipzig, der seit Jahren schon Solo-Programme macht über die Zeit und aktuelle Dinge, aber er macht das sehr schön. Also ein bisschen von dem Valentin bis zu sonst wem. Ich hab einiges von ihm vorher gesehen. Gestern war ich eigentlich ziemlich traurig, weil ich plötzlich merkte, dass da eigentlich etwas stattfindet, was den Satz von Baudelaire belegt: “Die Langeweile ist der auf die Zeit verteilte Schmerz”. Das ist, glaube ich, jetzt eine Grunderfahrung: die zunehmende Langeweile. Die Langeweile am Leben und der Schmerz, der zu tun hat mit dem Entzug von Leben, der wird nur noch als Langeweile empfunden. Und es gibt leere Zeit und nur noch leere Zeit.
- Kluge
- Das ist der Gegenpol von Leben.
- Müller
- Ja, leere Zeit ist das Gegenteil von Leben eigentlich.
- Kluge
- Könntest du dich aufraffen, erfüllte Zeit als Leben zu bezeichnen?
- Müller
- Ich glaube schon, ja. Und das eigentlich Schlimme ist ja, wenn du dich erinnerst an dies Kapitel bei Solschenizyn, 1914…
- Text
- Alexandr I. Solschenizyn, August 1914, Roman
- Müller
- …wo der - ich weiß den Namen jetzt nicht - dieser Offizier über ein Schlachtfeld reitet und er denkt an seine Frau in, ich glaube Petersburg und hat plötzlich das Gefühl, er braucht gar keine Frau, er braucht kein Leben, der Krieg ersetzt das alles. Also eine von ihm nicht mehr verantwortete Zeit, ein von ihm nicht mehr verantworteter Prozess. Das ist ihm alles abgenommen, alle Verpflichtungen, alle Bindung und er braucht alles andere nicht mehr. Und der Krieg ist die eigentlich leere Zeit, die Erfüllung der leeren Zeit.
- Kluge
- Dann hättest du jetzt August 1914. Wie das Ding ja heißt, der Roman von Solschenizyn und ich glaube, dass das unsere Grundwunde ist: Wer Antworten hat auf den ersten August 1914, der hat auch Antworten auf das 20. Jahrhundert; der hat auch auf Liebesgeschichten Antworten.
- Müller
- Ja, ja, ja.
- Text
- “Männer und Frauen der russischen Revolution –”
- Müller
- Männer und Frauen der…
- Kluge
- …Revolution…
- Müller
- …russischen Revolution. Und meine erste Reaktion darauf ist eigentlich: Ich kenne einige Gesichter, aber das ist gar nicht mehr wichtig. Man sieht das sind durchweg Menschen, die mit mir was zu tun haben oder mit dir, die mit uns was zu tun…
- Kluge
- …die jung sind…
- Müller
- …die jung sind…
- Kluge
- …irgendwas gedacht haben…
- Müller
- Genau. Und das sind unsere Väter, die keine Zeit gehabt haben, uns zu zeugen und das sind unsere Mütter, die keine Zeit gehabt haben, uns zu gebären. Und das ist das Merkwürdige, dieser Riss. Dass da Leute ihr Leben verbraucht haben, meist sehr früh, für etwas, was für uns nicht mehr existiert oder nur noch als Idee existiert. Und das Phänomen ist der Verschleiß. Was wird alles verschlissen, für ein Ziel, was nicht erreicht wird…
- Kluge
- Wobei der gute Wille mehr verschleißt als der lasche Wille. Ich sag nicht der böse, es ist nicht der Gegenpol…
- Müller
- …Hm, ist klar…
- Kluge
- …sondern der Gegenpol ist einfach der gleichgültige Wille. Der verschleißt gar nicht, sondern der ist evolutiv, also im Sinne von Darwin, ungeheuer erfolgreich.
- Müller
- Ich wollte dir eine Geschichte erzählen in dem Zusammenhang, die mir einfach einfällt, wenn ich diese Fotos sehe. Ich hab mal im DDR-PEN, nachdem ich da aufgenommen wurde… Da gab es ein Ritual, dass man… jedes neue Mitglied musste irgendwas vorlesen. Da gab es so Gebäck und Tee und es war sehr ästhetisch im Sinn von Heine und ich hab da - das war vor zehn oder zwölf Jahren - hab ich einen Text von mir vorgelesen, den du sicher kennst: “Mauser”. Das ist eine Variante auf “die Maßnahme” von Brecht. Hab das vorgelesen und da waren…
- Kluge
- Was ist denn jemand wie “Mauser” noch mal schnell, für die Zuschauer?
- Müller
- Ja, du, es ist die Geschichte eines Mannes. Der Stoff kommt eigentlich von dem… aus Scholochow, dem „stillen Don“, ein Mann, der von der Partei beauftragt wird jetzt das Revolutionstribunal zu leiten während des Bürgerkriegs…
- Kluge
- …deswegen Genosse Mauser…
- Müller
- …und er muss Leute erschießen.
- Kluge
- Weil die Mauser-Pistole die Pistole der Revolution war…
- Müller
- Genau. Und er macht das und irgendwann kommt der Punkt, wo er Spaß dran hat es zu machen, weil anders hält man es nicht aus und dann muss er erschossen werden. Das ist die Geschichte eigentlich. Also der Verschleiß eines Menschen für eine Aufgabe…
- Text
- “Verschleiß” von Menschen / Genosse Mauser / “Opfer der Geschichte”
- Müller
- …wie immer man die Notwendigkeit einschätzt, aber… und der muss dann weg, weil er daran Spaß findet. Und dann sagte der Hacks irgendwas: das wäre völlig uninteressant, das wäre Schludigerproblematik, also ‘68 und so; noch einer, Herzfelde, sagte, ja, das wäre Stalinismus. Und dann - und das wollte ich eigentlich erzählen - sprach der Eduard Claudius, den du vielleicht gar nicht kennst, ein Autor, der kam aus dem Bund proletarischer Schriftsteller vor ‘33. Sicher kein großer Schriftsteller, aber der war in Spanien als einziger von denen, glaube ich, aktiv, also als Soldat und hat ein paar ganz gute Sachen geschrieben in der DDR-Zeit. Sicher, Literatur ist da gar nicht wichtig. Und der sagte, er müsste jetzt leider gehen, weil er zum ersten Mal ein Visum nach Paris gekriegt hat und er hatte immer ein Einreiseverbot nach Paris, weil er in diesem südfranzösischem KZ war, in Lagnes und muss jetzt gehen. Er möchte nur sagen, er würde das alles ja nicht verstehen, auch die Diskussion darüber, aber er möchte nur sagen, ihn hätte das erinnert an eine Situation, die er erlebt hat in Spanien, nach der Schlacht bei Teruel, wo die Roten gesiegt hatten und dann sahen sie alle diese toten Marokkaner, diese schönen jungen Menschen, die mit dem ganzen Kampf eigentlich nichts zu tun hatten und die waren so schön und tot und daran würde ihn das erinnern.
- Kluge
- Hier ist Anselm Kiefer. Wenn du mal sagst, was du in diesen Bildern siehst? Das ist zum Beispiel “Flugzeuge aus Blei”.
- Text
- Flugzeuge aus Blei von Anselm Kiefer
- Kluge
- Was kannst du mit Anselm Kiefer anfangen?
- Müller
- Der erste Vorteil ist, dass dieses Flugzeug nicht fliegen kann. Das ist ganz wichtig. Da wird etwas stillgelegt, etwas fix gemacht, was, wenn es sich bewegt, tödlich ist. Dazu gehört eine absolute Entscheidung für ein unmoralisches Verhalten. Wenn du als Künstler moralisch wirst, bedienst du die Strukturen. Du kannst dich nur eigentlich genießerisch verhalten zu dem was passiert und du kannst Kunst machen nur aus einem Einverständnis und - jetzt mal ganz brutal formuliert, ich unterstell das mal - der Kiefer ist einverstanden damit, dass es solche Flugzeuge gibt, dass die Tötungsinstrumente sind. Aus diesem Einverständnis macht er das. Und damit macht er was anderes…
- Kluge
- …Das heißt sie sind ein Gegenmittel, weil er verstanden hat, worum es sich handelt…
- Müller
- Ja, ja, damit macht er was anderes, ja. Aber ohne dieses Einverständnis… aus der Polemik kannst du nichts machen. Na, ich glaube, es gibt einen Zusammenhang zwischen der… da gibt es die Mechanisierung des Tötens und das wird immer abstrakter, der Pilot, also schon im Stuka… der wurde nur noch gelenkt und geleitet…
- Kluge
- …wird jetzt hier sozusagen mit Radar über [unverständlich]
- Müller
- Und das ist wie ein Video-Erlebnis oder am Spielautomaten und der hat überhaupt keine konkrete Beziehung mehr zu dem, was er macht, drückt irgendwelche Knöpfe und da gibt es ein Videobild und dazu gibt es Musik und es ist ein völlig abstraktes Töten, hat mit der Person, mit dem Individuum nichts mehr zu tun, keine Beziehung zu dem, was er tötet und so ist es ein abstrakter Job.
- Kluge
- Dies auf der einen Seite … und auf der anderen Seite?
- Müller
- …und diese Abstraktion… ja, diese Abstraktion. Und auf der anderen Seite wächst wahrscheinlich dadurch das Bedürfnis nach ganz individueller physischer Gewalt oder Gewaltanwendung, und diese Geschichte in Leipzig ist eine von vielen Geschichten: 20 junge Leipziger überfallen ein Asylantenheim, nachts, die Asylanten schlafen alle, Türken, Pakistanis, Inder, was weiß ich, Vietnamesen und überfallen die mit Eisenstangen und Spaten und schlagen die krankenhausreif. Und das nimmt ja zu überall und mit der zunehmenden Abstraktion des Krieges, des Tötens nimmt zu das ganz elementare Bedürfnis nach unmittelbarem Töten. Und ich meine, ich hab in der letzten Zeit öfter nachgedacht über den Begriff “Befreiung”. Befreiung ist ja weiter nichts als eine Umverteilung von Gewalt. Und wie kommt man daraus? Weiß ich nicht…
- Kluge
- Was ist das Dramatische?
- Müller
- Das Dramatische ist, glaube ich, dass das immer undramatischer wird. Das wird immer mehr ein Mechanismus. Und Drama ist nicht mechanisch, Drama ist Duell und Duell heißt, es gibt noch Möglichkeiten und es gibt einen Spielraum von Möglichkeiten und der Spielraum nimmt ab, der wird immer enger und damit verschwindet eigentlich das Drama, es wird ablaufen…
- Kluge
- Wenn du Dramen geschrieben hast, wie hast du das gemacht? Ist das ein motorischer Vorgang, ist das ein epischer Vorgang, ist es ein gedanklicher Vorgang?
- Müller
- Du, es ist vielmehr ein motorischer Vorgang, glaube ich.
- Kluge
- Was war der Inhalt deiner Rede als Kleist-Preisträger?
- Müller
- Das war eigentlich der Versuch, Kleist in Beziehung zu setzten zu dieser Ordnungsvorstellung der deutschen Wiedervereinigung. Es war ja als Ordnung gedacht. Daraus ist aber ein Chaos geworden. Und das ist eine Hoffnung und ich glaube für beide Seiten. Im Moment wird es im Osten als besonders verzweifelt empfunden…
- Kluge
- Unglück empfunden als offene Bindung… ist eine offene Bindung…
- Müller
- …ist eine offene Situation. Und da ist eine Chance für - was ja weggefallen ist durch das Tempo und durch die Art wie das stattfand als Kolonisierung - ist ja, dass alle Möglichkeiten vom Osten her, den Westen zu beeinflussen, sind brutal abgeschnitten worden. Und das wird nicht mehr zu halten sein, glaube ich, diese Trennung.
- Kluge
- Was hast du für einen Beruf? Wie würdest du es nennen?
- Text
- K.H. Bohrer über Heinrich Heine
- Müller
- Du, mein Beruf ist eigentlich… zu beunruhigen, zu irritieren, zu stören; also gängige Vorstellungen zu stören.
- Kluge
- Also nicht Chronist?
- Müller
- Überhaupt nicht. Chronist kann ich vielleicht sein, bin ich vielleicht auch, aber nur so, dass ich, wenn ich etwas als Chronist mitteile, will ich gleichzeitig auch die…
- Kluge
- …artiste-démolisseur, Zerstörungskünstler.
- Müller
- …das Bild von dem, was ich mitteile, unsicher machen…
- Kluge
- …also Zerstörungskünstler…
- Müller
- …und andere Bilder ermöglichen, von dem, was ich erzähle. Wenn ich was produziere, will ich was zerstören. Sonst kann ich überhaupt nichts produzieren.
- Kluge
- Aha, aha.
- Müller
- Und das hat mich an Kleist interessiert: der kann das auch nicht anders. Wenn du nichts zerstörst, kannst du nichts produzieren. Weil, ich meine, Zerstören heißt ja, Produktion ermöglichen, andere Produktion als die gegebene…
- Kluge
- Du bist also in Bezug auf das Schicksal der neuen Bundesländer, wie es jetzt stattfindet, nicht sentimental?
- Müller
- Ne, überhaupt nicht. Ich finde das alles völlig in Ordnung, weil ich glaube, dass - gut, vielleicht ist es ein übertriebener Optimismus - aber ich glaube, dass… aus dieser momentanen Zerstörung wächst Erinnerung. Zunächst ist das, politisch gesehen, sicher… gehen alle Energien, alle kriminelle Energie - und um die kriminelle Energie geht es ja oder die anarchistische -, die gehen sicher alle nach rechts erstmal. Aber ich glaube das ist… das wäre sehr kurzgeschlossen, wenn man davon ausgeht, dass es dabei bleibt…
- Kluge
- Was verstehst du unter krimineller Energie?
- Müller
- Na, kriminelle Energie entsteht, wenn man nicht mehr aufgefangen ist in einer Struktur. Das passiert jetzt Millionen in diesen neuen Bundesländern: da entsteht kriminelle Energie. Die wirkt sich erstmal so aus, dass die Leute sich umbringen; dass sie… die Aggression innerhalb der Familien stattfindet, in der S-Bahn, in der U-Bahn und so. Es wird eine lange Zeit geben, wo sich das einfach…
- Kluge
- Das sind übrigens die Züge, die von Berlin auf zehn Meter Spurbreite, also relativ große Riesenzüge, über Minsk bis Kasan führen sollten…
- Text
- Zu Weihnachten 1990 / Heiner Müller über Carl Schmitt: Industrialisierte Brutalität und französische Revolution / “Alle Lebensformen sind heute kriegerisch” / Wird der Unterschied zwischen Leben und Tod überschritten? / Ein schwarzer Diskurs
- Kluge
- …und auf der Rückfahrt die ganzen Getreidebeute, also die Beute des Ostens ins Reich bringen sollten. Das war sozusagen das Grundidee des Zweiten Weltkrieges, des Ostkrieges. Das ist der Eisenbahnbeamte, der diese ganze Reichsspurbahn erfunden hat.
- Text
- Aus dem “Gründlichen Gespräch mit Heiner Müller 1991”