St. Petersburg, eine Umbenennung
Transkript: St. Petersburg, eine Umbenennung
St. Petersburg, eine Umbenennung
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- NEWS & STORIES
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- DOPPELMAGAZIN / DOUBLE ISSUE
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- St. Petersburg, eine Umbenennung / Gespräch von Heiner Müller und News & Stories mit Daniil Granin / Kommandant von 9 Panzern vor Königsberg 1945 / Russischer Poet, moralisch unbestechlich / Er wird verglichen mit Heinrich Böll - -
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- Leningrad 1918 / Heute wieder: St. Petersburg
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- Vormarsch der deutschen Armeen 1941 / Die 900 Tage Belagerung von Leningrad - -
- Voice-over
- [Russisch]
- Text
- Schwerer Panzer “Josef Stalin”
- Text
- Daniil Granin
- Daniil Granin
- [Russisch]
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- Ein Gedicht A. Puschkins über die Schönheit von St. Petersburg
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- Rosemarie Tietze, Übersetzung
- Granin (via Dolmetscherin)
- Ich liebe die Schöpfung von Peter, ich liebe dein strenges harmonisches Aussehen, ungefähr so, die, äh, den großmächtigen Fluss, des Granits am Ufer des Flusses, deine Umfriedungen des Eisengitter mit dem Muster, das mondlose Strahlen deiner Nächte. Wenn ich in meinem Zimmer sitze, und lese ohne Lampe, und diese Klarheit der schlafenden Riesenstadt, der Türme der Kirchen …
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- “Ich liebe Dich, Du Schöpfung Peters, / Liebe Dein strenges Ebenmaß, / Der Newa majestätisches Fließen, / An ihren Ufern den Granit und / Deiner Eisengitter Muster, / Deine nachdenklichen Nächte / Durchsichtiges Dunkel, / Mondlosen Glanz, / Wenn ich in meinem Zimmer sitze / Und schreibe, lese ohne Lampe / Und klar die schlafenden Giganten / Der leeren Straßenschluchten sehe - -” / Aus dem Poem: Der Eherne Reiter von Alexander Puschkin
- Alexander Kluge
- Das ist von Puschkin. Und wenn Sie mir mal Leningrad beschreiben.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Leningrad, das ist Schönheit, geschaffen von Generationen der allerunterschiedlichsten Architekten: Italiener, Franzosen, Engländer, Deutsche haben da mitgewirkt. Das ist eine Stadt, die sehr harmonisch innerhalb des Wassers, auf dem Wasser liegt. Es ähnelt Venedig nicht, was sozusagen, dass es bis zum Mund im Wasser liegt.
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- Daniil Granin
- Kluge
- Also Venedig bis zum Mund im Wasser. Dies hier nicht bis zum Mund im Wasser. Bis zu den Knien.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Es steht im Wasser …
- Kluge
- Bis zum Bauch.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Am Wasser.
- Kluge
- Am Wasser.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Vielleicht bis zum Gürtel manchmal, aber es steht am Wasser.
- Kluge
- Was ist Ihre Haltung, dass das jetzt Petersburg heißt?
- Heiner Müller
- St. Petersburg.
- Kluge
- Dass es St. Petersburg heißt?
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- Wie finden Sie, daß Leningrad jetzt wieder St. Petersburg heißt?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Ich war da nicht so ein besonderer Anhänger dieser Umbenennung. Denn anderthalb, zwei Generationen von Menschen haben jetzt da gelebt. Denn man hat sich eigentlich von dem Namen Lenin schon freigemacht, Leningrad existierte für sich. Außerdem ist Leningrad in einer so schwierigen Situation jetzt.
- Kluge
- Aber was heißt dabei Sankt? Denn Peter der Große ist ja nicht heilig.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Ja, deshalb weil das nicht nach Peter dem Großen benannt worden ist.
- Kluge
- Aber er hat es doch gegründet.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Und nicht zu Ehren Peter des … sondern zu Ehren des Heiligen Petrus, seines Beschützers.
- Kluge
- Aber jeder weiß doch, dass das ein Schwindel ist.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Nein, das ist kein Schwindel.
- Kluge
- Aber Peter … Peter der Große hat das Ding gegründet, gebaut.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Aber er hätte sich nie entschlossen, es ihm zu Ehren so zu nennen. Das war der Heilige Petrus.
- Heiner Müller
- Aber im Westen wird es verstanden als eine Heiligung von Peter dem Großen.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Das ist Sache des Westens.
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- Heiner Müller
- Kluge
- Aber es ist doch ein merkwürdiger Zufall, dass also der Gründer der Stadt einen Heiligen gleichen Namens findet, der in Byzanz eine ganz geringfügige Rolle spielt.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Warum, er kann das doch zu Ehren seines persönlichen Heiligen so nennen.
- Kluge
- Aha.
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- Herr Granin, können Sie sich an den Tag erinnern als Leningrad befreit wurde?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Nein, kann ich nicht, weil ich war bereits nicht mehr an der Leningrader Front, ich war in der Panzerschule.
- Kluge
- Wie sieht ein …was für einen Panzer haben Sie gehabt?
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- Daniil Granin
- Granin (via Dolmetscherin)
- Ein schwerer Panzer, IS.
- Kluge
- Josef Stalin, ja. Wie sieht es in einem IS; einem Josef Stalin aus? Ja, links, rechts ….
- Granin (via Dolmetscherin)
- Ich war links oben, ich war Kommandant von dem Panzer, und dann war ich von ’ner ganzen Panzer-Einheit. Ich war zum Schluss … am Schluss des Krieges war ich Kommandant von so ’ner Panzer-Einheit.
- Kluge
- Was macht ein solcher Kommandant?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Er, über Funk gibt er seine Kommandos an seine Panzer … ich hatte neun Panzer zu befehligen. Wir sind dann durch Estland gezogen … dann waren wir in Ostpreußen.
- Kluge
- Sehen Sie da Deutsche, oder fahren Sie einfach an den Flanken entlang?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Wir haben sie schon gesehen, natürlich.
- Kluge
- Ja, ja. Aber flüchten sehen.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Ja. Manchmal sind sie geflüchtet, manchmal haben sie sich zurückgezogen.
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- Ein Vorfall in einem Waldgebiet Rußlands
- Granin (via Dolmetscherin)
- Zwei Gruppen gingen über einen Waldweg, eine sowjetische Aufklärtruppe, und ’ne zweite, ’ne deutsche. Und an einer Wegbiegung sind sie aufeinandergestoßen. Die sowjetische Gruppe ist in den Straßengraben auf der einen Seite gesprungen, und die deutsche Gruppe auf die andere Seite. Ein junger deutscher Soldat hat sich geirrt und sprang in den selben Graben wie die sowjetische Gruppe, und alle fingen an zu lachen. Beide Seiten, unsere wie auch die Deutschen. Und dann konnten sie nicht aufeinander schießen, danach. Er ist dann zu den eigenen Leuten rübergesprungen. Unsere sind in dem Graben leise, äh, still in die eine Richtung gegangen, die anderen sind still in die andere Richtung abgezogen.
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- Eine Episode im Vorfeld des belagerten Leningrad 1941 / Granin muß als Kommandeur die Stadt Zarskoje Selo räumen - -
- Granin (via Dolmetscherin)
- Ich hatte auch so einen komischen Fall im Lauf des, während des Krieges. Und zwar als wir da abgezogen sind aus Zarskoje Selo, da war damals die Stabsführung von unserem Regiment war im Palast, im Palast von …
- Kluge
- Von Zarskoje Selo, dem Zarenpalast.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Dem Zarenpalast von Katharina. In diesem Stabsquartier ist ja ständig was los, Leute kommen, Leute gehen … und ich sagte ja schon, ich war zwei oder drei Tage damals Kommandant von dem Regiment. Und da kommt plötzlich ein Palastaufseher zu mir und sagt: Das ist unmöglich, was Ihre Soldaten sich herausnehmen. Sie gehen über dieses Parkett und ziehen keine Filzpantoffeln an.
- Kluge
- Galoschen an.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Sie machen das Parkett kapputt.
- Kluge
- Mitten im Krieg.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Wir sollten in ein paar Stunden Puschkin übergeben, und er sagt: Ich bin empört, was Sie da machen. Sie als Kommandant müssen das verbieten. Und er hat mich in einen Saal gebracht, ein unglaubliches Parkett, teures Holz, und da hab ich plötzlich gesehen, da wirklich: ein, gekratzt war das, Kratzer von Soldatenstiefeln, beschlagenen, fürchterliche Kratzer …
- Kluge
- Was haben Sie gemacht?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Und ich habs meinen Soldaten verboten, durch diesen Saal zu gehen.
- Text
- Eine bittere Erfahrung im Jahr 1991 - -
- Kluge
- Sie waren jetzt in Berlin, und haben in der Nähe des Brandenburger Turms, das haben Sie in einer Geschichte niedergelegt, Schwarzhändler gesehen, Flohmarkt gesehen, in dem sowjetische Orden und sowjetische Uniformen verkauft wurden. Wenn Sie mir mal Ihre Empfindungen da schildern.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Das war natürlich schon bitter. Das fast nach … etwas über 40 Jahren die Sieger neben dem Reichstag ihre Uniform verkaufen. Das ist natürlich bitter, das Gefühl.
- Text
- Die Eroberung des Reichstags / Berlin 1945
- Text
- Der sowjetische Oberbefehlshaber besichtigt die “Siegessäule”
- Text
- Warum ist Granin wichtig?
- Heiner Müller
- Granin war sehr wichtig in der DDR. Nicht nur in der Kulturpolitik. Er war so was wie ’ne moralische Instanz, also, äh, eine moralische Kritik am System, die in der DDR so nicht geleistet werden konnte erstmal.
- Text
- Heiner Müller
- Kluge
- Konnte man über den Umweg …
- Müller
- Aus Glaubensschwäche. Und dann natürlich auch aus ganz aktuellen Gründen. Also man konnte mit über die Beschäftigung mit sowjetischen Stoffen, Materialien konnte man die DDR kritisieren. Es gab immer diese leichte Arroganz der DDR-Funktionäre gegenüber den Sowjets, dadurch fiel das nicht so auf. Die konnten sich immer darauf zurückziehen dann, bei uns ist das nicht so. Und bis es den Umschlagpunkt gab mit Gorbatschow, von da ab ging nichts mehr, was in der Sowjetunion aktuell war, das war dann in der DDR nicht mehr möglich. Aber Granin war ’ne wichtige Instanz dafür.
- Kluge
- Wurde verglichen mit Böll einerseits und Hans Werner Richter andererseits.
- Müller
- Ganz ähnliche Position wie Böll, ja. Ich hab ihn persönlich kennen gelernt erst bei dieser zweiten von Hermlin organisierten Begegnung, so diese Friedensgespräche, die auch einen halb subversiven Charakter hatten, also aus der Sicht des Politbüros. Und es gab einen Empfang nach diesem zweiten Gespräch, Granin war dabei, hatte da auch gesprochen, sehr scharf; und es waren im Neuen Deutschland Meldungen erschienen über diese Begegnungen mit völlig entstellten Kurzfassungen der Referate. Die wurden immer ins Positive gewendet, die Kritik ins Positive gewendet. Und ich erinner mich, nach dem Empfang standen wir unten auf der Treppe im Staatsratsgebäude, und Granin schrie den Hager an wegen dieser Publikation im Neuen Deutschland. Alle waren empört darüber, und er verlangte von Hager mit Hinweis auf seine Moskauer Möglichkeiten, dass alles so gedruckt wird, wie’s gesagt worden ist. Und es wurde so gedruckt. Allerdings nicht ausgeliefert im Buchhandel. Es war eine interne Publikation.
- Kluge
- Er konnte ja recht authoritär auftreten. Ich hab ihn erlebt in Nürnberg, wo er zum 40. Jahrfeier des 8. Mai 1945 sagte, nachdem ein Film vorgeführt wurde, der die Zerstörung in Köln, den Bombenangriff auf Köln zeigt, sie hätten sich ‘42 als sowjetische Patrioten über so einen Luftangriff gefreut.
- Müller
- Gefreut, ja.
- Kluge
- Ein Erschrecken im Raum, und anschließend eine Einsicht. Das es so etwas wie einen Feind, einen selbstbewussten Gegner, gibt, der durchaus jetzt kein Feind ist.
- Text
- … Herr Granin, im Jahre 1941 sind Sie 22 Jahre alt?
- Kluge
- Sie sind 22 Jahre alt gewesen 1941.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Kluge
- Er war 21. Wenn Sie mir mal beschreiben … lebten Sie damals in Leningrad? Wie haben Sie das erlebt, als die Deutschen vor der Stadt erschienen?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Also, Anfang des Krieges oder an der Stadt?
- Kluge
- An, in der Stadt, als sie kommen …
- Granin (via Dolmetscherin)
- Vom ersten Tag des Krieges an hab ich sofort mich eingetragen als Freiwilliger. Ich hatte damals in der Kirow-Fabrik gearbeitet, und zwar hab ich Panzer konstruiert. Ich wurde dann nicht in die Armee eingezogen, weil wir durften sozusagen nicht zur Armee. Und ich hab aber immer wieder versucht … dann ist mir schließlich gelungen, dass ich in die Volkswehr gekommen bin. Und am 4. Juli dann sind wir an die Front gekommen. Und das war irgendwo bei Luga in der Gegend. Und wir kamen aus dem Zug direkt in ein Bombardement, unsere Division wurde bombardiert … das war eine Division, die eben aus Freiwilligen bestand, das waren keine angelernten Militärs. Wir hatten überhaupt keine Waffen, wir bekamen nur Flaschen mit entzündbarem Material.
- Kluge
- Molotow-Cocktails.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Ich hab nicht mal ein Gewehr gehabt. Dann bekamen wir … jeder bekam zwei Granaten. Das heißt, wir waren wirklich nicht mal bewaffnet am Anfang. Wir wollten einfach also sozusagen mit unserer Brust verteidigen für uns. Wir konnten natürlich gar nicht kämpfen. Wir haben … zum allerersten Mal geschossen. Es gab bei uns schon ein paar ältere Leute, Meisteringenieure, die noch im Bürgerkrieg gekämpft hatten. Sie wussten, was das ist, der Krieg, aber das war der damalige Krieg, den sie kannten. Jedenfalls … trotz dieser fürchterlichen Verluste, die wir hatten, haben wir die Deutschen aufgehalten. Ich glaub, so etwa zwei Wochen haben wir sie aufgehalten.
- Kluge
- Und wie haben Sie das gemacht?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Wir haben geschossen. Haben uns vor die Panzer geworfen, haben diese Molotow-Cocktails geworfen. Das waren einfach sehr … diese, diese Volkswehr-Leute, das waren sehr mutige Leute. Das war eine Art von völlig verzweifeltem Mut. Wir dachten, wir haben eine mächtige Armee. Wir dachten, wir seien bereit zum Krieg.
- Kluge
- Wir erobern Warschau, wir erobern Berlin.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Wir glaubten, überhaupt mit uns könnte keiner einen Krieg führen von vornherein, denn … sobald es irgendwie eine Berührung mit uns gäbe, so würde jeder verstehen, dass gegen Proletarier kann man nicht kämpfen.
- Müller
- Warum nicht, weil sie Proletarier sind, oder weil sie so stark sind?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Weil sie Proletarier sind. Die internationale Solidarität, Proletarier aller Länder vereinigt euch! … das geht nicht.
- Text
- Heiner Müller
- Müller
- Und was war denn sein Motiv, sich dauernd freiwillig zu melden? Es hat ja lange gedauert, bis er angenommen wurde.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Das war die Empörung gegen diesen üblen Überfall. Ein Protest gegen den Faschismus.
- Kluge
- Ein Moment, gestern haben Sie gesagt, Sie waren moralisch entwaffnet, Sie konnten nicht gleich hassen. Der Hass braucht lange Zeit.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Der Krieg hat den Hass erzogen. Aber zuerst war das einfach nur ein Protest, Zorn war das.
- Kluge
- Ach, und der Zorn reicht, um sich freiwillig zu melden. Man wird dadurch noch nicht ein Soldat. Und jetzt sind Sie … und wie sind Sie jetzt nach Leningrad zurückgekommen? Durch die Front der Deutschen hindurch?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Ja, durch die Front. Wir kamen durch die Front durch nach Leningrad.
- Kluge
- Wie macht man das? Also … sieht man, also hört man die Deutschen?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Das war … die Front war noch mit Löchern. Wir kamen nach Leningrad, ich kam in meinen Stab von unserer Division, und ich wurde daraufhin in die Gegend von Puschkin und Zarskoje Selo geschickt. Die Front war noch nicht ganz an Leningrad herangerückt.
- Kluge
- Zarskoje Selo, wie wir sagen, ja? Das ist also, wo die Schlösser sitzen.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Dort haben wir dann unsere Verteidigungsposition bezogen.
- Müller
- Bei dieser Erzählung von dem ersten Einsatz da vor Leningrad … also die regulären Truppen gehen zurück und beobachten da, man verstreut sich ein bisschen in die Landschaft, in die Wälder und … da fällt mir so auf, dass ein Missverständnis, was es immer wieder gibt, auch, also über die Sowjetunion, auch über den Stalinismus. Wir sind so gewöhnt, zentralistisch zu denken – das ist vielleicht ganz falsch. Auch selbst für den Stalinismus. Und ich hab zum Beispiel ’ne Frage: Bei Malarparte, ich weiß nicht ob Sie ihn kennen, der war Korrespondent an der Ostfront im ersten Jahr, hat den Vormarsch in der Ukraine beschrieben der deutschen Front, den Finnischen Krieg und auch Leningrad. Und Malarparte stellte eine Frage: Warum hat die Blockade in Leningrad so lange gedauert? Warum haben die Deutschen Leningrad nicht eingenommen, was militärisch, meint er, möglich gewesen wäre? Warum hat Stalin die Blockade nicht aufbrechen lassen, was wie er meint militärisch auch möglich gewesen wäre? Und dann gibt es eine wahrscheinlich sehr von außen gestellte These von Malarparte über den alten Gegensatz von Leningrad und Moskau: dass Leningrad für Stalin immer ein feindliches Ausland war, und dass dem Stalin sogar daran lag, dass diese proletarischen Milizen, oder diese Volkswehr, wie er sagt, dass die destruiert werden, dass die bewusst geopfert wurden. Ist vielleicht für ihn eine komische Frage, aber mich interessiert, was er dazu meint.
- Text
- Ist es vielleicht ein Mißverständnis anzunehmen, Rußland sei unter Stalin ein zentralistisches Land?
- Text
- Heiner Müller
- Text
- Wollte Stalin Leningrad opfern? / Wollten die Deutschen Leningrad nicht einnehmen?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Ich glaube, das ist etwas, dessen Denken … das ist so ein monarchisches Denken, monarchische Sicht auf die Geschichte, alles auf Stalin zurückzuführen. Und das lässt sich auf jeden Fall nicht auf das erste Kriegsjahr beziehen. Das erste Kriegsjahr ist dadurch charakteristisch, dass das Volk gekämpft hat. Das Volk hat zur Waffe gegriffen, das Volk hat das Land gerettet. Warum sind die Deutschen nicht nach Leningrad eingedrungen? Das war für mich auch eine Frage. Denn, wie ich das erzählt habe, dass ich hier eine Zeitlang Kommandeur sein sollte, nachdem unser Kommandeur sich das Bein gebrochen hatte. Ich hatte gedacht zunächst, das ist ’ne Stunde oder zwei, bis dann die Ablösung kommt. Aber war dann doch ein paar Tage. Unsere Einheit zog sich organisiert aus Puschkin und Zarskoje Selo am 17. September 1941 zurück. Um 5 Uhr verließen wir Puschkin. Ich hab mir sehr gut diesen Morgen gemerkt. Die Stadt hat noch geschlafen. Und ich hätte so gerne die Leute geweckt. Wir sind ja, wir haben uns zurückgezogen. Die Leute kamen zum Beispiel, das haben wir gesehen bei dem Rückzug, um die städtische Badeanstalt zu heizen. Die Stadt hat nicht erwartet, dass die Deutschen einziehen.
- Text
- Weil er als Ingenieur Konstrukteur von Panzern in den Kirow-Werken war, wurde er zum provisorischen Kommandeur ernannt - -
- Müller
- Wie lange hat die Belagerung gedauert?
- Granin (via Dolmetscherin)
- 900 Tage.
- Kluge
- Also fast drei Jahre.
- Granin (via Dolmetscherin)
- 900 Tage … bis endlich die Blockade aufgesprengt wurde.
- Kluge
- Im dritten Winter.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Die ganze Zeit haben die Deutschen versucht, Leningrad einzunehmen. Zuerst haben sie gedacht, die Stadt würde aussterben. Dann, als dieser Weg des Lebens durch den Ladoga-See eingerichtet wurde, haben sie versucht, das im Sturmangriff an verschiedenen Stellen einzunehmen. Ist nichts dabei herausgekommen.
- Kluge
- Die elfte Armee wurde hochtransportiert, nachdem die Sevastopol eingenommen hatte.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Die elfte Armee. Dann … Spanier waren auch dort.
- Kluge
- Die blaue Division.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Und es hat … es ist nicht gelungen. Wie diese Leningrader Front überhaupt bestehen bleiben konnte, ist mir jetzt auch unerklärlich. Denn wir waren ja auch sehr hungrig, wir hatten Distrophie, die Leute wurden in militärische Hospitäler abtransportiert. Einige sind übergelaufen zu den Deutschen, weil die Deutschen ständig geschrien haben: Hier! Brot! Brötchen! Auf welche Art und Weise wirklich die Leningrader Front sich halten konnte, obwohl ich ja selbst an dieser Front war, ist für mich heute sogar wirklich unerklärlich. Es war sehr ruhig … also, relativ natürlich, aber es war sehr ruhig.
- Müller
- Mir fällt ein ein Satz von Mao Tsetung in dem Zusammenhang, der hat mal gesagt: Der Nationalsozialismus war unschlagbar, solange er im Angriff war. Und was er so beschreibt, kann man ja oft verstehen als einen Vorgang: Man kommt aus einer Geschwindigkeitszone in eine andere, taucht in eine andere, langsamere Geschwindigkeit ein … und …
- Text
- Mao Tsetung: “Der Nationalsozialismus war unschlagbar, solange er im Angriff war –”
- Kluge
- [UNVERSTÄNDLICH] Russland, sozusagen, unschlagbar ist in der Verteidigung.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Ich glaube, man kann natürlich jetzt solche Konstruktionen, Überlegungen sich konstruieren, aber in der Zeit damals, als die Deutschen sich Leningrad näherten, da hatten wir schon gemerkt, dass man gegen sie kämpfen kann. Wir hatten einfach nicht genügend Panzer, nicht genügend Luftwaffe, aber die Infanterie, die hatte es gelernt, dass doch mit der deutschen Infanterie, da kann man schon fertig werden.
- Kluge
- Aber wenn man nochmal auf den Punkt kommt, den Sie gestern sagten: Die moralische Entwaffnung. Erst wird die Moral zerstört, oder sie entsteht zu spät, und dann werden die Waffen besiegt. Ist es nicht so, dass die Deutschen auch hinter Leningrad sich gar nichts vorstellen konnten? Wer möchte schon in Murmansk wohnen, wer möchte die Sümpfe besitzen, die hinter Leningrad sitzen? So dass also auch keine Vorstellung eigentlich sich verband. Die Schnelligkeit des Blitzkriegs lebt von der Vorstellung: Und übermorgen frühstücke ich in Bordeaux oder Paris. Und blitzartig sende ich die Strümpfe an meine Frau, die in Paris gekauft sind. Aber wo soll der Blitz hin in Richtung Wladiwostok? Es gibt keinen Weg über Leningrad nach Wladiwostok. Während des ganzen Krieges war die Fantasie, auch der Strategen, nach Süden angreifen. Die sonnige Krim, das war ein Objekt. Tiflis – warm, Palmen, Kamele, ja.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Das ist wahrscheinlich richtig. Denn die Soldatenpsychologie die braucht … bedarf naher Ziele. Das Soldatenleben ist sehr kurz und es braucht einfach nahe Ziele.
- Kluge
- Schnelle Ziele. Nahe Ziele.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Doch da gibt es einen Einwand. Und zwar was ganz Interessantes, einen moralischen Umstand. Als wir vor Leningrad standen und es verteidigt haben, hatten wir die ganze Zeit das Gefühl gehabt, hinter uns steht Leningrad. Wenn das ’ne andere Stadt gewesen wäre, dann wären wir nicht stehen geblieben. Leningrad, mit den Schlössern, mit der Architektur, mit der Eremitage, mit Puschkin, mit Dostojewski und Gogol. Mit der Schönheit, mit den weißen Nächten – das war hinter uns anwesend. Wenn das eine gewöhnliche Stadt gewesen wäre … oder einfach eine unbewohnte Stelle, Ort … dann hätten wir das nicht ausgehalten.
- Kluge
- Unbewohnte Stelle gewiss. Aber zum Beispiel in Rostov zur gleichen Zeit, werden die Rostover Rostov verteidigen, und da gibt es ein ganz armseliges Museum bloß.
- Dolmetscherin
- Da gibt es?
- Kluge
- Ein armseliges Museum, also nichts von weißen Nächten, eine lange Brücke. Und in Stalingrad ist ja fast gar nichts. Ist es offenbar, dass die Ortsansässigen in der Verteidigung am stärksten sind. Man weißt nicht, ob die Rostover Leningrad verteidigt hätten.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Natürlich hätten sie auch Leningrad verteidigt, das waren ja auch andere Leute, nicht nur Leningrader an der Front. Aber Leningrad ist insgesamt eine Stadt der Traditionen, von historischen Verdiensten, riesigen historischen … und das hat sich einfach ausgewirkt. Als wir gesehen haben, wie über uns jeden Tag Flugzeuge fliegen, deutsche Flugzeuge die Stadt bombardieren, hinter uns steigen die Rauchsäulen von den Feuern auf – das hat fürchterlich auf uns gewirkt.
- Müller
- Es gibt ein Gegenbeispiel, fällt mir jetzt ein. Die Grenztruppen der DDR. An der Grenze in Thüringen standen nie Thüringer, sondern die waren aus Mecklenburg. In Mecklenburg, in Mecklenburg an der Grenze standen Thüringer, oder Sachsen. In Berlin an der Mauer kein Berliner. Das war eigentlich das Todesurteil für diesen Staat von vornherein, das [UNVERSTÄNDLICH] sich dauernd.
- Kluge
- Das ist die preußische Tradition – die Elsässer nach Ostpreußen, die Ostpreußen nach Westen. Dies ist der Weg des abstrakten Gehorsams. Und für dies … das wäre eigentlich auch eine stalinistische Methode gewesen, aber dafür hatten sie keine Zeit.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Wahrscheinlich schon, ja. Denn die Einheiten kamen jeweils immer vor Ort zusammen, und um die Truppen von einer Stelle zur anderen hinzubringen, das war überhaupt keine Möglichkeit damals.
- Text
- Daniil Granin
- Text
- … Herr Granin, wie haben Sie die Sylvester im Krieg erlebt?
- Kluge
- Wenn Sie mir einmal beschreiben: Silvester, also den Jahreswechsel 1942/43.
- Granin (via Dolmetscherin)
- ‘42/43 weiß ich nicht mehr, aber ‘41/42, da erinnere ich mich dran. Das war ein sehr komisches Silvester. Denn einer von unseren Aufklärern ist also rausgegangen und ist in einen deutschen Unterstand runtergegangen, wo er eigentlich ’ne Granate reinwerfen sollte.
- Kluge
- Granate meinen Sie immer eine Handgranate?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Mhmh. Und da war aber ein Tisch gedeckt, und zwar wunderbar … ein Tisch gedeckt, und da standen Konserven, und wir waren doch alle hungrig. Er konnte einfach keine Handgranate werfen, das ging nicht. Diesen Luxus – nein. Er hat einfach das Tischtuch ergriffen und hat alles mitgenommen. Das ganze Essen hat er eingepackt auf diesem Tuch …
- Kluge
- Wo waren die Deutschen?
- Granin (via Dolmetscherin)
- … ist rausgerannt, und dann hat er hinterher die Handgranate reingeworfen. Und mit diesem Tischtusch ist er bis zu uns zurückgekommen, ne, als Aufklärer.
- Kluge
- Aufklärer heißt Spähtrupp, oder was ist ein Aufklärer?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Also von diesem Regiment jeweils der Aufklärer, der Spähtrupp. Sie haben einfach erkundet, was für ein Feuersystem die haben.
- Kluge
- Und die Deutschen waren abwesend zu dem Zeitpunkt?
- Text
- Rosemarie Tietze, Übersetzung
- Granin (via Dolmetscherin)
- Sie waren irgendwo nebendran, aber da wurde gerade gefeuert, und irgendjemand hat … ist verwundet worden, zwei von uns sind verwundet worden. Jedenfalls hat er die ganzen Konserven mitgeschleppt, den Wein gebracht … und so haben wir dann Silvester gefeiert!
- Kluge
- Und jetzt kommt der hochgeehrt an, und so haben Sie Silvester gefeiert. Und 1945, wie sieht das Silvester aus?
- Granin (via Dolmetscherin)
- Da war ich in Leningrad bereits.
- Kluge
- Und haben die Elektrizität repariert.
- Granin (via Dolmetscherin)
- Das war natürlich ein wunderbares Silvester. Das war so ein Glücksgefühl, dieses Silvester. Verstehen Sie, so ein Gefühl, dass wir die ganze Welt befreit haben und unser Land, dass vor uns jetzt sich eine ganze und ungeheure Zukunft eröffnet, dass jetzt alles anders wird. Das war ein wunderbares Silvester.
- Text
- Wiederaufnahme des Zugverkehrs zwischen Leningrad und Moskau nach Ende der Belagerung - -
- Text
- St. Petersburg
- Text
- DOPPELMAGAZIN. DOUBLE ISSUE
- Text
- ST. PETERSBURG, EINE UMBENENNUNG / Gespräch von Heiner Müller und News & Stories mit Daniil Granin / Kommandant von 9 Panzern vor Königsberg 1945 / Russischer Poet, moralisch unbestechlich / Er wird vergleichen mit Heinrich Böll - -
- Text
- NEWS & STORIES
- Voice-over
- [Russisch]