Das Ruinengesetz in der Musik
Transkript: Das Ruinengesetz in der Musik
Das Ruinengesetz in der Musik
- Text
- Vor seinem Tod und seit seiner Tristan-Inszenierung in Bayreuth hat der Dramatiker Heiner Müller verschiedene Vorlagen (Libretti) für eine Oper von Pierre Boulez verfaßt / Müller knüpft dabei an das japanische Bunraku-Theater an und versucht die Formenwelt der Oper in ihre Elemente zu zerlegen / Auch Pierre Boulez geht von Neuerung aus / Zerstörung, Irrtum und beschädigte Musik inbegriffen –
- Text
- Das Ruinengesetz in der Musik / Gespräche mit Pierre Boulez zu Entwürfen von Heiner Müller
- Alexander Kluge
- Es gibt bei Hitler eine Verordnung, die er im Jahr 1943 erlassen hat: das sogenannte Reichsruinengesetz. Es besagte, dass alle Materialien nicht kostengünstig verwendet werden sollen, bei den Denkmälern des Nationalsozialismus, sondern so, dass sie in 6000 Jahren eindrucksvoll aussehen. Das ist das Ruinengesetz. Nun ist es so: eine wirklich gute Komposition ist ja unzerstörbar. Also selbst unter Bedingungen, dass man an einer Front oder weit entfernt in Sibirien etwas hört über UKW, kann es ja immer noch gute Musik sein. Sie haben einmal gesagt, man muss töten können, man muss beißen können, man darf nicht mit dem Säbel aufs Wasser schlagen…
- Pierre Boulez
- Nein, das ist wahr. Man muss also das den Säbel ganz anders gebrauchen.
- Kluge
- Das heißt die Modernität ist auch eine Aggression?
- Boulez
- Ein Gewehr, ja sicher! Eine Aggression. Nicht umsonst, das ist keine Aggression aus Lust: das ist einfach, weil das Leben ist so. Also wenn es gibt ein Ei, dann…
- Kluge
- …wie ein Huhn sich jetzt herauspräperiert…
- Boulez
- Genau. Das muss wirklich… Alle Vögel müssen raus. Diese Brutalität!
- Kluge
- …Schlangen müssen sich häuten…
- Boulez
- Und ich meine, man ist nicht geboren nur so mit - wie sagt man - ein sanfte “environment”, man musst zuerst kämpfen für seine Individualität.
- Text
- Götterdämmerung in Wien (1945)
- Kluge
- Und da gibt es ein Beispiel. Bei der Belagerung von Wien 1945 hat Baldur von Schirach, der Gauleiter, angeordnet, dass sich das Dritte Reich verabschiedet aus Wien mit einer letzten Aufführung der Götterdämmerung. In der Nacht vor der Generalprobe brannte das Opernhaus ab und jetzt waren in 14 Kellern die Sänger und die Orchestermitglieder verteilt und über Feldtelefone der Wehrmacht haben sie miteinander kommuniziert und die Endproben abgerichtet. Qualität im konzertanten Sinne ist es ja nicht.
- Boulez
- Nein, sicher nicht. Aber das war eine Raumverteilung, zum ersten Mal…
- Kluge
- Eine Wirklichkeits-Götterdämmerung, Artillerieeinschläge, Bombeneinschläge und die Reste der Musik.
- Boulez
- Ja, das war wirklich…
- Kluge
- …verteilt in Orchesterperspektiven.
- Boulez
- Jaja. Das ist interessant. Nicht als Experiment, ich glaube man will nicht dieses Experiment sehr oft machen, aber was ist interessant in einer guten Orchestrierung - und ich habe gesagt, Wagner-Orchestrierung ist sehr, sehr gut - das ist die Orchestergruppen könnten unabhängig gehört werden, weil die sind natürlich Teil einer größeren Gruppe, aber als Gruppe haben sie einen Sinn. Und deswegen, ich meine, ich habe das einmal erlebt selber. Nicht in Wien, nicht in ‘45, aber als ich zum ersten Mal in Bayreuth gewesen bin, zwischen 1966 und ‘70, ich habe Parsifal dirigiert und der Karl Böhm hat “Den Ring” dirigiert und ich habe - weil Wilhelm Wagner hat mich gebeten schon an “Den Ring” zu denken - ich möchte gern “Den Ring” im Zuschauerraum sehen, aber ich möchte sehr gerne Böhm sehen, wie er dirigiert, wie er es macht mit dem Orchester, es ist sehr unterschiedlich von dem, was ich mache zum Beispiel usw. usw. Und ich bin gesessen neben Pauken, hinter der Posaune, ganz am Ende des Orchesters. Und was ich gehört habe, das war solch eine - wie sagt man - vollkommen deformiert…
- Kluge
- …Brei…
- Boulez
- Nicht ein Brei. Ich habe die Posaunen sehr stark gehört, wenn die da waren, die Geige kaum, die Stimme wirklich, wenn das Orchester nicht zu laut gespielt hat oder sehr leise gespielt hat. So das war eine Perspektive, die vollkommen falsch war und deswegen frage ich mich manchmal…
- Kluge
- Aber hatte die auch einen Reiz?
- Boulez
- Tja, das war auch für mich sehr komisch, merkwürdig, aber komisch auch, weil dann Partitur war… Sehen Sie… Können Sie denken, dass Sie sehen zum Beispiel die Sixtinische Kapelle nur mit dem Ohr von einem Spieler zum Beispiel. Das wäre nicht beispielgebend für die ganze “Capella Sistina”, aber Sie können sehen, zum Beispiel, wie Michelangelo das gemalt hat, wie seine Technik war usw. Und deswegen, das war ein bisschen derselbe Gesichtspunkt. Ich habe gehört, ja, er schreibt für die Blechbläser in dieser Art, also die tiefen Blechbläser besonders, oder für die Pauken und natürlich das Orchester habe ich ganz vage gehört als eine Hintergrundlandschaft. So deswegen, man wundert sich so als Dirigent manchmal: wie kann es so gut gehen manchmal, wenn jeder solch einen kleinen Geschichtspunkt in seiner Ecke… und er kann nicht weiter hören, weil es gibt zum Beispiel einen Wall von Blechbläsern oder einen Wall von Schlagzeugern, eine Mauer, ich meine. Und deswegen, das ist für mich so… Sie sprechen von Ruinen - ein Orchester ist eine rekonstruierte Ruine, permanent…
- Kluge
- Heiner Müller hat gesagt, dass er Ihnen ein Libretto versprochen hat für eine Oper. Wann haben Sie da mit ihm gesprochen?
- Boulez
- Ich habe zum ersten Mal mit ihm gesprochen vor vier Jahren, als ich in Salzburg war. Er hat damals Tristan inszeniert in Bayreuth und er ist hier nach Salzburg mit Daniel Barenboim gekommen, ich war in Salzburg auch, und wir haben uns zum ersten Mal gesprochen, aber ganz im allgemeinen. Über Dinge, wie man eine Oper schreiben kann jetzt, wie ist das möglich, ist das nicht vollkommen altmodisch oder kann man das renovieren usw. Also ganz allgemeine Sachen. Und dann… Ich habe, sehen Sie, vorher, lang vor Heiner Müller, ich habe mich unterhalten mit Jean Genet, weil das war ein Freund von mir und ich habe ihn ziemlich gut gekannt, glaube ich. Soweit man konnte Genet kennen lernen. Und dann ich habe mit Genet eine Idee entwickelt über: was ist die Beziehung zwischen Theater, also gesprochenes Theater und Musik und wie ich konzipiere dieses Verhältnis, wie wichtig ist das Theaterstück sozusagen, was für ein Mittel kann man verwenden, zum Beispiel Marionetten, Masken, auch für die Musik, elektronische Musik, Raumverteilung usw. Oder auch über die Zeit, wie man kann die Zeit brauchen, ganz kurze Szenen, sehr lange Szenen im Gegenteil, sehr ausgedehnt usw. Und auch das Verhältnis zwischen Dekoration auf der Bühne, wenn es noch eine Bühne gibt, und Musik, weil ich war sehr beeindruckt damals, als ich die Wände gesehen habe, am Ende, der erste Teil, damals als das uraufgeführt wurde, es gab also die Algerier, die haben da so ihre Zorn gegen die Franzosen gezeigt, nur mit Zeichnungen: die haben das so…
- Kluge
- …Graffitis…
- Boulez
- Graffitis. Und am Schluss dieses Teils gab es voll von Graffiti und das hat die Sätze vollkommen ersetzt und gezeigt. Und das war für mich ein großer Eindruck, weil ich denke, dass mit der Musik könnte man dasselbe machen. Dass man eine Situation zeigt und dann bleibt die Musik und nicht die Situation mehr. So etwas. Wir haben sogar zusammen korrespondiert, wenn er… er war sehr oft nicht in Frankreich, ich war auch sehr wenig manchmal in Frankreich: so wir haben uns getroffen, also durch Briefe besonders.
- Text
- Heiner Müller, Dramatiker
- Boulez
- Das letzte Mal, dass ich ihn getroffen habe, das war in dem Opernhaus, bei dem Intendant Bander, und der hat davon gesprochen damals, von den Atriden, dass er wollte vollkommen erneuern, nicht eine richtige Tragödie machen, aber wirklich das vollkommen erneuen, aber der Mythos würde da unten immer sein, aber das ist das Letzte was ich von ihm gehört habe.
- Kluge
- Ich sag Ihnen mal, was er da erzählen will: Er nimmt ganz kurz sechs Sätze über Tantalus, den überheblichen Mann, der die Götter beleidigt und deswegen gequält wird und immer gierig das Wasser trinken will, das vor ihm entweicht und die Äpfel essen will, die von ihm entweichen. Dessen Sohn war Pelops. Er wollte die Tochter des Königs auf den Peleponnes haben und dieser Vater verteidigte seine Tochter so wie Turandot sich verteidigt… Der Bewerber muss im Zweikampf sich als Wagenlenker, sich mit dem König, dem Vater dieser jungen Frau messen, und wird er besiegt, stirbt er. So verteidigt der Vater seine Tochter. Erinnert mich sehr an Wotan…
- Boulez
- Jajajajajaja.
- Kluge
- …und jetzt besticht der Pelops den Wagenlenker des Königs, dass er Wachs macht in die Narben. Dafür soll er diese Frau kriegen, erst in der ersten Nacht und außerdem noch einiges kriegen. Das ist wie die Riesen. Als dann dieser König tot ist, betrügt der Pelops diesen Wagenlenker. Und von da aus kommt der Fluch, also in dem Moment, in dem der Wagenlenker stirbt, verflucht er das ganze Geschlecht. Und daraus entsteht jetzt Agamemnon, der auf dem roten Teppich heimkehrt und noch in der Nacht erschlagen wird, Klytaimnestra, Orestes, Elektra, Iphigenie…
- Text
- Agamemnon im Bad erschlagen
- Boulez
- Jaja…
- Kluge
- …und das wollte er… Das sollte nicht länger als zehn Minuten dauern. Und in 20 Fassungen, also in verschiedener Sortierung, verschiedener Betonung, Variationen bilden und er wollte von Ihnen…
- Text
- 18 Schicksale in 10 Minuten (“Tragödie im Zeitraffer”)
- Kluge
- …eine Ostinato-Musik haben, die gewissermaßen repetitiv eine Art Netz schafft, bei dem man den Sprechgesang jedes Mal ändert, so dass niemals die gleiche Geschichte kommt…
- Boulez
- Das ist ein Traum geworden…
- Kluge
- Aber geht so was nicht? Also, ich meine, die Texte von ihm gibt es ja. Er hat das ja geschrieben…
- Boulez
- Ja, aber geschrieben, und wenn zum Beispiel, ich möchte eine Erinnerung machen: er ist nicht mehr da!
- Kluge
- Ja, das dürfen Sie. Er hat da Vollmachten hinterlassen…
- Boulez
- Ach so…
- Kluge
- …und er hatte sich außerdem noch vorgestellt, dass das so ähnlich wie das Bunraku-Theater…
- Boulez
- Aber wir haben von Bunraku gesprochen, besonders von Marionetten.
- Kluge
- …und da sind also die Sofitten, also die Menschen, die die Figuren bedienen: die sprechen und singen…
- Boulez
- Ach so…
- Kluge
- …und die Figuren sind ja mechanisch. Also dies ist filmisch ganz leicht durchzuführen…
- Boulez
- Jaja, weil ich habe ihm gesagt - ganz genau - ich habe mit ihm über Marionetten gesprochen. Ich habe gesagt, nicht die franz[ösischen], nicht die europäischen Marionetten, aber die Bunraku-Marionetten, die für mich also eine Art von Theater, das so eindrucksvoll war, wenn ich das in Japan gesehen habe.
- Kluge
- Und hier wäre jetzt diese unheimliche Beschleunigung möglich. Dass man 1000 Jahre Mythos in zehn Minuten erzählt; das ist ja eine Zeitraffung…
- Boulez
- Jaja, ich verstehe schon…
- Kluge
- Und dazu die Musik…
- Boulez
- Noch die Musik dazu… Sehen Sie, das Problem ist, dass die Musik verlängert alle Sachen. Sehen Sie, zum Beispiel wenn man… Ich habe die Erfahrung selber gemacht, natürlich. Es gibt ein Gedicht von vier Zeilen, sechs Zeilen. Zum Lesen oder zum Sprechen: 30 Sekunden; mit Musik, das ist sofort mindestens drei, vier Minuten lang. Also die Proportion ist eins zu zehn, weil die Musik, also nach meiner Meinung, besonders im Theater, die Musik braucht manchmal eine Zeit lang sich zu entwickeln. Aber Sie haben von Fernsehspots gesprochen: das ist sehr merkwürdig wirklich, weil mit Genet - weil ich habe gesagt: sehen Sie, komprimierte Zeit, sehr ausgedehnte Zeit im Gegenteil - und ich habe ihm erklärt und er war… die Idee hat ihm sehr - wie sagt man - …
- Kluge
- …gefallen?
- Boulez
- …animiert, ja. ich habe gesagt: Wo die Zeit am meisten komprimiert wird, das ist den TV-Spots, Werbung, ja, die Werbung ist 30 Sekunden…
- Text
- Voraussetzung für extreme Kürze / Autonome Länge
- Boulez
- Und ich finde, wenn man solch ein Projekt macht für Musik, das muss auch… Sehen Sie, ich war sehr beeindruckt auch manchmal von, besonders am Anfang, von Bob Wilson. Wenn er hat diese Theaterszene so lang ausgedehnt, dass man es kaum noch ertragen konnte. Und man muss solche Kontraste haben. Sehen Sie, also auch für die Oper, die ich dirigiert habe manchmal: die Szenen sind praktisch fast auf denselbenModelle[n], Schablonen, ungefähr Viertelstunde, 20 Minuten, sehr selten darüber. Nur in Wagner gibt es den extremen Sinn zwischen Mime und Alberich in „Siegfried“ und dann das Ende von „Siegfried“, die Szene zwischen Brünnhilde und Siegfried, die ja so 40 Minuten dauert oder so etwas.
- Text
- Längste Szene der Opernliteratur: 40 Minuten (Siegfried und Brünnhilde)
- Boulez
- Aber das ist wirklich das Extrem. Sie können alle Opern sehen, nur das Finalein Mozart ist länger, aber natürlich, das ist die Aria, die sind praktisch konstruiert auf dieselbe Zeitdauer. Und was ich möchte gerne, das ist im Gegenteil, das ist… es gibt so viele Kontraste. Manchmal sehr, sehr kurz, knapp, man hat kaum Zeit zu sehen; manchmal im Gegenteil: dass es fast unerträglich wird, so etwas zu sehen. Und deswegen möchte ich also solch einen Stoff vollkommen mit der Musik wirklich bearbeiten. Der Zeitbegriff ist wirklich interessant, in sich selbst praktisch.
- Kluge
- Wenn man hier jetzt sozusagen… Wir sprechen ja die ganze Zeit von Formen…
- Boulez
- Jajaja, unbedingt…
- Kluge
- Geben Sie uns eine Form, dann werden wir den Stoff finden.
- Boulez
- Jajaja..
- Kluge
- Das kann jede Zeit sagen. Und Mozart ist genial im Erfinden von Formen…
- Boulez
- Das sowieso, also, ich meine, ja…
- Kluge
- …der Stoff ist armselig, des Jahrhunderts, meine ich, der Stoff, den das Jahrhundert an Musik ihm gibt, das ist eher einfach.
- Boulez
- Jaja…
- Kluge
- …also er macht doch Wunderwerke aus relativ wenig Stoff!
- Boulez
- Aber zum Beispiel „Figaro“ ist sehr beeindruckend von diesem Standpunkt…
- Kluge
- …aber nicht wegen des Stoffs, sondern wegen der unendlichen Vielfalt, die aus wenig Stoff… Quartensprüngen, Terzen…
- Boulez
- Jaja, das ist sicher, jajajaja…
- Kluge
- Das ist eigentlich relativ wenig Material…
- Boulez
- Ja, wenig…
- Kluge
- …und eine ungeheure… eine Welt von Formen.
- Boulez
- Jaja, das ist wahr.
- Text
- Palästrina als “Halbzeit” / Was bleibt von der Musik im nächsten Jahrhundert?
- Kluge
- Uns beiden liegt doch daran, dass im neuen Jahrhundert etwas von der Musik übrig ist. Und Sie kennen doch die berühmte Szene im Konzil von Trident…
- Boulez
- Ja, ich habe das Stück nie gelesen, leider.
- Kluge
- Ja, aber in Palestrina, nicht von Pfitzner. Da wird beschrieben, wie der Palestrina noch einmal eine Messe machen darf und da kommt alles rein, was an Tradition weiterzuführen ist. Also die achtzig-chörigen Messen werden noch einmal möglich. Sowas ist doch eigentlich unsere Rolle heute…
- Boulez
- Ja, sicher…
- Kluge
- …und wenn Sie da sich vorstellen, in einem Bernstein ist eine kleine Fliege und in deren Magen ist ein Stück Dinosaurier enthalten. Und auf diese Spurenweise könnte doch etwas tradiert werden. Und wenn das von Ihnen komponiert würde - ich meine jetzt nur das kleine Dinosaurier… die Zelle. Und das würde bedeuten, dass 30 Sekunden Boulez mitten in diesem Programm von MTV mit guten Bildern, mit Nichtbildern…
- Boulez
- Ja. Nein, nein, sicher… Also man kann… Bei uns hat man, am Anfang, im Centre Pompidou, gab es Leute, die interessiert waren. Und wir wollten mit dem arbeiten, aber dazu ist es nicht gekommen. Und ein Mann hat etwas gemacht und das Resultat war wirklich miserabel, muss ich sagen.
- Kluge
- Napoleon landet kurz vor Silvester 1800 in Ägypten und er führt die Leute falsch durch die Wüste.
- Boulez
- Ja.
- Kluge
- Und anschließend kommt er bei den Pyramiden an und sagt: Hier sind 4000 Jahre. Aber erst kommt der Wüstenmarsch…
- Boulez
- Jaja, wie Moses…
- Kluge
- …ja, wie Moses. Und ich finde, wenn Sie mir, also wenn wir kompositorisch Formate hätten: Müller, Genet, Sie usw., die uns verpflegen für diesen Wüstenmarsch…
- Boulez
- Nein, also ich bin noch - wie sagt man - am Denken für diese Fusion, also meine persönliche Fusion von verschiedenenQuellen würde ich sagen. Nun, das ist nicht so leicht.
- Kluge
- Von Müller noch einmal gesprochen: Er hatte sich ein Buch gekauft, für 500 Dollar, nachdem er schon krank war, das ihn sehr entzückte. Das war Ovids Metamorphosen, in britischer Ausgabe, in Versen und Reimen und da fragt er Sie: kann man den Untergang von Troja komponieren?
- Boulez
- Nein, man muss, also…
- Kluge
- Oder einen Moment, eine Facette, eine Sekunde…
- Boulez
- Ja, man muss eine Transponierung finden. Ich glaube, alle die Sachen - also das ist meine Meinung - alle die Sachen, die wirklich zu… wie man sagt auf Englisch, “connotated” sind…
- Kluge
- Ja, geht nicht…
- Boulez
- Für mich, das geht nicht…
- Kluge
- Aber wenn ich jetzt ohne “connotation”… Er möchte gerne, dass Sie drei Momente miteinander verknüpfen. Der Aeneas hat seinen Vater Anchises auf dem Rücken, die Griechen rauben und vergewaltigen, eine Stadt und eine Kultur brennt. Jetzt kommt als zweite Station der Aeneas zu Dido und betrügt sie. Danach gründet er Rom und jetzt wird anschließend, 400 Jahre später, Korinth verbrannt. Das heißt die Römer kommen als Rache Trojas über die Griechen. So meint er, dass die deutschen Ostländer irgendwann mal, das was jetzt als Anschluss über sie kam, weitergeben werden.
- Boulez
- Aber, sehen Sie…
- Kluge
- Kann man das übersetzten?
- Boulez
- Ich weiß nicht mal… Man kann nicht [auf] diese Sache antworten in ein… so in einer Minute.
- Kluge
- Die Opern gibt es: die Belagerung von Korinth, Lord Byron, Rossini…
- Boulez
- Ja, jajaja…
- Kluge
- Also Troja ist ja mindestens fünfmal… Berlioz, die Trojaner, in Idomeneo kommen ja die Gefangenen an…
- Boulez
- Jaja, na sicher, aber Sie haben so viele Erinnerungen wie ich und deswegen bin ich ja so sehr, sehr…
- Kluge
- …und die müssen wir vergessen.
- Boulez
- Das müssen wir vergessen. Und sehen Sie, zum Beispiel, Sie haben von Genet gesprochen. Und deswegen, wenn er hat “Die Wände” geschrieben. Gut, das ist über Algerien und die Situation in Algerien, aber das war nicht nur die Aktualität Algeriens, das war viel weiter als das! Wenn er hat, zum Beispiel, “Die Neger” geschrieben, das war auch über Rassenverhältnisse und das war auch nicht nur über die französische “Blacks” und die Weißen. Das hatte auch viel weiter… , ein weiteres Ziel. Und deswegen, was hat mich… Und zum Beispiel auch wenn Heiner Müller mal mit diesem„Quartett“: das ist natürlich… die Quelle ist in Choderlos de Laclos, aber das geht auch weiter als Choderlos de Laclos, das ist nicht nur eine…
- Kluge
- Das möchte der Müller von Ihnen, sehen Sie. Der hat jetzt sozusagen… Der Ovid ist ja auch nicht auf lateinisch zu ihm gekommen, auf Englisch…
- Boulez
- Aber man müsste die Namen…
- Kluge
- …wegnehmen…
- Boulez
- …Das wäre viel einfacher. Wenn Sie nehmen… also ich nehme als Beispiel ein Buch von Levi-Strauss über die Mythologien von Zentralamerika oder so. Dann also, wenn man sagt einen Namen, man kann davon also wirklich fantasieren. Wenn Sie sagen Elena von Troja, man kann nicht mehr fantasieren, man denkt an eine Menge von Sachen. Deswegen hätte ich lieber, wenn es gibt eine ähnliche Situation in der Mythologie von Zentralamerika und Zentralafrika, da wäre es mir lieber noch…
- Kluge
- Ich schicke Ihnen eine ganze Kette von solchen Vorschlägen, aber eigentlich müssten Sie machen “Tabula Rasa” zu einer präzisen Idee von Müller.
- Boulez
- Also über die “Tabula Rasa” können Sie sicher sein!
- Text
- Das Ruinengesetz in der Musik / Gespräch mit Pierre Boulez zu Entwürfen von Heiner Müller