In den Ruinen der Moral tätig
Transkript: In den Ruinen der Moral tätig
“In den Ruinen der Moral tätig…” Heiner Müller über die “Annalen” des Tacitus
- Heiner Müller
- Der ist einfach platter und da geht’s schneller mit.
- Alexander Kluge
- Aber den Inhalt, den gibt es da nicht, den würde ich hiervon nehmen.
- Müller
- Aha. Das war das vierte Buch?
- Kluge
- Ja.
- Voice Over
- Der Dramatiker Heiner Müller in München. Er will mit Alexander Kluge über den römischen Geschichtsschreiber Tacitus sprechen, dessen Lakonie und Kürze, dessen Mischung von Bericht und Literatur ihm als frappierend modern aufgefallen ist. Tacitus schrieb seine Annalen, seine Darstellung der römischen Kaiserzeit um das Jahr 112 n. Chr. Seitdem sind 1900 Jahre vergangen und es fällt nicht leicht an einem Sommertag im August sich das antike Rom vor Augen zu führen. Über das Vergangene scheint man nur sprechen zu können, wenn der Vergleich mit der Gegenwart möglich ist.
- Text
- Der Tod des Tiberius 37 n.Chr.
- Kluge
- …ist der Tod des Tiber?
- Müller
- Ja, also Tiber ist Tiberius. Um das klarzumachen: “Jetzt verließen den Tiber Körper und Kräfte, nur die Verstellung nicht. Noch immer das harte Herz, noch immer das Gesuchte in Reden und Mienen. Zuweilen nahm er erzwungene Munterkeit an, um die sichtbarste Entkräftung zu hehlen und nach öfterer Veränderung des Aufenthalts blieb er endlich am misemischen Vorgebirge auf einem Landhaus, welches vor dem Lukullus gesessen hatte. Da selbst entdeckte sich die Annäherung seines Endes auf folgende Art: Es war ein vorzüglich geschickter Arzt bei ihm, mit Namen Caricles, der zwar seine Gesundheitsumstände nicht eigentlich zu besorgen hatte, aber doch sich zuweilen konsultieren ließ. Dieser, unter dem Vorwand in eigenen Geschäften zu verreisen, fasste seine Hand, als wenn er sie küssen wollte und fühlte ihm nach dem Puls. Tiber aber merkte es und ließ, vielleicht wirklich aufgebracht, seinen Unwillen desto zu mehr zu bergen, vom Frischen auftragen und blieb ungewöhnlich lange bei Tafel, als ob er es seinem abreisenden Freund zu Ehren täte. Caricles indes versicherte den Macro, daß es schwach werde und es nicht über zehn Tage mehr treiben würde…”
- Kluge
- Macro ist der Freigelassene?
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Der praktisch erste Privatsekretär.
- Müller
- Ja, ja, ja. “Von dem Augenblick an wurde unter den Anwesenden schleunig Abrede genommen und Eilboten an die Legaten und Armeen abgefertigt. Am 16. März überfiel ihn eine Ohnmacht und man hielt ihn für tot. Schon trat Cäser unter dem Gedränge der Glückwünschenden hervor…”
- Kluge
- Caligula?
- Müller
- Caligula Cäsar, ja. Wobei er hier die Eigenheit hat immer K zu schreiben, wo normalerweise C steht. “… die Regierung zu übernehmen als es plötzlich hieß, Tiber bekomme Sprache und Gesicht wieder und man rufe den Bedienten, daß sie Speisen bringen sollen, den Geschwächten zu stärken. Das verbreitete allgemeines Schrecken; die anderen verloren sich und jeder stellte sich bekümmert und unwissend. Cäsar, also Caligula, stand sprachlos und erwartete statt der höchsten Aussichten seinen Fall. Macro, unerschüttert, gab Befehl, den Alten mit Decken zu ersticken und jedermann von der Tür zu entfernen. Solches Ende nahm Tiber im 78. Jahr seines Alters.” – Seltsame Bräuche…
- Kluge
- Ja… Sagt man übrigens bei Stalin auch, daß da…
- Müller
- …das beschleunigt worden ist, ja.
- Kluge
- Glaubst du eigentlich, daß das alles wahr ist?
- Müller
- Glaube ich schon, ja.
- Kluge
- Es ist ja geschrieben von einem Tendenzautor, der nächsten Kaisergeneration, und zur Belehrung. Also damit, wie heißt es: “Ich halte es für vorzügliche Aufgabe der Geschichte…”. Das ist von Tacitus. Was schreibt er da?
- Müller
- “Ich halte es für vorzügliche Aufgabe der Geschichte, dafür zu sorgen, daß die Tugenden nicht vergessen werden und das schlechtes Reden und Tun bedroht sei durch die Furcht von Nachwelt und Schande.”
- Kluge
- Und zwar nicht der Geschichtsschreiber, sondern der Geschichte!
- Müller
- Ja. Ja.
- Kluge
- Die Geschichte selber ist ein Lehrmeister! Nun ist das ja vielleicht nicht das Selbstbewusstsein der Geschichte. Vielleicht will die das gar nicht oder macht das gar nicht. Und insofern kann es natürlich sein, daß diese Kaiser nicht diese Scheusale sind. Wie würdest du es angehen?
- Müller
- Also es gibt keine Gegendarstellung eigentlich.
- Kluge
- Nein, nein. Es gibt keine Gegendarstellung…
- Müller
- …obwohl das auch nichts besagt.
- Text
- Die Metapher als Mittel, die Erfahrung von Grausamkeit zu bewältigen.
- Müller
- Was ganz schwer auszumachen ist, ist der Übergang von der Chronik zur Literatur bei Tacitus. Natürlich ist das Literatur. Und das geht bis in den Stil und in die Syntax. Also im Verhältnis zu Livius zum Beispiel, der noch ein reiner Chronist ist, jedenfalls den Gestus des Chronisten hat, ist der Tacitus schon ein Manierist und es ist bei ihm schon wie bei Ovid auch zu sehen: ein Genuss an den Schrecken, die er beschreibt oder auswählt.
- Kluge
- Warum hast du jetzt mir aufgetragen, ich soll mich mit Tacitus beschäftigen? Vor zwei Jahren hast du mir die Aufgabe gestellt, ich soll den lesen. Was war dein Grund? Was hast du dir dabei gedacht?
- Müller
- Naja, erstmal hab ich den Tacitus ziemlich früh gelesen; ich glaube, das war auch ziemlich prägend…
- Kluge
- Aber deswegen muss ich den ja nicht lesen?!
- Müller
- …und deswegen musst du ihn auch lesen. Natürlich, wenn wir was zusammen machen wollen. Aber, nein, nein. Der Hauptpunkt ist, daß… ich überlege jetzt gerade, ob es für mich nicht immer mehr ein ästhetisches Vergnügen war, Tacitus zu lesen, als ein historisches Interesse. Mich gehen ja diese Kaiser nichts an, die interessieren mich eigentlich auch nicht. Mich interessiert nur, daß sie zu dem Tacitus geworden sind, zu diesem Text geworden sind. Und dieser Text, so in der Mischung von…
- Kluge
- Kolportage?
- Müller
- …Manier und ja, Kolportage, aber auch Lakonie, der ist ungeheuer modern oder erscheint mir sehr modern, kommt mir sehr nahe. Und dieser Lakonismus und dieser Manierismus, ist ja auch nur vielleicht eine Form, die es ermöglicht, Erfahrungen, die einen sonst sprachlos machen, noch mitzuteilen in Sprache. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt. Daß der Erfahrungsdruck, unter dem Tacitus da steht, auch wenn er persönlich nicht in diesen Situationen gewesen ist, wie Seneca oder so, aber der Erfahrungsdruck war so stark, daß diese kristalline Form nötig war, um die Erfahrung überhaupt zu formulieren. Und das ist etwas, das auch mit meinen Texten was zu tun hat. Daß das einfach ein Erfahrungsdruck ist, der Kondensation notwendig macht, sonst… Ich hab neulich einen Satz gelesen; in dem Zusammenhang fand ich den ganz interessant: wo sich ein - irgendein Philosoph - darüber wundert, daß Shakespeare nicht wahnsinnig geworden ist. Das ist was Ähnliches. Und er ist nicht wahnsinnig geworden, weil er das Instrument der Metapher hatte zum Beispiel.
- Kluge
- “Die Metapher im elisabethanischen Zeitalter” hast du mal formuliert… Was macht die?
- Müller
- Sie macht möglich, Erfahrungen, die man nicht begreifen kann, die man nicht auf den Begriff bringen kann - auch weil sie … wegen der schnellen Aufeinanderfolge ganz unterschiedlicher Erfahrungen oder widersprüchlicher Erfahrungen. Und die werden von der Metapher gebündelt und bewahrt und der, der die Metapher prägt, wird davor bewahrt unter diesen Erfahrungen zusammenzubrechen zum Beispiel.
- Kluge
- Was ist eine Metapher?
- Müller
- Das fällt mir ganz schwer zu definieren…
- Kluge
- Dann sag mal ein Beispiel.
- Müller
- Na, ich will ein Beispiel sagen. Das ist jetzt von mir, also über einen Versuch, die Mauer in Berlin zu definieren als Stalins Denkmal für Rosa Luxemburg. Das ist eine Metapher.
- Kluge
- Weil der Fluss, in den Rosa Luxemburg geworfen wurde, ja, der Landwehrkanal, geht genau daran lang.
- Müller
- Streckenweise ja. Ja, ja, ja.
- Kluge
- Aja.
- Müller
- Aber das ist ein Beispiel für eine elisabethanische Metapher. Also Stalins Denkmal für Rosa Luxemburg.
- Kluge
- Du schreibst da in dem betreffenden Text, daß wenn die Geschwindigkeit der Erfahrung zu schnell wird für Menschen, sie sie nicht mehr direkt aufnehmen können, sondern sie sich ein Seitenbild machen. Also gewissermaßen einen Cousin, einen Neffen des wirklichen Ereignisses erzeugen. Und über diese Beugung - indem sie sozusagen die Wirklichkeit in mehreren Chiffren nebeneinander stellen, indem sie sie streuen gewissermaßen, machen sie…
- Müller
- Naja, zur Metapher gehört ja auch strukturell, daß Dinge zusammengerissen werden in eine Formulierung oder ein Bild, die absolut nicht zusammengehören. Also zum Beispiel Stalin und Rosa Luxemburg kann man nicht als Liebespaar betrachten.
- Kluge
- Nein, nein, nein.
- Müller
- “Nachher wurde beschlossen, auch die verbliebenen Kinder Sejans zur Strafe zu ziehen. Obgleich die Erbitterung des Volks sich bereits gelegt hatte und die meisten durch die seitherigen Hinrichtungen besänftiget waren. Sie wurden also ins Gefängnis gebracht. Der Sohn begriff, was ihm bevorstand, das Mädchen wusste so wenig davon, daß sie oft fragte, was sie verbrochen habe und wo sie hinsolle. Sie wolle es nicht mehr tun, man könne sie ja mit der Rute abstrafen. Gleichzeitige Schriftsteller berichten, weil es für etwas Unerhörtes sei gehalten worden, ein unmannbares Mädchen mit der Triumviralstrafe zu belegen, so habe der Henker ihr mit dem Strick um den Hals erst beiwohnen und dann beide erdrosseln müssen, worauf diese Kinderleichname noch an die Gemonien wären geworfen worden.
- Kluge
- Triumviralstrafe? Das ist… Erdrosselung?
- Müller
- Das war Erdrosselung, ja.
- Kluge
- Ja, für Geringere, für Dienstboten.
- Müller
- Ja, ja. Entschuldigung, mir fällt gerade eine Seltsamkeit auf bei Tacitus. Aber das gilt nicht nur für ihn: die kurzen Absätze. Das ist, glaube ich, ganz wichtig für die Art der Erzählung, für den Duktus der Erzählung…
- Kluge
- Als ob es schon Fragmente sind zu Lebzeiten…
- Müller
- Ja, ja, ja. Und vor allem: es sind Paragraphen. Und er teilt die Wirklichkeit, die er beschreibt in Paragraphen ein.
- Kluge
- Gleichzeitig aber sind diese Paragraphen, im Gegensatz zu Livius, der ja auch Paragraphen hat, nicht vollständig erzählt. Er lässt aus. Und die Auslassung ist sein Informationsmittel: das, was er nicht erzählt.
- Müller
- Ja, er erzählt eigentlich ganz elliptisch. Und Livius erzählt seriell.
- Kluge
- Seriell. Während zum Beispiel hier die Diskussionen, ja… Also er nimmt einen überflüssigen Satz: Einige Schriftsteller erzählen. Damit relativiert er, es kann auch anders gewesen sein. Und dann kommt eine lange Debatte unter Juristen, über die sich auch ein Prinz, also der Kaiser, nicht hinwegsetzen kann, über die Frage: Darf man diese Kinder - offenbar haben Interventionen stattgefunden, die wenigstens die Tochter retten wollen. Die Tochter wäre ja keine Bedrohung für den Kaiser, die kann nicht Nachfolger ihres Vaters werden, als Konsul oder irgend so etwas nach römischem Recht. Nein, hier muss die Grausamkeit auf die Spitze getrieben werden und auch diese Schwester muss getötet werden, denn die könnte ja einen Sohn haben. Es sind [ist] also sozusagen die Furcht vor künftigen Rächern. - Was ist denn Politik?
- Müller
- Naja, ganz doof, bekannte Definition: “Politik ist die Kunst des Möglichen”, aber zum Beispiel - vielleicht ist es einfacher mit Beispielen - “Sturm” von Shakespeare: das Problem der Verzeihung. Also Prospero verzeiht seinen Feinden.
- Kluge
- Irgendwann mal muss der tragische Konflikt aufhören.
- Müller
- Muss aufhören, zerbricht seinen Zauberstab, verzichtet eigentlich auf seine Macht, auch auf die Möglichkeit der Rache und der Wiedergutmachung und so. Und was aber offenbleibt: Antonio, der Böse oder die Figur, die für das Böse steht, lebt…
- Kluge
- … ist jetzt aktiv und hat Nachkommen…
- Müller
- …und deswegen ist das ein offener Schluss.
- Text
- Bestrafung einer Nicht-Tat: Episode aus einem Roman von Aleksandr Bek, mit erneutem Rekurs auf Tacitus.
- Kluge
- Du hast vorhin in dem Zusammenhang mit dem Roman von Aleksandr Bek eine sehr ungerechte Geschichte erzählt…
- Müller
- Ja, das ist die erste Episode. Das hab ich nicht hier jetzt, aber das ist auch nicht wichtig. Das ist im ersten Kapitel schon: ein Bataillonskommandeur, der hat ein neues Bataillon mit Rekruten, die haben alle den Krieg nur im Kino gesehen und die Front kommt näher und die Soldaten haben eine absolut mythische Vorstellung von der technischen und auch kämpferischen Überlegenheit der Deutschen. Es kommen ständig von der Front Deserteure oder Soldaten, die völlig demoralisiert sind, erzählen am Lagerfeuer abends die schrecklichen Geschichten von der Übermacht der Deutschen und der Kommandeur merkt, daß seine Soldaten Angst haben und er hat Angst, daß die Schlacht bald kommt oder die Front bald da ist und er weiß nicht, wie er dieses Bataillon zusammenhalten soll. Und irgendwann, aus reiner Verzweiflung, fingiert er einen deutschen Angriff, das heißt er schießt ein MG leer, so über den Fluss und sofort ruft auch einer “Die Deutschen” und alle rennen in den Wald und verstecken sich und einer, den er für einen besonders guten Soldaten hielt, aber auch ein Neuer, der aber schon Führer einer Maschinengewehrabteilung ist, der schießt sich in die Hand und den lässt er dann am anderen Tag erschießen, vor dem Bataillon. Das ist die Geschichte. Das Interessante daran ist der umgekehrte Hornburg und daß die Exekution erfolgt aufgrund einer Fiktion, eines fingierten Angriffs, was juristisch ganz schwierig ist. Jedenfalls im europäischen Rechtsdenken vielleicht nicht machbar. Und da treffen sich einfach… oder da gehen zwei Vorstellungen von Recht auseinander.
- Kluge
- Also Feigheit vor dem Feind oder Selbstverstümmelung unter Einwirkung des Feindes setzt ja immer etwas Objektives… eine objektive Tat voraus.
- Müller
- Und das ist also die Bestrafung einer Nicht-Tat.
- Kluge
- Warum hat er den bestraft und die anderen nicht? Um es deutlich zu machen.
- Müller
- Ja, weil der hat sich als Einziger selbst verwundet.
- Kluge
- Du bist eigentlich in Ruinen der Moralität tätig, d.h. also in den Kellern davon.
- Müller
- Das Bestürzende ist nur für mich, vielleicht liegt es an meinem Text, aber ich kenne nur zwei Leser dieses Romans, denen das aufgefallen ist, dieser Punkt. Bei den anderen geht das im Heroismus unter, dieser kleine juristische Widerhaken und ich hab den Eindruck, daß es auch dem Autor kaum aufgefallen ist. Der beschreibt Dinge, die er erlebt oder gehört hat, als authentisch, und es ist auch bisher keinem Zuschauer bei irgendeiner Aufführung von dem Ding aufgefallen, dieser Punkt.
- Kluge
- Könntest du die Geschichte von Sejans Kindern noch mal frei erzählen.
- Müller
- Ja. Das ist was ganz Ähnliches vielleicht. Also Sejan war der Hauptratgeber von Tiberius, ich glaube der Chef der Pretorianer - also so was wie Beria für Stalin vielleicht…
- Kluge
- …der von einem Tag auf den anderen gestürzt wird…
- Müller
- …von einem Tag auf den anderen gestürzt wurde. Aber nach dem Tod von Tiberius, glaube ich?
- Kluge
- Nein, nein. Er wird von Tiberius gestürzt.
- Müller
- Ach von Tiberius noch, ja, doch, ja, stimmt. Und dann werden seine Kinder auch zum Tode verurteilt…
- Kluge
- Das sind Minderjährige…
- Müller
- …Minderjährige. Seine Tochter ist aber noch Jungfrau und es gibt da eine juristische Sperre, daß … eine Frau darf nicht zu Tode gebracht werden, bevor sie mannbar ist. Also muss der Henker sie vergewaltigen, bevor er sie erdrosselt. Das ist die Geschichte.
- Kluge
- Das geschieht?
- Müller
- Ja, ja.
- Kluge
- Und auf diese Weise wird die Rechtsordnung gewahrt und eigentlich auch gleichzeitig vergewaltigt. Aber der Kaiser, der hat nicht die Macht, die Rechtsordnung völlig zu brechen?
- Müller
- Ne, also auf dem Papier jedenfalls muss alles in Ordnung sein. Das ist, glaube ich, wichtig: Die Rolle des Papiers bei diesen Sachen. Und für die Russen gibt es Papier nicht in dem Sinne oder in dieser Tradierung. Oder das ist erst entstanden.
- Kluge
- Es ist also ein papierner Unterschied, ob die Deutschen angegriffen [haben], und einer macht Selbstverstümmelung…
- Müller
- Ja, ja, ja. Also vom Praktischen her ist es ja kein Unterschied. Er hat ja wirklich geglaubt, es sind die Deutschen. Also materiell gesehen ist es kein Unterschied.
- Kluge
- Als Charakter ist er zurecht bestraft, ja?
- Müller
- Ja, ja, ja. Aber vom Papier her ist es eine Rechtsbeugung. Und es geht eigentlich wirklich darum, daß man möglichst in jeder Situation, ganz gleich wie schwer es ist, alles sagt. Also nur das ist eine Lösung. - Und Politik besteht aber darin - also jetzt negativ - daß man je nach Situation bestimmte Dinge ausspart und andere aufbläst.
- Kluge
- Du hast jetzt ein negatives Projekt des Politischen gesagt. Könnte man sagen, daß die notwendige Antipolitik, die das wirklich Politische wäre, alles aussprechen heißt?
- Müller
- Das würde ich sagen, ja…
- Kluge
- Egal, ob es wer hört?
- Müller
- Ja.
- Text
- Heiner Müller über die “Annalen” des Tacitus