Mein Rendezvous mit dem Tod
Transkript: Mein Rendezvous mit dem Tod
- Textband
- Heiner Müller beschreibt einen dramatischen Eingriff in sein Leben: Die Entfernung der Speiseröhre / Ein Mensch, der so operiert wird, muß neu lernen, wie er leben will / “Lernen mit der halben Maschine”, sagt Heiner Müller /
- Kluge
- Du hast ja da deine Papiere bei dir gehabt. Ein Christ würde sein Kreuz mitnehmen, und du hast aber ein Konvolut mit Gedichten.
- Müller
- Ja, mit Gedichten und anderen Texten. Einfach deswegen, weil das ist ein alter Aberglaube. Ich bin eigentlich jahrelang nie in ein Flugzeug gestiegen, ohne irgendein angefangenes Manuskript bei mir zu haben, da ich davon ausgehe, daß ich dazu bestimmt bin, das zu Ende zu bringen. Und wenn es aus irgendeinem Grund nicht gelingt oder nicht stattfindet, bin ich nicht schuld. Ich wollte einfach die Schuld von mir wegschieben.
- Kluge
- So tun, daß du arbeitest, nicht? So lange in der Arbeit bleiben, daß es eigentlich unfair ist.
- Müller
- Sicher, ja.
- Kluge
- Du sprichst sehr flüsternd. Hast du nur ein Stimmband?
- Müller
- Eine Stimmlippe, ist mir gesagt worden, ist gelähmt durch die Operation. Es braucht ein paar Monate Logopädie, also Übungen, damit die andere Stimmlippe das übernehmen kann. Die Vokale rein anzusetzen, das ist am schwersten. Das A zum Beispiel. Die Übung besteht darin, daß man einen Schallraum bildet, einen möglichst großen, im Mund, die Zunge flach an den Boden legt und in diesem Schallraum versucht, den Anlaut, also den Vokal, sauber zu bringen ohne einen Konsonanten davor. Die Konsonanten sind die Hilfe, also es ist leichter zu sagen Ha als Ah.
- Kluge
- Eigentlich machst du etwas, was ein Schauspieler macht.
- Müller
- Sprechen lernen, ja, ich muß sprechen lernen. Ein Vokal ist ganz schwer. A, A, das kann ich noch nicht, ich kann es mit Ha, aber das ist eben der Fehler. Ha ist leicht, aber Ah ist sehr schwer. Das braucht offenbar eine geschmeidige Stimmlippe, um Vokale richtig anzusetzen.
- Kluge
- Und O und U?
- Müller
- Das ist das gleiche. Beim I ist das auch das gleiche. I ist etwas leichter vielleicht.
- Kluge
- Nun kommen die Vokale alleine in der Sprache auch nicht vor, ganz selten vor.
- Müller
- Aber als Wortanfänge kommen sie sehr oft vor.
- Kluge
- Beschreib mir doch mal die Situation an so einem Vorabend. Wie wird man auf so eine Radikaloperation vorbereitet?
- Müller
- Im Grunde ist es so, man weiß, daß man täglich sterben kann aus irgendeinem Grund oder Zufall. Aber die Situation ist natürlich ganz anders, wenn du weißt, es gibt einen Termin, an dem du entweder stirbst oder überlebst, das ist eine neue Situation, eine neue Erfahrung. Und das hat mich schon interessiert als Erfahrung. Ich muß gestehen, ich hab mir auch ständig suggeriert, daß ich leben werde. Und so was ist auch wichtig, das hilft natürlich. Es hängt doch sehr viel vom Willen ab. Was heißt vom Willen, vielleicht eher von der Einbildungskraft als vom Willen, und diese neue Erfahrung . . . vorher wirst du natürlich nicht wirklich informiert über das, was passiert.
- Kluge
- Aber es hat ein bißchen vom gerichtlichen Verfahren.
- Müller
- Das hat es. Man kann sich einfühlen in die Situation eines zum Tode Verurteilten, der weiß, wann er auf den elektrischen Stuhl gesetzt wird. Das ist klar. Das hat aber auch was damit zu tun… Ich habe zufällig in der Zeit in einem an sich nicht sehr guten Spionagethriller gelesen. Da war zitiert ein Gedicht, was wir, glaube ich, noch nicht gefunden haben, von einem amerikanischen Lyriker aus dem Ersten Weltkrieg.
- Kluge
- Aus der Schlacht von Ypern.
- Tafel
- Schlacht bei Ypern
- Müller
- Über die Schlacht von Ypern, ja. Wo der Satz steht:
- Tafel
- “Mein Rendez-vous mit dem Tod findet an einer Schanze statt.”
- Müller
- Mein Rendezvous mit dem Tod findet an einer Schanze statt.
- Kluge
- Und jetzt wachst du am anderen Morgen auf?
- Müller
- Ich bin aufgewacht … Du meinst jetzt vor der Operation? Ja, man wacht auf, und man hat kaum Zeit, darüber nachzudenken. Das geht dann sehr routinemäßig.
- Kluge
- Licht geht an, sozusagen im ganzen Krankenhaus, ist das so?
- Müller
- Weiß ich gar nicht, ich glaube nicht.
- Kluge
- Ein Hahn kräht ja nicht.
- Müller
- Ein Hahn kräht nicht.
- Kluge
- Sokrates sitzt ja am Vorabend seines Todes und sie opfern dem Asklepios einen Hahn, dem Gott der Gesundheit. Ist es ein wichtiger Moment?
- Müller
- Es gibt eine Entsprechung. Eine Entsprechung dafür gibt es natürlich. Du mußt natürlich vorher bezahlen, deinen Aufenthalt, und im Grunde die Exekution anzahlen. Du weißt genau, umsonst wirst du nicht umgebracht, du mußt vorher schon eine Anzahlung leisten. Insofern ist das die säkularisierte Form des Hahnopfers.
- Kluge
- Und jetzt, wie geht das jetzt am Morgen vor sich? Du wachst auf? Es ist ja wirklich ein Morgen vor der Schlacht, wenn man so will. Wie heißt es hier: “Das Schlachtfeld ist vermessen.”
- Müller
- Im Grunde ist der ganze Körper oberhalb rasiert worden. Für diese Operation wird eigentlich der ganze Körper gebraucht, also die ganze vordere Fläche. Und dann wirst du hingefahren, natürlich.
- Kluge
- Obwohl die im Grunde schon motorisiert und mit Automatiken operieren, d. h. sie müssen nicht alles mehr aufmachen, sondern sie können dann sozusagen im Untergrund operieren?
- Müller
- Wenig, wenig.
- Kluge
- Doch das alte Schlachtermesser?
- Müller
- Doch, schon. Es gibt da so einen Querschnitt durch den Körper und dann einen senkrechten Schnitt, und dann gibt es hier noch einen Schnitt am Hals, damit man durchgreifen kann und den Magen hochziehen. Soviel ich weiß hat die Operation sechs oder sieben Stunden gedauert, es arbeiten vier Chirurgen gleichzeitig an dir. Interessant fand ich die Terminologie, das habe ich aber hinterher erst gehört. Ich habe einen der Ärzte, die dabei waren, gefragt nach dem Verlauf der Operation. Und er sagte: Ja, zunächst also diese Schnitte, und dann stellen wir den Magen dar. Dieses Vokabular ist interessant, die Darstellung des Magens. Das heißt, es wird alles weggeschnitten, was die Sicht auf den Magen behindert. Das heißt darstellen. Das hat mich so an Liebermann erinnert: “Zeichnen heißt weglassen.”
- Kluge
- Das ist ja eine Kunst.
- Müller
- Das ist eine Kunst, ja.
- Kluge
- Also so wie es bestimmte Klavierstücke von Beethoven gibt, die für Pianisten ganz besonders schwer zu spielen sind.
- Müller
- Das ist ein schweres Klavierstück, ja.
- Kluge
- Das ist ein schweres Klavierstück. Die Operation an der Speiseröhre ist, glaube ich, eine der schwierigsten. Und siebenstündige Operationen sind ohnehin schwierig.
- Tafel
- “Erinnert sich der Körper an die Schmerzen”?
- Müller
- Man merkt es eigentlich erst hinterher. Es gibt so ein postoperatives Trauma. Das merkt man aber eigentlich hauptsächlich nachts. Beim Aufwachen zwischen… Man schläft zwei Stunden, oder drei oder vier, dann wacht man auf, dann kann man wieder schlafen.
- Kluge
- So ähnlich wie eine Narkose?
- Müller
- Das ist ähnlich wie eine Narkose, dann erinnert sich der Körper an die Schmerzen.
- Kluge
- Sozusagen als ob ein Körper weinen könnte. Gibt es Flüssigkeit an den Stellen, wo der Körper am schärfsten malträtiert worden ist, zerschnitten worden ist?
- Müller
- Ja, die Flüssigkeit ist hauptsächlich zwischen Lunge und Rippenfell. Und das ist eben eine Reizreaktion, das gehört wohl auch zu diesen Operationen. Wenn sie länger dauern, dann ist es so, als ob der Körper kocht, also es wird heiß und da gibt’s fast Verbrennungsprozesse, und dagegen produziert dann die Lunge dieses Wasser, Löschwasser.
- Kluge
- Löschwasser. Das muß man eigentlich wochenlang danach…
- Müller
- Ja. Und es ist ein Problem, ein Problem, das wieder wegzukriegen.
- Kluge
- Das ist ein Erinnerungsvermögen des Körpers… Also, du weißt ja nicht, ob du wieder aufwachst?
- Müller
- Merkwürdig ist . . . Nein, das weiß man nicht. Ich kann mich auch nicht erinnern an den Moment, wo ich die Narkose gekriegt habe. Da ist keine Erinnerung mehr. Das gehört offenbar schon zu dem schwarzen Loch im Gedächtnis.
- Kluge
- Und umgekehrt, wenn du wieder aufwachst … nach der Operation?
- Müller
- Ich weiß nichts von der Operation, nichts von der Narkose.
- Kluge
- Du kannst nur lesen in verspäteten Reaktionen des Körpers, und die sind allerdings zuverlässig und sehr lang?
- Müller
- Die sind langwierig, ja.
- Kluge
- Also wenn du es vergleichst, Rußland ist jetzt noch … antwortet auf 1812.
- Müller
- Postoperatives Trauma.
- Kluge
- Postoperatives Trauma, gibt’s bei Völkern, über hundert Jahre versetzt.
- Müller
- Ja, klar. Es war auch . . . es ist eine Abschweifung nur, aber es interessiert mich jetzt, weil ich gerade mit einem Text laboriere. Der eigentliche Schock im Osten Deutschlands vor der russischen Besatzung oder der russischen Eroberung war die Erinnerung an den Mongolensturm, weil die plötzlich wachgerufen wurde.
- Kluge
- Im 12. Jahrhundert. - Wieviel haben die dir eigentlich aus dem Körper rausgerissen? Ein Sechstel?
- Müller
- Ich hab’s nicht nachgezählt. Ich weiß nur, die Speiseröhre ist entfernt, bis auf einen Stumpf, an den der Magen angeschlossen ist.
- Kluge
- Und der Magen nach oben gezogen?
- Müller
- Der ist nach oben gezogen, ja.
- Kluge
- Das heißt, du ernährst dich jetzt, und du mußt eigentlich auch Schlucken und Verdauen neu lernen.
- Müller
- Schlucken, Schlucken muß man lernen. Die erste Zeit war diese Wunde hier noch offen.
- Kluge
- Am Hals. Die wird offen gehalten, künstlich.
- Müller
- Da sind Schläuche drin, die muß offen bleiben.
- Kluge
- Damit die wie der heilige Thomas nachgucken können voller Mißtrauen, ob das auch alles durchblutet ist?
- Müller
- Ich weiß nicht genau, offenbar ist das ein Rest dieses Durchgangs, den man braucht, um durch die Lunge zu greifen und den Magen hochzuziehen. Und in den ersten Wochen war das Problem beim Essen, daß das Essen gelegentlich hier hochkam. Das war relativ unangenehm. Und dann mußt du schlucken lernen, du kannst eigentlich nur gebremst schlucken zunächst. Und das verursacht Halsschmerzen, die dauern so fünf Wochen ungefähr. Jetzt ist es schon besser. Aber man muß es alles neu lernen.
- Kluge
- Du sagst: “Lernen mit der halben Maschine”.
- Müller
- Ja. Ich weiß nicht, ob die Formulierung stimmt, aber jedenfalls ist es eine reduzierte Maschine. Ich hatte mal so die Vorstellung, oder ein Bild dafür - du wohnst in einem Hochhaus, und da gibt’s einen Fahrstuhl, das war die Speiseröhre. Und jetzt ist nur noch das Seil übrig, und du mußt mit dem Seil auskommen.
- Kluge
- Du hangelst dich hoch und runter?
- Müller
- Du hangelst dich hoch und runter.
- Tafel
- Eindrücke aus der Intensivstation
- Müller
- Interessant war eigentlich für mich in der Intensivstation, da habe ich auch im Kopf geschrieben, auch Sachen notiert. Und interessant ist es auch . . . oder bei bestimmten Eingriffen, die immer wieder kommen und Schmerzen verursachen, habe ich immer wieder versucht, mich an eigenen Texten festzuhalten gegen die Schmerzen. Das geht aber eigentlich nur mit ganz dichten Texten.
- Kluge
- Rhetorischen.
- Müller
- Mit Prosa geht das ganz schwer. Es geht nur mit . . . das muß sich reimen, oder das muß sehr dicht sein oder sehr geformt, dann hilft es gegen den Schmerz. Aber es muß eben sehr geformt sein.
- Kluge
- Du hältst sozusagen in dir so eine Insel, nicht, die wurde auch geschützt durch die Narkose, und diese Insel geht mit Büchern, mit Texten um, und leugnet, daß man so reduziert worden ist körperlich. Denn ein bißchen hat es auch mit dem Zusammenbruch eines Imperiums zu tun, wenn man operiert wird. Und dann gibt es also Bibliotheken in dir, und die sind genau so - funktionieren wie vorher?
- Müller
- Ich habe schon oft nachgedacht über einen Satz von, entschuldige, Ernst Jünger. In der ersten Polemik gegen Jünger, die war von Wolfgang Harich nach dem Krieg, so der “Präfaschist” und so weiter. Da wurde zitiert von Harich als besonders verwerflich und als Beleg für die Unmenschlichkeit von Jünger ein Satz über die Somme-Schlacht. Der fiel mir wieder ein in der Intensivstation. Der Satz heißt: Beim Vorgang wie dem der Somme-Schlacht war der Angriff so etwas wie eine Erholung, ein geselliger Akt. Das versteht man in der Intensivstation, diesen Satz, weil der ist völlig richtig. Und man kriegt auch ein Verständnis - was ich wirklich sehr skeptisch betrachte, auch selbst - sogar für die Verachtung der Demokratie bei Leuten, die zum Beispiel aus der Somme-Schlacht kommen.
- Kluge
- Wenn du mal die Topographie einer solchen Intensivstation darstellst: Was siehst du da eigentlich?
- Müller
- Einmal sind die Machtspiele zwischen den Pflegern und Schwestern. Und dann der ökonomische Punkt. Es war zum Beispiel… Am Anfang lag neben mir - es war ein Zweibettzimmer in der Intensivstation - lag neben mir ein Spanier, vielleicht so alt wie ich oder etwas jünger. Ein ehemaliger Offizier offensichtlich. Und da lief pausenlos der Fernseher, weil er das wollte. Mich hat das nicht weiter gestört, ich muß nicht hingucken. Nach einiger Zeit aber war Brigitte mal zu Besuch und hat den Fernseher mal ausgeschaltet, weil ihr das auf die Nerven ging. Da protestierte er lautstark und sagte: Wissen Sie, ich zahle dafür jeden Tag acht Mark für diesen Fernseher. Das sind in der Woche . . . ich weiß die Zahl nicht mehr. Ich werde ihn keine Minute ausschalten.
- Kluge
- Was sind so an Geräten da versammelt?
- Müller
- Hauptsächlich der Tropf. Und da gibt’s dann so Stufen, also Tropf in die Vene, dann in die Nase, also eine künstliche Ernährung eine Zeit lang . . .
- Kluge
- Also das ist Ernährung, was hier in die Nase . . . die Nase wird jetzt sehr groß, etwas renaissanceähnlich.
- Müller
- Ja. Und interessant ist, wenn man anfängt, von Nahrung zu träumen. Mein erster Wunschtraum war: genau fünf Tropfen roten Fruchtsaft.
- Kluge
- Man darf nichts Flüssiges zu Anfang.
- Müller
- Das war ein wirklicher Traum, nur fünf Tropfen. Dann kriegte der neben mir irgendwann so Brot mit Erdbeerkonfitüre. Ich hab’ so was nie gegessen in meinem Leben, aber plötzlich war Erdbeerkonfitüre ein Traum. Das gehört dazu.
- Kluge
- Konfitüre?
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Also zu Anfang kriegst du im Grunde gar nichts. Wie ein Kosmonaut, eigentlich, wirst du gehalten?
- Müller
- Ja, du kriegst auch Kosmonautennahrung.
- Kluge
- Ja. Ist das jetzt für einen Dramatiker, es ist ja ein dramatisches Geschehen?
- Müller
- Du empfindest es nicht unbedingt als Dramatik.
- Kluge
- Aber man kann es bedichten, man kann darüber schreiben?
- Müller
- Ja, vielleicht kann man darüber schreiben. Interessant ist eigentlich nur, wie sehr der Körper ein Instrument wird oder ein Vehikel.
- Kluge
- Ein Vehikel? Und transportiert . . . Du sagst, die Frage wozu, wozu einer überlebt, kommt einem schriftlich sehr schnell aus der Feder, es ist aber eine sehr zähflüssige Frage.
- Müller
- Ja, ja. Solange du sicher bist, daß du genügend Substanz hast, daß du überleben kannst, ist die Frage theoretisch und klingt gut und interessant. Sie wird eben etwas weniger attraktiv, wenn sie konkret wird, wenn du nicht weißt, was von dir übrigbleibt nach der Operation, nach dieser Rekonvaleszenz. Und die Frage ist ja nicht ganz beantwortet, die ist immer etwas offen, wie reduziert das Leben ist danach. Ich muß dauernd meinen Kopf beschäftigen mit irgendwas. Wenn ich nichts dafür hab’ . . . Ein Grund für diese Krankheit ist sowieso, glaube ich, daß ich seit Jahren keine Möglichkeit gesehen habe, ein Stück zu schreiben. Das ist für mich einfach eine Lebensfunktion, Stücke zu schreiben, und wenn das aussetzt, fehlt irgendwas, fehlt eine Motivation.
- Tafel
- “Theatertod” / Text von Heiner Müller, geschrieben unmittelbar vor der Operation
- Müller
- Theatertod Leeres Theater. Auf der Bühne stirbt Ein Spieler nach den Regeln seiner Kunst Den Dolch im Nacken. Ausgerast die Brunst Ein letztes Solo, das um Beifall wirbt. Und keine Hand. In einer Loge, leer Wie das Theater, ein vergessenes Kleid. Die Seide flüstert, was der Spieler schreit. Die Seide färbt sich rot, das Kleid wird schwer Vom Blut des Spielers, das langsam entweicht. Im Glanz der Lüster, der die Szene bleicht Trinkt das vergessne Kleid die Adern leer Dem Sterbenden, der nur sich selbst noch gleicht Nicht Lust noch Schrecken der Verwandlung mehr Sein Blut ein Farbfleck ohne Wiederkehr.
- Kluge
- Wenn man sagt, daß du ein Schauspieler bist, wäre das verletzend?
- Müller
- Nee.
- Kluge
- Das gehört zum Beruf?
- Müller
- Gehört zum Beruf, ja.
- Kluge
- Der Dramatiker ist eigentlich selber Schauspieler?
- Müller
- Man muß alles spielen, was man die Figuren spielen läßt.
- Kluge
- Das Spielen ist eigentlich nur ein anderer Ausdruck für Einverständnis, für Einfühlung.
- Müller
- Ja, und jeder hat recht in einem Drama. Sonst ist es kein Drama.
- Kluge
- Und dies ist im Leben überhaupt nicht deine Meinung? Aber auf der Bühne . . .
- Müller
- Auf der Bühne - absolut - hat jeder recht.
- Kluge
- Hat jeder recht, ja.
- Abspann
- Heiner Müller beschreibt einen dramatischen Eingriff in sein Leben: Die Entfernung der Speiseröhre / Ein Mensch, der so operiert wird, muß neu lernen, wie er leben will / “Lernen mit der halben Maschine”, sagt Heiner Müller / Ein Erfahrungsbericht \-\- “Mein Rendezvous mit dem Tod”