Jede gefrorene Struktur hat seine Akademie

Transkript: Jede gefrorene Struktur hat seine Akademie

Texttafel
“Jede gefrorene Struktur hat seine Akademie \-”
Textband
Heiner Müller ist Präsident der Akademie der Künste - Ost / Dies ist die ehemals preußische und die der Emigranten von 1933 (Heinrich Mann ihr erster Präsident) / Wie Heiner Müller beinahe Brechts Meisterschüler geworden wäre, diesem Schicksal aber entging / Was macht der Präsident einer Akademie, die “abgewickelt” werden soll?
Kluge
Du bist Präsident der Akademie der Künste - Ost. Gestern hast du amtiert als Präsident. Wie geht so was? Wie geht so ein Tag? Wann stehst du eigentlich auf?
Müller
Das ist leider sehr verschieden. Eigentlich würde ich lieber …
Kluge
Gestern?
Müller
… früh um sieben aufstehen, weil es die beste Zeit ist, aber das schaffe ich in der letzten Zeit nicht mehr, weil die Nächte sehr lang sind, also wenn ich da einmal bin in dieser Akademie, dauert alles sehr lange. Gestern war ich ab elf oder halb zwölf in der Akademie, da bin ich vielleicht um halb zehn aufgestanden, das geht nur noch mit Wecker, dann fahre ich da hin, ich werde abgeholt immer noch gelegentlich von einem sogenannten personengebundenen Kraftfahrzeug, es gibt noch eins, was intakt ist, ich glaube sogar zwei, eins ist gerade in Reparatur. Der Fahrer holt mich ab, und damit fing’s eigentlich an. Es gibt zwei Fahrer, und ich glaube, daß ich eine ganz gute Beziehung zu denen habe, die reden schon ziemlich freimütig jetzt über das, was sie denken zu bestimmten Vorgängen in der Akademie und überhaupt.
Kluge
Das ist die Ruine einer intakten Hierarchie.
Müller
Das ist die Ruine einer intakten Hierarchie, aber ist noch immer sehr orientiert auf die Spitze, fast niemand traut sich, irgend etwas zu entscheiden oder zu machen ohne das Einverständnis des Präsidenten, also ohne Befehl eigentlich, das ist ein Problem, das sehr lästig ist.
Kluge
Und jetzt kommst du am Pförtner vorbei, und dann geht so eine Treppe hoch, so im klassizistischen Stil …
Müller
Dann gehe ich die Treppe hoch. Es gibt auch einen Fahrstuhl, aber es lohnt sich nicht, den zu benutzen, das dauert länger, als wenn man die Treppe hochgeht.
Kluge
Und dann ist da das Präsidentenzimmer.
Müller
Dann gibt es ein Präsidentenzimmer, der erste Schock, den ich da immer kriege, ist die Möblierung. Das sind… im Grunde sind das Göring-Möbel, also schwere deutsche Möbel, und da ist sicher auch… irgendwann war da ein Plan damit verbunden, du kannst dich in diesen Möbeln, es gibt daneben ein Zimmer für Sitzungen, und es sind ganz schwere Stühle, die kannst du kaum rücken, ohne große Kraftanstrengung, d. h. wenn du sitzt, sitzt du.
Kluge
Jetzt kriegst du die Postmappe vorgelegt.
Müller
Jetzt kriege ich die Postmappe vorgelegt, die blättere ich lustlos durch, weil das meiste ist völlig uninteressant, es gibt viel formales Zeug, irgendeiner hat Geburtstag, da muß man was schreiben.
Kluge
Die Referenten haben dir das schon vorbereitet?
Müller
Die haben das schon vorbereitet, dann gibt es Briefe von Mitarbeitern aus den Abteilungen mit irgendwelchen Beschwerden, Wünschen, Vorschlägen, Konzepten.
Kluge
Wieviel Mitarbeiter hat die ganze Akademie?
Müller
Noch hat sie 300, und das Problem ist, daß die ganze Abteilung, es gibt eine Forschungsabteilung, und die ganze Abteilung ist eigentlich gekündigt zu Ende Juni, und das gibt natürlich immer wieder Spannungen, Konflikte. Also dieses Konzept, was wir jetzt haben, daraus eine europäische Institution zu machen, bedeutet natürlich eine ungeheure Reduzierung der Mitarbeiterzahl, Mitglieder sowieso, und jeder will dabei sein, und alle wissen, daß höchstens zwanzig dabei sein werden, und so beginnt natürlich da ein großer Kampf um die Plätze.
Kluge
Das ist wie auf so einem Schiff.
Müller
Ja genau, die Rettungsboote reichen nicht, und natürlich will jeder in ein Rettungsboot.
Kluge
Wenn du jetzt die Postmappe durchhast, was machst du dann?
Müller
Dann sitzen meist schon Leute im Vorzimmer und wollen irgendwas.
Kluge
Ja.
Müller
Das sind Leute, mit denen es Termine gibt, aber auch viele, die keinen Termin haben. Gestern z. B. kamen zwei, der eine kam schon öfter, und jetzt kam er mit seinem Mitarbeiter, also zwei wilde Erscheinungen so aus der Szene, die einen utopischen Kongreß eröffnen wollen, der die nächsten Jahre dauern soll.
Kluge
Permanent tagend?
Müller
Permanent, ein utopischer Kongreß, und es ist völlig undurchschaubar, was sie wollen, sie erzählen nur dauernd, sie haben schon große Kontakte zur Industrie und zu sonstwem, und kriegen das Geld, und es würde nichts kosten, sie brauchen nur die Räume, aber es ist nicht zu durchschauen, was sie wirklich machen wollen. Das kann alles sehr gut sein. Das sind dann immer schwere Entscheidungen.
Kluge
Wie ist der genaue Name dieser neuen Organisation?
Müller
Der Name ist sehr vorläufig, und den muß man auch nicht unbedingt beibehalten, aber erst einmal muß es ja irgendwie heißen.
Kluge
Und wie heißt der?
Müller
Im Moment heißt es Europäische Künstlersozietät, Sozietät hat den Vorteil, daß es nach Versicherung klingt.
Kluge
Nein, nein, Sozietät klingt nach Gesellschaft, es ist keine der großen, Sozietäten gibt es im 17. Jahrhundert, 16. Jahrhundert viele. Die ganze bürgerliche Entwicklung geht über Sozietäten. Und wie ist es jetzt … Die ursprünglichen Akademien heißen übrigens Sozietäten. Und du willst jetzt sozusagen Deutsch unter intriganter Anknüpfung an französische Interessen und Wiederaufnahme …
Müller
Französische und sowjetische und polnische und andere. Das Problem …
Kluge
Alles das, was nicht kleindeutsch ist, organisierst du jetzt als Akademie.
Müller
Der Sinn wäre natürlich, daß da nur ein Drittel der Mitglieder Deutsche sein können und zwei Drittel Ausländer, das wäre der Sinn. Und mein privates Vergnügen daran wäre, daß dann auch kein Deutscher mehr Präsident sein darf, sondern ein Ausländer. Und dadurch wäre ich in einer …
Kluge
Du sitzt also da wie der Richter Azdak, möcht’ ich mal so sagen, …
Müller
Genau.
Kluge
… und regierst. Und jetzt, wenn du mir mal beschreibst, was ist eigentlich eine Akademie? Also das, was du hier beschreibst, ist eine Akademie und zwar im Sinne der frühesten Akademien, so wie Leibniz eine Akademie begründet hat.
Müller
Aber diese Idee ist ja auch verkommen.
Kluge
Später.
Müller
Nicht nur in West-Berlin, sondern auch in Ost-Berlin, ist eigentlich verkommen zu einer Art Alters…
Kluge
Ehrensitz, Senat …
Müller
Seniorenclub, z. B. der John Heartfield ist erst ungeheuer spät Mitglied der Akademie geworden, weil die bildenden Künstler in der Sektion Bildende Kunst in der Mehrheit das nicht für Kunst hielten, was er macht, das war keine Kunst im traditionellen Sinn, deswegen war es sehr schwer, den Heartfield zum Mitglied zu machen. Solche Beispiele gibt es in allen Sektionen, am besten organisiert ist die Musik-Sektion, das ist die am meisten innovative, das sind sehr gute Leute, und das ist aber auch wieder ein persönliches Verdienst von Hanns Eisler, von Paul Dessau. Zum Beispiel, es gibt so eine Einrichtung Meisterschüler, das klingt furchtbar, schon das Wort Meister, aber das ist so eingebürgert, und für mich verbindet sich damit auch was Autobiographisches. Als ich nach Berlin kam, wollte ich am Berliner Ensemble arbeiten, und ich hatte gehört, das war ‘51 glaube ich, daß der Brecht, der war Mitglied in zwei Sektionen, Darstellende Kunst und Literatur, und dadurch hatte er die Möglichkeit, drei, nein sechs Meisterschüler zu haben, es gab drei in der Darstellenden Kunst und drei Stellen für Literatur. Ich war der vierte Bewerber, und ich fiel durch. Ich erinnere mich, ich war bei Brecht und habe ihm irgendwelche Gedichte gezeigt, er hat das durchgeblättert, und dann sagte er, sehr interessant und wovon leben Sie? Und ich hatte gehört, daß er diese Frage stellt und war darauf vorbereitet …
Kluge
Sprach der so?
Müller
Ja, ja, und wovon leben Sie, so in der Art.
Kluge
Ist das Süddeutsch oder manieriertes Deutsch?
Müller
Nein, nein, das war absolut Süddeutsch, aber ein bißchen, und das hat mich immer interessiert, später erst eigentlich, als ich zum ersten Mal die Stimme von Artaud gehört habe, habe ich plötzlich eine Parallele entdeckt zu der Stimme von Brecht, also diese Art von Aggressivität, die in diesem Dialekt stecken kann, wenn es eine dünne hohe Stimme ist. Es war enorm bei Brecht, die Theaterkräche, er hat ganz geplant Kräche gemacht im Theater, das hielt er für notwendig, und das ist auch eine deutsche Theatertradition, der Regisseur muß irgendwann einen Krach machen, …
Kluge
Damit alle aufwachen so wie in der Symphonie mit dem Paukenschlag.
Müller
… damit sie alle aufwachen und damit er sich durchsetzt, und der Brecht machte das ganz kalkuliert, er hatte so ein Sortiment von Schimpfworten auch und entließ dann immer den Technischen Direktor bei dem Krach so in der vierten, fünften, sechsten Probe, er hat nie einen Krach mit Schauspielern gemacht.
Kluge
Stellt er ihn hinterher wieder ein?
Müller
Nein, der ging dann hinter die Bühne und packte seine Stullen aus, und dann kam die Weigel und sagte, Sie wissen doch, der Herr Brecht hat’s nicht so gemeint. Das brauchte er aber, um die anderen …
Kluge
Stellvertretend die anderen zu erschrecken.
Müller
Ja, genau.
Kluge
Und das machte er mit einer hohen Stimme, er hat eine keifende hohe Stimme, oder wie würdest du das bezeichnen?
Müller
Bismarck, Artaud, Hitler, das sind die Stimmen.
Kluge
Bismarck hat eine extreme, also eine Falsettstimme … Eine Kinderstimme fast. Wie klingt die Stimme von Brecht?
Müller
Du kannst es auf Platten hören.
Kluge
Ich habe es aber nicht gehört. Kannst du es nachmachen, kannst du so irgendwie die Höhe andeuten …
Müller
Ich kann es versuchen, am besten bei diesen Songs aus der Dreigroschenoper, ein paar hat er selbst gesungen. Wie heißt das Ding …: Und Jenny Towler ward gefunden, mit ’nem Messer in der Brust,
Kluge
So sprach er? und am Kai geht Mackie Messer,
Müller
der von allem nichts gewußt. Es war wirklich so… Sicher etwas parodiert jetzt, aber das war die Richtung.
Kluge
Und so hat er gesprochen?
Müller
Ja. Er hat nicht immer so gesprochen, aber das war die Tendenz.
Kluge
Du wurdest abgelehnt als Meisterschüler von Brecht?
Müller
Ja. Es war ganz einfach, der Brecht sagte, diese Frage, sehr interessant, und wovon leben Sie, und ich war darauf präpariert und sagte, ja ich dachte eigentlich, daß hier am Berliner Ensemble eine Möglichkeit wäre zu arbeiten, und dann sagte er, gehen Sie zu Rülicke.
Kluge
Zu wem?
Müller
Rülicke. Rülicke. Käthe Rülicke, und das war, also vornehm ausgedrückt, eine Nichtliebe auf den ersten Blick. Käthe Rülicke war seine Sekretärin und die Dame seiner Gunst des Augenblicks, und die konnte mich nicht ausstehen und ich sie auch nicht, die war so ein BDM-Typ, hatte aber… die verteilte die Aufgaben. Ich kriegte die Aufgabe, die Fabel von dem Stück von Pogodin, “Das Glockenspiel des Kreml”, aufzuschreiben, ein entsetzliches Werk so aus der Stalinzeit, ein Stück über den Uhrmacher, der von Lenin den Auftrag bekam, das Glockenspiel des Kreml umzuarbeiten auf die Internationale.
Kluge
Und er hat es nicht geschafft?
Müller
Doch, es ist ihm gelungen, und es war auch das erste Stück, in dem Stalin als junger Held auftrat, und das war ein Projekt des Berliner Ensembles. Der Brecht meinte oder mußte vielleicht wirklich ab und zu irgendwelche Pflichtübungen machen lassen an seinem Haus und hatte offenbar den Ernst Busch überredet, dieses Stück zu inszenieren. Die Aufgaben für solche Aufnahmeprüfungen waren immer verbunden mit der Planung, mit der Arbeit des Hauses. Ich kriegte also diese Aufgabe und habe da völlig versagt, also mir fiel nur etwas ganz Trockenes ein, so Nacherzählung und so, nicht sehr anregend. Das lag aber sicher auch daran, daß ich der letzte war, der sich gemeldet hatte. Die drei anderen wurden es dann, was mich tief kränkte, und hinterher war ich sehr froh darüber, weil es war so schwer in dem Sog so einer Person wie Brecht noch selbst vorzukommen.
Kluge
Was hast du damals für Gedichte geschrieben, also, was du ihm zum Beispiel vorgelegt hast?
Müller
Das sind zum Teil Gedichte, die später gedruckt worden sind, einige kennst du vielleicht auch.
Kluge
Sag mal ein Beispiel.
Müller
Ein Beispiel war Dieser Bericht vom Anfang, den kennst du wahrscheinlich.
Kluge
Wie geht das?
Müller
Du, frag mich so was nicht, das … wie fängt das an, du, ich weiß es nicht, das müßten wir raussuchen.
Kluge
Kannst du Gedichte überhaupt von dir auswendig?
Müller
Ich kann eigentlich sehr viele auswendig, ich kann eigentlich alles auswendig, bloß auf Anhieb ist es ganz schwer.
Kluge
Und jetzt bist du also nicht Meisterschüler geworden. Wie ging das dann weiter? Was hast du dann gemacht?
Müller
Ich habe dann im wesentlichen davon gelebt, daß ich Rezensionen geschrieben habe über Bücher, die mich nicht interessierten, das war sehr mühsam, weil das wurde sehr schlecht bezahlt wie heute auch noch, und ich brauchte sehr lange dazu, besonders bei Büchern, die mich nicht interessierten. Und das Geld war eigentlich immer schon verbraucht, bevor ich es hatte. Ich habe dann noch ein Stück geschrieben, das habe ich dann eingereicht am Berliner Ensemble, das habe ich neulich wieder gekriegt, das Manuskript, aus dem Brecht-Archiv, irgendeine Amerikanerin hatte das da entdeckt und zwar im Brecht-Archiv.
Kluge
Das hast du geschrieben, dort eingereicht, ist nicht gefördert worden, nicht angenommen worden und jetzt hast du ein Stück mehr, denn das ist ja ein Stück von dir.
Müller
Na ja, ein sehr zweifelhaftes. Ich würde es nicht so ernst sehen. Das hatte wieder eine andere Geschichte. Danach brauchte ich dringend Geld, hatte gehört, daß in der Vorbereitung der Weltfestspiele der FDJ Übersetzer gesucht wurden, also Nachdichter für irgendwelche Lieder aus allen Kontinenten, und ich kam da auch wieder etwas zu spät, da waren eigentlich nur noch polnische Volkslieder übrig und Stalinhymnen, und Stalinhymnen von Australien bis zu den Fidschi-Inseln, es gab in allen Sprachen Stalinhymnen. Man kriegte eine Rohübersetzung und eine Interlinearübersetzung, die Melodie und das Metrum, und konnte, weil das eigentlich immer ziemlich das gleiche Klischee war, man konnte in einer Nacht ungefähr drei bis vier davon übersetzen, und man kriegte pro Stück 350 Mark. Das war ungeheures Geld damals.
Kluge
Aus welchen Sprachen hast du das übersetzt?
Müller
Du, Gar nicht aus Sprachen, nur nach Übersetzungen,
Kluge
Du hast es in Sprache verwandelt.
Müller
aus dem Chinesischen, Fidschi, Spanischen …
Kluge
Du kriegtest schon die Rohübersetzung und machtest daraus dichterische Texte?
Müller
Genau. Daraus mußte man einen dichterischen Text machen, was manchmal wirklich sehr schwer war, aber es wurde gut bezahlt. Das Interessante ist , wir haben uns nichts dabei gedacht, es war eine Gruppe von fünf Leuten, und wir hatten alle eigentlich ein eher negatives Bild von Stalin, das war ‘51, und wußten ziemlich gut Bescheid über das, was da der wirkliche Kontext war, aber das hat uns überhaupt nicht gestört. Wir haben das wie einen Job betrieben, und das hat uns nicht berührt. Ich glaube, die anderen auch nicht.
Kluge
Rumpelstilzchen.
Müller
Ja, genau. Dann traf ich, das fand ich ganz interessant, einen meiner erfolgreichen Konkurrenten auf der Straße, und ich fragte ihn, was machst du gerade, das war noch während der Prüfung, und er sagte, ich rationalisiere gerade den Lear, und da wußte ich, der schafft es. Wenn man dieses Vokabular schon so beherrscht. Der hat es dann auch geschafft.
Kluge
Rationalisiert, so vereinfacht, damit das Berliner Ensemble das spielen kann, oder was ist damit gemeint?
Müller
Nein, rationalisieren war eine beliebte Vokabel in der Dramaturgie des Berliner Ensembles.
Kluge
Das bedeutete nicht vereinfachen?
Müller
Nein, nicht vereinfachen, man mußte rationalisieren, weil es war klar für die, nicht für Brecht, aber für die Assistenten und Dramaturgen war klar, daß z. B. Shakespeare natürlich ein Wirrkopf ist. Ich erinnere mich, der Palitzsch erzählte mir mal lange danach, der Brecht hatte alle verpflichtet, den ganzen Shakespeare zu lesen, haben die zwar nicht gemacht, aber sie mußten das dann irgendwie vortäuschen, und Palitzsch hat wahrscheinlich als einziger den ganzen Shakespeare gelesen, und danach war er völlig verwirrt und sagte zu Brecht, aber das stimmt doch alles nicht, was der und wie der das schreibt, und Brecht sagte, das ist es ja eben. Aber Palitzsch konnte darüber nicht wegkommen, und von da kam diese Vokabel rationalisieren, denn Shakespeare war natürlich ein Wirrkopf, und das stimmte alles nicht, was der geschrieben hat.
Kluge
Und das jetzt in rationale Köpfe einfädeln, das wäre rationalisieren? Im 16. Jahrhundert, im 17. Jahrhundert gibt es, von Leibniz und von anderen begründet, Akademien, was ist eigentlich dieser Grundgedanke? Wenn du jetzt mal diese ganzen Beschwerden, daß eine Akademie im Dritten Reich nichts ist und daß eine in der DDR nun auch angeschlagen ist und eine, die nur der Rechthaberei von West-Berlin dient, auch nichts ist.
Müller
Naja, das Problem ist ja eigentlich, daß ein Staat oder jede gefrorene Struktur …
Kluge
Hat seine Akademie. Das ist aber die pejorative Form. Zunächst einmal ist es die Form, die …
Müller
Das eigentliche Konzept müßte doch sein, daß es …
Kluge
Ohne Verwaltung, staatsfrei.
Müller
… einen staatsfreien Raum geben muß, wo auch…
Kluge
Gegen die Universitäten, in denen eigentlich nur Verwaltung herrscht.
Müller
Ja, genau.
Texttafel
“Friedrich dem Großen: Sieg, Frieden & Künste”
Kluge
Da gibt es die Akademie, die gewissermaßen sich als einzige Institution des Staates nicht mit dem Staat identifiziert. Das ist eigentlich der Grundgedanke aller Akademien.
Müller
Ja, genau. Und da fand ich eben so gut, diesen Satz von … in so einem alten Papier über die erste preußische Akademie, einen Satz von Friedrich dem Großen oder dem II., wo er sagt, die Akademie gehört nicht auf die Parade. Das finde ich einen ganz wichtigen Ansatz.
Kluge
Das finde ich sehr gut, seine Akademie hat im übrigen D’Alembert drin und ein paar ganz gute Leute.
Müller
Ja, ja. Und die konnten bestimmt keinen Stechschritt.
Kluge
Beziehungsweise sind auch nicht verpflichtet, anwesend zu sein, wenn paradiert wird.
Müller
Um so etwas geht es eigentlich. Es muß einen Raum geben oder einen Bereich geben, wo gedacht wird ohne Verantwortung und auch ohne …
Kluge
Probehandel im Geiste sozusagen.
Müller
Ja, genau, wo man Sachen probieren kann, die vielleicht überhaupt nicht machbar sind. Inzwischen gibt es diese Entdeckung, daß die Ost-Akademie keine DDR-Gründung war, sondern daß es einen SMA-Befehl gibt, also Sowjetische-Militär-Administration, die Preußische Akademie wieder zu gründen, die ‘33 abgebrochen war, und der erste Präsident war dann Heinrich Mann, das war ein Anknüpfen an die abgebrochene, abgeschnittene Tradition. Der Brecht war zuletzt sehr jähzornig, weil er herzkrank war, und da gab es so eine Szene, wo er den Alexander Abusch am Kragen packte und sagte, was haben Sie in der Akademie zu suchen? Machen Sie, daß Sie rauskommen und so.
Kluge
Hat er gesagt?
Müller
Ja.
Kluge
Alexander Abusch ist ein Funktionär?
Müller
Der war stellvertretender Ministerpräsident, war eigentlich die Kreatur von Becher, wobei Becher noch eine andere Figur ist.
Kluge
… Brecht kann ja nichts passieren …
Müller
Da konnte nichts passieren, nur seinen Schülern ist etwas passiert. Von diesen drei Meisterschülern hat einer fünf Jahre Bautzen gekriegt, der andere 20 Jahre Sibirien, der hat fünf abgesessen davon, dann wurde er freigekauft, das war Horst Bienek, der war ein Meisterschüler von Brecht.
Kluge
Und der dritte?
Müller
Der dritte war Martin Pohl … der erste. Der dritte war Heinz Kahlau, den mußt du nicht kennen, das ist so ein minderer DDR-Lyriker, also ist keine wichtige Figur.