Heiner Müller über Rechtsfragen
Transkript: Heiner Müller über Rechtsfragen
- Tafel
- Heiner Müller, Träger des Kleistpreises 1990, über Rechtsfragen - - “Ich glaube ich darf darüber nicht nachdenken, ich muß darüber schreiben - \-”
- Textband
- Lichtenberg und Gertrude Stein über Metaphern/ Rechtsfälle in den Stücken Shakespeares und in sozialistischen Dramen/ Der Findling von Heinrich von Kleist/ Wolokolamsker Chaussee I-V/ Gespräch mit Heiner Müller - -
- Kluge
- Man nimmt also den Stock, die Krücke, also die Metapher, ja…
- Müller
- …und dann gibt es eben das Hebelgesetz und die Metapher trägt dich weiter, als du denken konntest, vorher. Hinterher kannst du dann vielleicht das nachdenken, was die Metapher dir…
- Kluge
- Wer hat das gesagt?
- Müller
- Lichtenberg: “Die Metapher ist klüger als der Autor.”
- Kluge
- Der aus dem 18. Jahrhundert.
- Müller
- Ja. Und dann gibt es so einen schönen Text von der Gertrude Stein über die elisabethanische Literatur mit dem ganz naiven Satz: “Es bewegt sich alles so sehr.” Und sie schreibt eigentlich über die Schnelligkeit des Bedeutungswandels in dieser Periode der Kolonisierung. Weil es gab dauernd neue Worte und Worte, die neue Inhalte, neue Dimensionen kriegten durch diese globale Kolonisierung. Und das zeigt die…
- Kluge
- Im Zeitalter Shakepeares…
- Müller
- Jaja. Und das hat die Sprache der Elisabethaner so irisierend gemacht, so beweglich. Der Bedeutungswandel…
- Kluge
- Also die Metapher verlangsamt, sagst du?
- Müller
- Nein, sie beschleunigt, sie beschleunigt, glaube ich,
- Kluge
- …sie beschleunigt…
- Müller
- …Und es bewegt sich alles so sehr, sagt sie; also bei Shakespeare und bei den Elisabethanern. Und dann beschreibt sie auch, wie das dann am Schluß, diese Bewegung langsam aufhört mit der Konsolidierung, also des britischen Imperiums…
- Kluge
- …und dem Brutalismus…
- Müller
- …und mit dem Brutalismus. Und dann hört Shakespeare auf zu schreiben. In den letzten Stücken…
- Kluge
- …verabschiedet er sich…
- Müller
- …wird die Sprache allegorisch eher, oder…
- Kluge
- …Ja, Sturm…
- Müller
- …wird die Art der Mitteilung allegorisch. Und da hört die Beschleunigung auf.
- Kluge
- Ja. Und die Metapher ist also das Kennzeichen von einer Zeit, die schneller geht, als die Menschen Erfahrungen verarbeiten können.
- Müller
- Jaja. Oder ich hab’s mal so formuliert, die Metapher ist eine Sichtblende gegen zu viele Eindrücke, die man nicht verarbeiten kann. Und ist so ein Bündelungsinstrument.
- Kluge
- Nun machst du ja offenkundig noch etwas anderes, du nimmst Stoffe wie “Der Findling” von Kleist, eine Geschichte von Anna Seghers oder überhaupt literarischen Stoff, der einmal schon eine Form hatte, zerbrichst diese Form, fragmentierst sie und erzählst darüber, quasi über das Echo einer früheren Geschichte eine neue Geschichte.
- Kluge
- Warum ist zum Beispiel Wolokolamsker Chaussee, das hab ich noch nicht verstanden. Da gibt’s doch nicht eine, sondern mehrere. Was ist Wolokolamsk?
- Müller
- Diese Chaussee meinst du? Es ist ein ganz konkreter Ort. Es gibt vor Moskau auf der Wolokolamsker Chaussee … es war eine Straße nach Moskau. Eine der wenigen intakten Autostraßen, also für Panzer geeignet. Und da gibt es ein Denkmal sogar auf dieser Chaussee. Und das ist der Punkt, wo der deutsche Vormarsch auf Moskau gestoppt wurde. Das war die Wolokolamsker Chaussee. Und das ist natürlich heute schon wieder eine Metapher, wenn man es zusammen zieht mit Prag, mit Berlin. Also daß die Panzer dahin, und dann die Panzer zurück, die anderen. Und die dann auch wieder, so im fünften Teil, so einen Endpunkt markieren, wo es nicht weitergeht.
- Kluge
- Aber was ist das jetzt, was ich das hier in diesem Buch hier lese. Das sind doch quasi Gedichte.
- Müller
- Würde ich nicht sagen. Ich würde schon sagen, es sind dramatische Texte…
- Kluge
- Dramatische Texte.
- Müller
- Und die sind sicher ganz schwer zu inszenieren, weil die Details sind realistisch, die Konstruktionen nicht. Also jeder Dialogsatz der zitiert wird, hat einen ganz realen Gestus aber der Kontext ist nicht realistisch, unbedingt.
- Kluge
- Nun erzählst du das nicht einmal, sondern mehrfach. Mehrfach offenkundig Verschiedenes. Und manchmal sind hier jetzt, also ist Kafka genannt, Anna Seghers genannt…
- Müller
- Ja das Merkwürdige ist… es sind ja alles in gewisser Weise Rechtsfälle, es sind alles Rechtsfragen. Also, zum Beispiel, ist eine kleine Abweichung jetzt, aber… in New York lernte ich den Arthur Miller kennen vor zwei Jahren bei einem Pen-Kongress. Und irgendwie mochte er mich und wir haben also öfter miteinander geredet. Er erzählte eine Geschichte, als pragmatischer Amerikaner, was das Problem mit den Russen wär. Es kann auch vor drei Jahren gewesen sein. Er hätte es das erstemal begriffen, als er in Moskau war, er war noch Präsident des Pen und es ging um die Vorbereitung eines Kongresses, der auch mit Frieden zusammenhing, was immer, und die Russen waren sehr begierig daran teilzunehmen, und sagten aber, sie könnten daran nicht teilnehmen, wenn die Dissidenten teilnehmen, Solschenizyn, Aksjonow und andere. Und Arthur Miller sagte ihnen, es tut mir leid, aber es gibt ein Pen-Statut, die sind Mitglieder, Sie sind Mitglieder… …ich kann sie nicht ausschliessen…
- Kluge
- …ich kann sie nicht ausschließen.
- Müller
- Und dann fragten die Russen, aber Sie sind doch der Präsident des Pen, da sagte er, ja das bin ich, dann können Sie doch das Statut ändern, da sagte er, {color:#000000}that’s the problem with the Russians, they don’t know law.{color}\\ Und das fand ich das Tolle an dem Buch, schon als ich es gelesen habe so irgendwann Ende der 50er Jahre von dem Aleksandr Bek, daß da zum erstenmal, was Gorbatschow ja inzwischen ganz explizit gemacht hat, Rechtsfragen gestellt werden.
- Kluge
- Der ist ja ein Jurist, der Gorbatschow.
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Rechtsfragen, das heißt, du beschreibst eigentlich ein Kampfgeschehen und verklausulierst es als Rechtsfrage.
- Müller
- Ja, das ist, glaube ich, in allen Teilen, und das wird meist bei Inszenierungen nämlich überhaupt nicht gesehen. Das wird nur gelesen wie die Ilias, die man ja auch so lesen kann.
- Kluge
- Ja.
- Müller
- Aber gewohnheitsmäßig liest man sie als irgendeine Schlachtbeschreibung bis Heldenlied und so, und dann versteht man nichts mehr.
- Kluge
- Nein.
- Müller
- Aber es geht in fast jedem Fall um Rechtsfragen, zum Beispiel das Problem mit dem zweiten Teil wird’s besonders… im ersten sowieso…
- Kluge
- Beschreib mal. Was ist die erste Rechtsfrage?
- Müller
- Die erste Rechtsfrage im ersten Teil ist, der Kommandeur hat aus Angst um die Kampfkraft seiner Truppe einen deutschen Angriff fingiert und einer schießt sich in die Hand auf der Flucht vor dem angeblichen deutschen Angriff.
- Kluge
- Aus Angst, um sich wehruntauglich zu machen.
- Müller
- …Jaja, und dafür wird er erschossen, was nach europäischem Recht, oder nach dem römischen Recht eigentlich nicht möglich ist, weil, es war eine Fiktion…
- Kluge
- Weil es ja keine echte Handlung ist, es ist eine Fiktion.
- Müller
- …es war eine Fiktion, das ist die eine Rechtsfrage. Das ist zum Beispiel so ein Punkt, vor ein paar Jahren, Stefan Hermlin war ganz außer sich, sagte er, er hatte zum erstenmal gehört, daß in der Roten Armee, Sowjetarmee Soldaten geschlagen werden von den Offizieren. Und er sagte, für Hermlin war das ein merkwürdiger Satz, er sagte, es war in der Nazi-Wehrmacht unmöglich, daß ein Offizier einen Soldaten schlägt. Das war für ihn ein Schock, als er das erfuhr, wobei bei den Russen, die sehen das sicher ganz anders, die sind froh, wenn sie nur geschlagen wurden.
- Kluge
- In der Nazi-Wehrmacht war das tatsächlich unmöglich.
- Müller
- Ja, das ist so ein Punkt. Auch daß die russische Überlegenheit im Zweiten Weltkrieg unter anderem darauf beruhte, daß es Menschenrechte nicht gab, auch keine Vorstellung davon. Oder dieser Dialog zwischen Eisenhower und Schukow, den kennst du?
- Kluge
- Nein.
- Müller
- Die beste Methode ein Minenfeld zu räumen, das berichtet Eisenhower, und Schukow sagte: Die beste Methode ist mit den Stiefeln eines marschierenden Bataillons.
- Kluge
- Hat er das wirklich gesagt?
- Müller
- Das hat er angeblich gesagt, behauptet Eisenhower.
- Kluge
- Sagen die Amerikaner.
- Müller
- Und das glaube ich auch, das ist durchaus denkbar.
- Kluge
- Ja.
- Müller
- Das hat ja eine Tradition. Es gibt von Jean Fawl so eine Anekdote über Peter den Großen beim Flottenbesuch in London. Er wollte eine Seemacht… das kennst du alles, und er interessierte sich für das Kielholen, also die berühmte Strafe für Matrosen. Also vorn runterlassen…
- Kluge
- …Vorne runterlassen und unten durchziehen und wer unter dem Kiel durchkam, dessen Leben wäre sogar gerettet, er wäre begnadigt. Ist aber keiner durchgekommen.
- Müller
- Jaja, genau. Und er wollte das sehen und die Engländer sagten, ja, es täte ihnen leid, aber sie könnten das im Moment nicht vorführen, weil sie haben gerade keinen straffälligen Matrosen, da sagte der Peter der Große: Ja, dann nehmen Sie doch einen von meinen Leuten. Und diese Haltung hat sich durch die russische Geschichte gezogen.
- Kluge
- Wodurch entsteht eigentlich Recht? Also wer produziert sowas?
- Müller
- Das entsteht aus Notwendigkeiten, aus Zwängen, aus Sachzwängen.
- Kluge
- Aber es muß erst eine ursprüngliche Akkumulation, eine Enteignung, stattgefunden haben, daß ich so richtig Sehnsucht nach dem Recht kriege.
- Müller
- Jaja, und das ist der zweite Punkt, die zweite Episode, auch noch nach Aleksandr Bek, wo ein rangniederer Offizier einen ranghöheren degradiert, was militärrechtlich …
- Kluge
- Auch dies ist notwendig, um Recht zu erzeugen.
- Müller
- Ja, aber es ist rein nach dem geltenden Recht völlig anarchistisch. Dieses Verhältnis zwischen Festschreibung von Recht und Anarchie ist eigentlich das Thema, der Notwendigkeit auch von Anarchie, um ein neues Recht zu…
- Kluge
- Und jetzt die zweite Geschichte.
- Müller
- Das ist die zweite Geschichte, diese Degradierung.
- Kluge
- Die Degradierung, also es ist nicht Revolution, es wird das Verhältnis Offizier - Mannschaft nicht geändert, aber es entsteht ein Machtwechsel, und zwar von unten nach oben.
- Müller
- Und der dritte Teil ist der 17. Juni, DDR.
- Kluge
- Und da ist die Rechtsfrage?
- Müller
- Das ist etwas verwickelter, die Rechtsfrage, da geht’s schon mehr in die Geschichte, glaube ich. Bis wann hat ein Staat oder eine Struktur das Recht…
- Kluge
- …Gehorsam zu verlangen.
- Müller
- …Panzer gegen die Bevölkerung einzusetzen.
- Kluge
- Und bis wann hat ein Staat das Recht?
- Müller
- Bis wann hat ein Staat…ja, das Recht, Bedürfnisse der Bevölkerung zurückzustellen im Interesse einer Strategie oder einer Perspektive.
- Kluge
- Und wie wird das beantwortet? Oder wird nur die Frage gestellt?
- Müller
- Es wird nur die Frage gestellt, glaube ich, weil sie war in dem Kontext kaum beantwortbar, glaube ich. Das war eine ganz komplizierte Geschichte, dieser 17. Juni ‘53. Es gibt jetzt so ein paar Informationen darüber, was vorher passiert ist. Ulbricht war in Moskau, also nach Moskau bestellt mit Honecker, ich weiß nicht, wer noch dabei war, es waren noch zwei andere dabei, und sie wurden konfrontiert mit dem Konzept von Beria und das Konzept war, die DDR aufgeben, also zum Tauschobjekt machen.
- Kluge
- Also jetzt?
- Müller
- ‘53, ja. Natürlich war der NKWD besser informiert als die DDR-Führung über die wirkliche Situation, und die waren der Meinung, das wird zu teuer, das müssen wir abstoßen, das bringt nichts, das ist nicht zu halten.
- Kluge
- Weil auch die Bevölkerung einfach nicht einzugemeinden ist.
- Müller
- Jajaja. Und Ulbricht sah das ein und flog zurück nach Berlin mit den anderen, sie sahen es alle ein, also freie Wahlen, und das wär der erste Übergang gewesen. Und sie kamen nach Berlin und da war der 17. Juni. Und da ging es nicht mehr, das Konzept. Da mußte man die Struktur wieder herstellen, auch wider besseres Wissen.
- Kluge
- Nun gab es doch zwei Fraktionen.
- Müller
- Ja, und dann haben sie gefunden einen Schuldigen, das war Herrnstadt zum Beispiel, zu dem kamen dann Honecker und Mielke, glaube ich, war schon dabei, und sagten, Genosse Herrnstadt, du hast die Konzeption von Beria unterstützt, der sagt, das war ich doch nicht, das war doch der Walter. Nein, du hast die Konzeption von Beria unterstützt und du bist jetzt der Parteifeind. Da wurden Parteifeinde ernannt, weil Ulbricht durfte es nicht gewesen sein, der mit dieser Konzeption einverstanden war.
- Kluge
- Es gibt etwa 83 verschiedene Ausdrücke für Gewalt oder Macht in der lateinischen Sprache, die damit ja sehr subtil umgegangen sind…
- Tafel
- Lateinische Ausdrücke für Gewalt: imperium / spectrum / maiestas / tyrannis / auctoritas / ius / vis / bracchium / potestas / potentia / licentia / virtus / violentia etc.
- Kluge
- …und jeder Ausdruck hat eine andere Bedeutung, eine Nuance, also auctoritas…
- Müller
- Das ist nicht ganz dasselbe.
- Kluge
- Aber ungefähr dasselbe, Imperium ist etwas völlig anderes, Imperium funktioniert gerade ohne Autorität. Der Voltaire sagt: “Ein König, der seinen Befehl erklären muß, ist kein König mehr.” Das wäre Imperium.
- Müller
- Das gilt auch für die Literatur übrigens. Es gibt so einen schönen Satz von Jünger: “Wer sich selbst kommentiert, geht unter sein Niveau.” Das ist dasselbe.
- Kluge
- Das tust du ja nun nie, das tust du ja auch nicht. Ich habe ein Interview von dir gesehen, wo du also eine dreiviertel Stunde überhaupt nicht geantwortet hast, weil du kommentieren solltest. Aber wenn du mal verschiedene Ausdrücke für Gewalt, die zusammengenommen zum Beispiel, die einmal im Staat zusammengefaßt sind, dann aber auch im Einvernehmen, in spontanen Handlungen genauso vorherrschend in Erscheinung treten.
- Müller
- Ich glaube, ich darf darüber nicht nachdenken.
- Kluge
- Nein. Okay.
- Müller
- Weil ich darüber schreiben muß…
- Kluge
- Nein, nein, okay. Du mußt darüber schreiben.
- Müller
- Es gibt vielleicht einen anderen Punkt, der mich in dem Zusammenhang hier interessieren würde oder der mich interessiert, das Problem der - und das hat mit der Metapher zu tun - das Problem der verschiedenen Zeitebenen, also die Kunst hat eine andere Zeit oder läuft in einer anderen Zeit als die Politik oder die Geschichte.
- Tafel
- {color:#000000}special no cut edition{color}\\
- Müller
- Kunst hat eine Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, da ist das gleichzeitig da, deswegen braucht es die Metapher als… auch als Vehikel, wo also Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft gleichzeitig sind und deswegen auch diese Notwendigkeit, zum Beispiel hier “Findling”, Kleist, natürlich vorausgesetzt, man kennt das oder man kann das nachlesen, das ist eine Geschichte, und da wird so schräg rein eine andere Geschichte erzählt, die aber sich anders liest, wenn man den Kleist kennt. Und da entsteht eine Art von Dialog auch von Epochen oder sogar von Rechtssystemen und von Strukturen, daß eine die andere kommentiert.
- Kluge
- Und wenn du mal so eine zweistämmige Geschichte, was ist der “Findling”, was ist das bei Kleist? Ich kenne die Geschichte nicht.
- Müller
- Du kennst sie nicht?
- Kluge
- Nein.
- Müller
- Die Geschichte geht so: Ein reicher Kaufmann fährt, ich glaube, nach Italien aus der Karibik oder sowas, die Orte weiß ich jetzt nicht genau, die Struktur ist jedenfalls so: Ein reicher Kaufmann fährt mit seinem Sohn, den er sehr liebt, auf eine Geschäftsreise, kommt in eine Stadt, wo die Pest gerade ausgebrochen ist, der Sohn stirbt an der Pest, und er selbst überlebt. Auf der Rückreise steht irgendwann am Weg oder Straßenrand ein Kind, ein Junge, verwaist unter anderem durch die Pest, die Eltern sind tot. Und er nimmt ihn mit als Ersatz für seinen Sohn. Und dieser Junge ruiniert dann sein Leben und seine Familie, indem er die Frau erpreßt und versucht sie auch erotisch zu erpressen, und die Frau bringt sich um oder stirbt daran. Und dann bringt dieser Stiefvater den Stiefsohn um und der Schluß ist dann, noch als er unter dem Galgen steht, sagte er, er möchte so gerne in die Hölle, damit er den weiter töten kann, diesen Stiefsohn.
- Kluge
- Und wie hast du das jetzt, die zweite Geschichte Wolokolamsker?
- Müller
- “Findling” meinst du jetzt?
- Kluge
- Ja.
- Müller
- Das geht zurück auf eine Erzählung eines Mannes, der in Bautzen war fünf Jahre, der erzählte mir eine Geschichte von einem ziemlich jungen Mann, der war 19 Jahre alt, hatte auch fünf oder sogar mehr Jahre Zuchthaus, das war der adoptierte Sohn eines hohen Parteifunktionärs, der keine Kinder mehr kriegen konnte, kaputt, also durch Zuchthaus, KZ, was immer, und dieser Sohn war so eine Projektion für ihn, dieser Stiefsohn. Und der hat dann aus Reaktion so gegen dieses behütete und privilegierte Elternhaus und sicher auch aus Erfahrungen, die er im Kontext mit anderen Jugendlichen gemacht hatte, immer wieder so Sachen gemacht, zum Beispiel in Dresden an eine Brücke geschrieben: “Russen raus, Freiheit\!” Und so, was hier zitiert ist. Dann Flugblätter verteilt und schließlich hat er auf Rügen ein Schiff der Grenztruppen gekapert, um damit nach Dänemark auszubrechen…
- Kluge
- Und da wurde er gefaßt.
- Müller
- …und da wurde er gefaßt. Der Alte hat ihn sonst immer rausgeholt aus allem, konnte ihn schützen, da konnte er nichts mehr tun. Der war dann in Bautzen im Zuchthaus, er war gefürchtet bei den Wachmannschaften, weil er hatte die Fähigkeit Glühbirnen zu fressen, und damit war man natürlich King. Der Alte besuchte ihn ständig und brachte Geschenke. Der Junge sprach kein Wort, nahm die Geschenke und verteilte die an die anderen und hat nie ein Wort mehr mit diesem Stiefvater gesprochen, der hat sehr gelitten darunter. Das war die Geschichte.
- Kluge
- Sag mal, was hast du an deiner Hand da gemacht?
- Müller
- Ich habe versucht mit dem mir angeborenen technischen Geschick ein Feuerzeug zu füllen und dann habe ich es angezündet, da war aber so viel Benzin dran an dem Feuerzeug, weil es übergelaufen war, daß meine Hand in Flammen stand. Das sah sehr gut aus.
- Kluge
- Und was ist das für eine elegante Vorkehrung da?
- Müller
- Dieser Verband? Du, das ist ein Chirurg hier mit einem japanischen Namen und offenbar ist das eine japanische Methode. Und er hat natürlich recht, das ist besser. Gestern hatte ich ja so einen Gesamtverband und es ist natürlich besser, die Finger einzeln zu bearbeiten. Und dann kannst du wenigstens… und das ist sonst kein Problem…
- Kluge
- Jaja, du schreibst aber nicht mit der Hand?
- Müller
- Doch, auch. Weil ich kann mit beiden Händen.
- Kluge
- Bist du Links\- oder Rechtshänder?
- Müller
- Linkshänder eigentlich.
- Tafel
- Heiner Müller, Träger des Kleistpreises 1990, über Rechtsfragen - - “Ich glaube ich darf darüber nicht nachdenken, ich muß darüber schreiben - \-”