Episches Theater & postheroisches Management

Transkript: Episches Theater & postheroisches Management

Textband
In den letzten Monaten seines Lebens war Heiner Müller fasziniert von einem kleinen Buch des Merve Verlags: Postheroisches Management / Organisationen, heißt es dort, “sind Ansammlungen von Lösungen, die nach Problemen suchen, ein Durcheinander von Themen und Gefühlen - - " / Müller sah in den Krisen moderner Konzerne den Rohstoff für neuartige Dramen - -
Tafel
Episches Theater & postheroisches MANAGEMENT / Gespräch mit Heiner Müller “Macht mehr Fehler und macht sie schneller\!” “Woraus wollt ihr sonst etwas lernen?” Der gekochte FROSCH Dirk Baecker, Postheroisches Management, S. 50
Müller
Der gekochte Frosch: “Eine der Geschichten, die Unternehmensberater und Management\- philosophen immer wieder gern erzählen, um deutlich zu machen, wie schwer es ist, einen Organismus oder ein Unternehmen zum Lernen zu bringen, ist die vom Charles Handy zu Parabel gemachte Geschichte vom gekochten Frosch. Jeder kann sich vorstellen, was passiert, wenn man einen Frosch in sehr heißes Wasser wirft. Er versucht so schnell wie möglich wieder herauszukommen. Aber was passiert, wenn man einen Frosch in lauwarmes Wasser setzt und die Temperatur ganz allmählich erhöht? Überraschenderweise passiert nichts. Der Frosch gibt alle Anzeichen des Wohlgefühls von sich und beginnt, bei lebendigem Leibe zu kochen, ohne es auch nur zu merken.”
Kluge
Das wenden sie an auf Organisationstheorie, ein Unternehmen.
Müller
Ja, ja. Das gilt natürlich nicht nur für Unternehmen, das kannst du ja auch auf den Staat anwenden, auf alles. Ich finde das schon sehr gut. Das ist etwas ähnliches was ich …
Kluge
Das ist jetzt deine Gegenwartslektüre, “Postheroisches Management” von Dirk Baecker. Das heroische Management?
Müller
Na, offenbar greift das nicht mehr, das heroische Management.
Kluge
Das glaubte noch an was?
Müller
Naja, es ist so: Mich hat der Titel interessiert, natürlich auch im Zusammenhang mit der Tätigkeit hier im Theater, wo man immer wieder darauf stößt, daß der eigentliche Störfaktor ist der Mensch, und mit dem Menschen kann man nicht heroisch umgehen. Weil der Mensch ist nicht heroisch, sondern es ist gegen seine Natur, heroisch zu sein.
Tafel
“Episch” / “Dramatisch”
Müller
Wie die Geschichte von dem gekochten Frosch beschreibt. Das ist ja kein dramatischer Vorgang, das ist ja eher ein epischer oder ein episch beschreibbarer Vorgang, weil das Bewußtsein fehlt. Der Frosch weiß nicht, was passiert, was ihm passiert. Denn wenn er wüßte, was ihm passiert, dann wär’s dramatisch. Aber wenn er nicht weiß, was ihm passiert, dann bleibt es episch, ein epischer Stoff. Was ich auch wesentlich finde, ist der zynische Ansatz hier in dem Text, “Deadlines für Teamarbeit”. Das finde ich sehr gut, weil bestimmte Werte, die noch als sakrosankt gelten, also das Individuum und die Persönlichkeit und so, werden hier einfach schon als nicht mehr gegeben vorausgesetzt. Das finde ich auch einen wesentlichen Punkt. Entschuldige, ich habe meine Lesebrille nicht, und ich brauche zunehmend eine Lesebrille, deswegen nehme ich die immer ab.
Tafel
“Management als eine Form der Lebenskunst” / “Ein Vademecum”
Müller
Zum Beispiel, so ein paar …
Tafel
“Wir wissen mehr als wir zu sagen wissen - - " “Das Überflüssige ist nicht überflüssig - - " Richard M. Cyert / James G. March
Müller
Ja, es geht um Einrichtung von Teams, was man da beachten muß: “Erstens, nenne die Gruppe ein Team, aber behandele ihre Mitglieder als Individuen. Nichts behindert die Entwicklung einer Gruppenverantwortlichkeit verläßlicher.”
Kluge
Ach so, das soll man nicht machen.
Müller
Ja, ja.
Kluge
Also der normale westdeutsche Manager neigt dazu …
Müller
Es geht um die Fehler, die man vermeiden soll.
Kluge
… die Gruppe ein Team zu nennen, ja, er gibt aber direkte Weisung und Kommunikation für die einzelnen.
Müller
Ja. “Zweitens, bleibe unklar in der Zuweisung von Autorität über die Gruppe und innerhalb der Gruppe, denn dann entstehen ausreichende Ängste, um Gruppenarbeit zu verhindern. Drittens, überschätze die Selbstorganisationsfähigkeit der Gruppe und verzichte darauf, klare Grenzen der Aufgaben, der Ressourcen und der zur Verfügung stehenden Zeit anzugeben. Denn dann ist die Gruppe so sehr mit der Definition ihrer Aufgabe, dem Kampf um Ressourcen und der Suche nach dem Zweck ihrer Aufgabe beschäftigt, daß für alles andere entsprechend wenig Zeit bleibt. Viertens, gib dem Team eine klare Aufgabe, aber verzichte darauf, für die organisatorische Unterstützung zu sorgen.” Das kann man so …
Kluge
Das kommt dir so vor, als ob jetzt ein antiker Autor über Lebenskunst eine Satire schreibt, habe ich das richtig verstanden? Denn ich habe dich ja gefragt, du gibst mir den Auftrag über einen Boten, ich soll das dringlich lesen, mich darauf vorbereiten, du wollest hierüber sprechen. Natürlich lese ich das jetzt nicht unter dem Gesichtspunkt der Organisationstheorie oder der Wirtschaftsführung, sondern ich lese es unter dem Gesichtspunkt, daß dich etwas daran interessieren muß.
Müller
Manchmal nachts, ja. Und im Taxi ist das auch eine gute Lektüre.
Kluge
Was wäre eine künstlerische Form, in der man über so was schreiben kann? Kann man darüber Gedichte machen?
Müller
Ich glaube, am ehesten Gedichte. Das fände ich auch interessant, weil es ist glaube ich ziemlich sinnlos, darüber Stücke zu schreiben. Das glaube ich nicht, daß das ging.
Kluge
Es gab mal im Dritten Reich, ausgehend vom Reichsfinanzministerium, Stücke, also Dramen, in denen meinetwegen das Konto Eins sich in Auseinandersetzung befindet mit dem Verlustkonto. Die Bilanzen treten auf als Chor. Die Schwerindustrie gegen die Landwirtschaft. Das heißt, die nationalökonomischen Probleme werden dramatisiert. Es ist aber, glaube ich, nichts was …
Müller
Es gibt auch ein Stück von Malaparte, wo er versucht, “Das Kapital” zu dramatisieren. Hast du vielleicht gehört davon. Aber es ist ziemlich unlesbar und unspielbar. Ich glaube es geht nicht.
Kluge
Nicht spielbar.
Müller
Nein, nein. Wenn man davon ausgeht, diesem Grundsatz einiger amerikanischer Theoretiker, man bräuchte eigentlich einen Hippokratischen Eid jetzt für die Computerspezialisten. Wichtig im Universum ist nicht das organische Leben, sondern die Information. Wenn sich herausstellt, daß die Computer, daß die Maschinen, die Informationen besser transportieren können als der Mensch, der Mensch als Vehikel nicht mehr ausreicht, dann muß der Computerforscher oder \-spezialist beitragen zur Vernichtung der Menschheit, damit die Computer die Information übernehmen, den Transport der Information in Zeit und Raum. Das, finde ich, ist eine ganz moralische Überlegung. Man kann davor erschrecken aber …
Kluge
Das heißt, nicht etwa die Computer, er muß nicht schwören den Hyppokratischen Eid, er als Computeringenieur wird niemals Computer gegen Menschen einsetzen…
Müller
Im Gegenteil …
Kluge
Im Gegenteil.
Müller
… wird die Computer immer gegen die Menschen unterstützen, wenn …
Kluge
Die Verteidigung der Menschen darf nicht zu einer Verheerung der Computerwelt führen.
Müller
Ja.
Tafel
“Was ist die natürliche Form der Erkenntnis?”
Kluge
Wenn so etwas wie die Geschichte von dem Frosch beim Betrachter einen Déjà-vu-Effekt auslöst, also plötzlich kommt eine Erkenntnis, ja,
Tafel
“Eine der erstaunlichsten Fähigkeiten der Menschen liegt im Umgang mit schlecht definierten Systemen”
Kluge
wie gefährlich sozusagen graduelle Entwicklungen sind.
Tafel
“Der Frosch muß lernen, sich irritieren zu lassen” Postheroisches Management, S. 26
Kluge
Du kannst jetzt den Niedergang eines Imperiums, Zusammenbruch eines Imperiums damit vergleichen, würdest ja dasselbe merken… Lauwarm baden führt zum Zusammenbruch, ohne daß es einer so richtig merkt. Welche künstlerische Form hat eigentlich die Erkenntnis? Also was kann man da machen? Also wie eine dramatische Auseinandersetzung und Zuspitzung geht, eine Stretta und ein Finale, das weiß man ja. Was ist eigentlich die natürliche Form für Erkenntnisse? Bei der man jetzt sozusagen in … die Künste könnten sich doch mit diesen Fragen, die ja wichtig genug sind, befassen. Sie haben auch Witz. Sie sind eigentlich interessanter als Liebesgeschichten. Und es gibt mehr Regeln. Also zum Beispiel “Organisation als Mülleimer”. “Wir haben nicht zu viele Probleme, sondern wir haben Lösungen. Und eine Organisation ist eigentlich ein Mülleimer, eine Sammlung von Lösungen, die nach ihren Problemen suchen.”
Müller
“Problemen sucht,” ja.
Kluge
Das ist ja sehr witzig ausgedrückt und scheint auch zu stimmen.
Tafel
“Ein Käfig, der einen Vogel sucht - - "
Müller
Es gibt von Kafka so eine Formulierung, das ist vielleicht ein Beispiel. Literatur kann das nur metaphorisch fassen, glaube ich. Und bei Kafka heißt es, ich bin jetzt gar nicht sicher, ob die Reihenfolge stimmt: “Ein Käfig, der einen Vogel sucht.” Ja, ich glaube so war’s, richtig. Und das ist eigentlich eine Formel dafür.
Kluge
Die Umgebung, die der Erfahrung entspricht.
Müller
Ja, ja.
Kluge
Und manchmal gibt es ja …
Müller
Aber das Wesentliche ist ja, glaube ich, daß mit Literatur kannst du das, wie sagt man, metaphorisch fassen. Das heißt, daß der Leser die Erkenntnis selbst finden muß. Und daß der Weg zur Erkenntnis …
Kluge
… nicht in einer Vorführung bestehen kann.
Müller
… nicht in einer … ja, genau. Es kann nicht nur ein Resultat geliefert werden, weil das bringt gar nichts, das ist auch gar keine Erkenntnis. Wenn man einfach eine scheinbare oder … es ist genau das mit der Lösung . . . die Lösung oder eine sogenannte Wahrheit einfach als Resultat hinstellt, dann hat niemand was davon, weil man muß sie erfahren, man muß den Weg dahin auch gehen, damit man weiß, was man gefunden hat.
Kluge
Also, wenn ich jetzt immer ganz haardicht neben etwas, was ich für die Wahrheit oder für mitteilenswert halte, für eine Erfahrung halte, wenn ich direkt daneben bin, dann tue ich eigentlich das, was der Kasperl im Kasperletheater macht, er bewegt sich ja nur in Irrtümern. Es ist ja geradezu langweilig, wenn er was Richtiges macht. Und dies wäre eine Form. Also gewissermaßen
Müller
die dramatische Sabotage als Form.
Kluge
Die Sabotage der Erfahrung führt dazu, daß alle im Zuschauerraum unruhig werden und es eine interessante Form wäre, oder ganze Odysseen von Irrtümern. Es heißt hier ja so, begeht Irrtümer, begeht sie schneller, macht mehr Umsatz an Irrtum, denn woraus wollt ihr lernen? Das steht ja hier auch als Organisations\- maxime drin. Das sind eben keine Witze, sondern es wäre eine künstlerische Maxime, wäre eine neue Art von Stücken. Grundsätzlich …
Müller
Wobei so neu ist das ja gar nicht, vielleicht. Mir fällt einmal natürlich sofort wieder japanisches Theater ein, oder asiatisches Theater. Zum Beispiel eben das - wir haben sicher schon oft darüber gesprochen - das Bunraku. Das beruht auf der Trennung der Elemente. Da gibt es diese nicht ganz lebensgroßen, so drei-viertel-lebensgroßen Marionetten, mit den Puppenführern, einer, zwei oder drei.
Kluge
Die auch zu sehen sind.
Müller
Je nach der … der Hierarchie.
Kluge
Ich sehe die Puppenführer auch.
Müller
Ja, ja, die sieht man auch, die sind völlig schwarz verhüllt. Und dann an der Seite sitzt ein Erzähler oder zwei Erzähler, gleichzeitig Sänger, und die machen den Dialog. Und die Marionetten werden bewegt absolut naturalistisch.
Kluge
Die Puppenführer singen nicht?
Müller
Die sind stumm.
Kluge
Die Puppen auch nicht, aber sonst gibt’s Spezialisten für Gesang,
Müller
die sind mit der Atemmaschine beschäftigt. Und die sitzen sichtbar an der Seite, mit Instrumenten auch, und singen und sprechen den Dialog der Marionetten. Und durch diese Trennung erfährt man mehr, als wenn alles über eine Figur eines Schauspielers, Darstellers läuft.
Kluge
Sag mal, dies hier, Berliner Ensemble, liegt an einer Straße, die heißt “Am Zirkus”.
Müller
Ja, ja.
Kluge
Hier ist auch ein Platz, hier vor, das ist da, wo Brechts Denkmal steht. Ihr könntet doch eigentlich theoretisch hier auch ein Zelt errichten, und einmal im Jahr, sagen wir mal im Sommer, könntet ihr Zirkus einladen oder machen.
Müller
Die Überlegung gab es, ja.
Kluge
Könntet ihr.
Müller
Ja, ja. Ist nur sehr teuer, so ein Zelt.
Kluge
Ja, aber wenn du mal die praktische Fragen … also, ihr seid ja auch eine Unternehmung, die gewissermaßen Lösungen hat und Probleme sucht. Und dieses hier ist ein Operettentheater früher mal gewesen, kann man das sagen?
Müller
Jedenfalls ein Musiktheater, ursprünglich. Hier war ja auch die Uraufführung der “Dreigroschenoper”, das weißt du doch?
Kluge
Hier drin?
Müller
Ja. Deswegen wollte Brecht dieses Theater haben, weil das war sein erster Erfolg.
Kluge
Dieser ursprüngliche Anfang - also mich hat das Wort “Am Zirkus” neben dem Denkmal sehr an Brechts Grundgefühle erinnert, der ja den Zirkus und den Film und alle möglichen dem Theater parallele Formen immer wieder angezapft hat. Und er hat ja auch sozusagen in “Mahagonny” und “Dreigroschenoper” eigentlich das Jahrhundert der blechernen Operette begonnen, der eisernen, das heißt der kampfkräftigen Musikformen eigentlich zu entwickeln versucht. Wenn man sich jetzt vorstellt, da gäbe es 40, 80, 100 Stücke von, dann könnte man sagen, hier wäre doch so eine Möglichkeit eines Genres, das zwischen François Villon und dem Zirkus Musiktheater macht, also weit weg von unserer Klassik. Denn zu Friedrich Schiller paßt François Villon nicht, und zu Goethe oder Lessing paßt ja Zirkus nicht. Kann man das sagen? Bei Goethe weiß man’s nicht.
Müller
Nicht so, man kann es nicht so allgemein sagen.
Kluge
Mummenschanz paßt, Umzug paßt, Karneval paßt.
Müller
Der Goethe war genauso vom Puppenspiel fasziniert, also von …
Kluge
Stimmt allerdings.
Müller
… der Kindheit her, wie Brecht vom Augsburger Plärrer, also von Jahrmarkten. Schiller ist vielleicht etwas anderes.
Kluge
Eine Inflationierung der Probleme würde ja bedeuten, daß man Genres beliebig zuläßt.
Müller
Ja.
Kluge
Eine Inflationierung der Grundrisse, auf denen man Kunst machen kann, sich ausdrücken kann. Jeder darf drucken, sozusagen. Ausbruch der Gewerbefreiheit in den Künsten, Verlassen des Zunftrahmens, unter dem ja nicht zuletzt du von der Arbeit abgehalten wirst.
Müller
Ja.
Kluge
Was heißt, wenn du hier sozusagen so wie der Freiherr vom Stein, die Gewerbefreiheit zuläßt auf dem Theater, wie könnte man sich das unter anderem vorstellen? Also einmal die Wirtschaftsstücke, der Import der ganzen Organisationstheorie, der Managementschulungen hier ins Theater. Da könntest du die Kantine mit voll machen, da brauchst du nicht viel Platz.
Müller
Es gibt, da weißt du wahrscheinlich mehr darüber, ich weiß es nur als Information, als Nachricht, daß in Managerschulen oder \-kursen in der Schweiz und in Italien unter anderem auch Theater benutzt wird. Also die müssen Theater spielen, eigentlich im Sinne von Brechts Lehrstücktheorie.
Kluge
Selbsterfahrungsgruppen, Lehrstücke. Das sind im Grunde Brechtsche Lehrstücke, nicht?
Müller
Ja, ja. Das ist das Prinzip. Und das Lehrstück setzt eigentlich voraus die Aufhebung des Unterschieds zwischen Professionellem und Amateur. Und das ist auch etwas, was Brecht immer mal wieder versucht hat, das aufzubrechen. Es gibt ein vielleicht sehr anekdotisches Beispiel: Er suchte einen Schauspieler oder einen Darsteller, der besonders proletarisch wirkt vom Typ her für eine Inszenierung von der “Mutter”, ich glaube für die Szene mit der Fahne, Demonstration. Und da kam ein Techniker zu ihm, der war aus Ostpreußen, ein Schrank, also 1,85 oder 90 groß, ein Bär, ein schwerer Mann. Und der sagte: Herr Brecht, ich möchte Schauspieler werden. Und Brecht sagte: Ja, dann bereiten Sie was vor, und wir sehen uns das an. Wieviel Zeit brauchen Sie? Und er sagte: Vier Wochen. Nach vier Wochen versammelten sich alle Assistenten und Brecht. Dann kam der Techniker zu ihm und sagte: Herr Brecht, ich brauche noch mal zwei Wochen. Brecht sagte: Gut, noch mal zwei Wochen. Also nach sechs Wochen endlich war es soweit. Alle saßen erwartungsvoll unten. Der Schauspieler kam auf die Bühne, das heißt der Techniker, mit einem Stuhl. Er stellte den Stuhl hin und sagte: “Setz dir, Mama’chen\!” Und Brecht engagierte ihn auf der Stelle. Und das hätte ein Schauspieler nie so gut gekonnt. Wenn du etwas professionell machst, bist du auch blind für Möglichkeiten. Also das Problem mit den Lösungen. Du hast immer Lösungen für alles, ein Schauspieler weiß immer, wie er in einer Situation mit dem Rücken an die Wand kommt. Und dadurch bewegen sich aber die Wände nicht mehr. Also das Problem mit den Lösungen, die Probleme suchen.
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“Theater als Detektivunternehmen - - " B. Brecht
Kluge
Also wir stellen uns vor, daß hier mit uns der Brecht säße, als weiser Geist, als Banquo. Und er würde sagen, dieses Haus hier ist eigentlich ein Detektivunternehmen zur Erforschung der wirklichen Verhältnisse. Alle Schauspieler gehen ins Gelände und bringen erst mal Nachrichten von draußen, die dann in irgendeiner Form den Rohstoff bilden für künftige Bühnenstücke, aber eigentlich sind wir ein Detektivunternehmen. Wir sind Wirklichkeitsforscher, wir krempeln die ganze Soziologie um. Das hat Brecht einmal dem Adorno langatmig vorgetragen. Adorno hatte Zweifel, der wollte Klavier spielen, er war ungeduldig, er hatte diesen Streß, daß seine Strategie anders war, er wollte die neue Musik retten. Es wäre aber vielleicht ein Weg gewesen, die neue Musik zu retten über den unmusikalischen Brecht. Denn als Idee ist dies hier als Detektivunternehmen glänzend.
Müller
Ja, es gibt eine Geschichte von Brecht dazu, die erzählt Palitzsch, die fand ich immer ganz gut. Er stand mit Brecht in der Mittelloge, ich weiß nicht, welche Aufführung es war. Er sah das Publikum reinkommen, und Brecht sagte zu Palitzsch: Sehen Sie, Palitzsch, das ist die Misere des deutschen Theaters, sie kommen immer paarweise, Penis/Vulva, Penis/Vulva, Penis/Vulva. Das ist …
Kluge
Das meint Brecht.
Müller
… das mit dem Puff, was du sagst, also Theater als Bordell, aber es ist ein Bordellersatz, weil es ein gesellschaftliches Ereignis geworden ist. Und von dem Punkt an ist es kein Bordell mehr. Und der Tragelehn hat so einen Versuch gemacht in Düsseldorf, jetzt in Hamburg, für eine Aufführung von “Verkommenes Ufer”, also dieser Medea-Geschichte. Da gibt’s zwei … es ist so eine Manege, die Bühne ist tiefer als die Zuschauer sitzen. Und auf der einen Seite sitzen die Männer, auf der anderen gegenüber Frauen. Die sind getrennt, und es ergibt ein ganz anderes Theatererlebnis für beide Seiten.
Kluge
Das ist auch hoch interessant, wenn man so einmal ein erotisches Thema, oder ein relevantes Thema zwischen den Geschlechtern hätte. Und dann würde man wie in einer puritanischen Kirche getrenntes Publikum haben. Das wäre eine Polarisierung.
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Theater als Reparaturwerkstätte
Kluge
Eine Reparaturwerkstatt Berliner Ensemble. Es kommen Schrottstücke wie “Der Bettelstudent” herein oder “Die Fledermaus”, oder was hat man noch für einen Plot? “Figaros Hochzeit”. Und jetzt kommen sie neu wieder raus, oder fahrbereit wieder raus. Wäre eigentlich eine Vorstellung vom Berliner Ensemble hier am Bahnhof Friedrichstraße, die mir sehr viel geben würde. Und es würde auch wiederum das Handgreifliche, Zupackende von Brecht betonen. Daß er sagt, Neuproduktion, das ist nicht die Weisung an unsere Zeit. Wir sind keine klassische Zeit. Es geht alles zu schnell. Wir reparieren. Wäre das ihm fremd? Ich habe ihn ja nie gesehen, du kennst ihn ja. Ist er selber auch ein Zünftler? Ja, daß er sagt, aber der Schuh muß anständig gemacht sein. Oder ist er jemand, der sagt, also im Notfall muß man auch den Begriff “Schuh” umbauen? Die Filzstiefel im Rußlandkrieg waren sehr segensreich, aber wie Schuhe sahen sie nicht aus.
Müller
Ich habe mal zufällig gehört eine alte Aufnahme von “Alt-Heidelberg” mit Pallenberg und seiner Frau, Max Pallenberg. Den Namen der Frau habe ich jetzt vergessen, obwohl sie mindestens so berühmt war wie er. Und da gibt’s dieses Duett zwischen dem Erbprinzen Karl-Heinz und dem Dienstmädchen Kathi, in die der Erbprinz verliebt ist, und natürlich kann daraus nichts werden, es ist eine Mesalliance, und es gibt einen traurigen Abschied. Und da gibt’s ein Duett, wo sie singt: “Ich habe immer nur dich geliebt, Karl-Heinz.” Und er singt: “Ich habe immer nur dich geliebt, Kathi.” Und dann sagt sie noch mal: “Karl-Heinz.” “Kathi.” Das ist ungeheurer innig gemacht. Und das ist schon von der Musik her, aber auch vom Tonfall, das Modell für dieses Duett in der “Dreigroschenoper” zwischen Macheath and Polly. “Siehst du den Mond über Soho?” “Ich sehe ihn, Geliebter.” Wenn du das hörst, ist sofort klar, daß das der Ausgangspunkt und das Modell war, das basiert auf den primitivsten Sehnsüchten und Wunschvorstellungen, Träumen von Dienstmädchen. Und auf diese Dienstmädchenträume ist die “Dreigroschenoper” gebaut. Und das ist die eigentliche Durchschlagskraft und Sprengkraft dieses Stücks und dieser Oper.
Kluge
Deswegen gehört es doch in dieses Berliner Ensemble, gewissermaßen Aus-Alt-mach-Neu, diese ganzen Schrottbestände, diese Altwerkzeuge der goldenen Operette, der silbernen Operette…
Müller
Sicher. Klar. Eines der ersten Projekte von Brecht, als er hierherkam, war eine Aufarbeitung von “Wie einst im Mai”, ich glaube, das ist von Künneke. Da gab’s auch ein … Jedenfalls Paul Dessau hat dafür schon Geld gekriegt, um das neu zu instrumentieren. Und das war eines der ersten Projekte, da ist nichts daraus geworden. Aber das ist das Problem, glaube ich, immer noch, du hast Pläne, vor allem Pläne, die auf Benutzung und Zerstörung von Klischees aus sind, und dann gerätst du irgendwann in Produktionszwänge, und die Pläne verdampfen. Man kommt nicht dazu, aber man muß immer wieder versuchen, dahin zu kommen.
Kluge
Das wäre ein Beispiel für das Managementproblem, nicht?
Müller
Ja, ja. Klar.
Kluge
Daß du sagst, Lösungen hätten wir, ja. Brecht hatte sie schon. Die Schauspieler, die hier sitzen, können das. Dem Schleef, dem wär das gar nicht ungewohnt, solche Gedankengänge. Und jetzt, das Problem ist die Tatsache, daß “Alt-Heidelberg” eine der meistgespielten Operetten ist, aber in der Gestalt, in der sie ist, kann doch eigentlich kein junger Sänger stolz auf sich sein, daß er das nun noch mal singt. Also für den ganzen breiten Zustrom an Ostblockmusikern, die jetzt im Westen ihr Geld verdienen müssen, wären doch wirklich die besten Stücke der 20er Jahre und die besten Ideen gerade gut genug.
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REPERTOIREZWANG
Müller
Die Misere ist natürlich der Repertoirezwang. Es ist ein Irrsinn, es gibt so eine Senatsauflage, daß die Theater in Berlin müssen 300 Vorstellungen im Jahr abrechnen, und zwar eigentlich 300 ausverkaufte Vorstellungen. Kein Theater der Welt kann das. Das ist völliger Irrsinn, aus der finanziellen Misere. Und das muß man unterlaufen. Und das könnte man natürlich unterlaufen auch mit Verwendung des Schrotts und den Schrott produktiv machen für das andere, für Experimente, die zunächst keinen Zulauf haben.
Kluge
Wenn du Wagner inszenierst, hältst du es für möglich, wenn du nicht ein Orchester dahin setzt, sondern das über Tonband machst, daß man Teilstücke davon auch hier einbringt?
Müller
Sicher möglich, wir haben das ja gemacht in der “Ui”-Aufführung, wir haben das allerdings ganz zynisch eingesetzt im Finale, weil mir für den Schluß nichts einfiel. Das Stück ist geschrieben mit einem offenen Schluß, also offen, weil die Ereignisse noch im Gang waren, auf die er sich bezog, und es gab keinen anderen Schluß als diesen fast moralischen Appell. Den kannst du heute nicht mehr machen, das ist Unsinn, nachdem das historisch überschaubar ist, was danach kam. Und dadurch fiel mir ein, einfach ein Opernfinale zu machen, also alle sind auf der Bühne, und jeder sagt noch etwas aus dem Stück. Und es ist ein Opernfinale, und dazu gibt’s dann auch ein Stück “Tannhäuser”. Ich glaube, es war eine Wochenschau-Musik. Natürlich ist da Wagner in einer ideologischen Funktion eingesetzt. Es geht aber auch anders. Man kann durchaus … ich glaube, zum Beispiel …
Kluge
Die Schönheit von Wagner, da er ja ein Gebrauchskomponist auch ist. Die würde immer dann hervortreten, wenn du aus diesen Riesenwerken Teile vorführst.
Müller
Ich glaube zum Beispiel nicht, auch aus Erfahrung, wir haben das oft probiert, Bühnenmusiken machen zu lassen für eine Aufführung, also neue Musik. Es klappt fast nie. Ich bin eigentlich jetzt dahingekommen, man muß Musiken verwenden, die es gibt, Teile davon, das ist viel praktikabler und auch viel funktioneller, als neue Musik zu machen. Musik braucht offenbar länger, um Zeit in Griff zu kriegen. Und deswegen ist alte Musik, also vorhandene Musik, verwendet in Zusammenhang mit neuen Texten, immer interessanter und passender, als neue Musik zu machen, weil das braucht dann wieder 10 Jahre, 20 Jahre, bis das eine alte Musik wird, und bis man den Zusammenhang sieht.
Kluge
Hier gibt es ein Fragment von dir, “Quadriga. Germania, ein Riesenweib”. Das ist eigentlich ein ganz kurzer Text, und der steht seltsamerweise hinter einem …
Tafel
Vater & Sohn / Hitler / GERMANIA / 40 Radfahrer Requisiten, Materialien
Müller
… “Schlacht”.
Kluge
“Schlacht”, ja, ein sehr entscheidender, großer Text. Und ich habe dann immer gedacht, daß es damit auch einen Zusammenhang hat.
Müller
Das war gedacht als Zwischenspiel zur “Schlacht”. Ist aber nie gemacht worden, weil es ist ja auch geschrieben eigentlich als Unmöglichkeit. Es ist unmöglich, das zu inszenieren, so wie es geschrieben ist.
Kluge
Ich habe eben gerade an Richard Wagner gedacht.
Müller
Im Zirkus ist es möglich.
Kluge
Im Zirkus ist es möglich. Und wenn du an “Rheingold” denkst, bei Richard Wagner, wo du die Rheintöchter hast, hast du einige Elemente der Bühnentechnik, die du hier auch brauchen würdest, um Hitler schweben zu lassen, um den Flügel in Bewegung zu bringen, Vater und Sohn in Bewegung zu bringen, und 40 in gelbe Trikots gekleidete Radfahrer ist nichts, was Wagner als aufwendig empfindet.
Tafel
Ausschnitt aus: “Reichskanzlerpop”, Text von Heiner Müller Vierzig Radfahrer in gelben Trikots
Kluge
kommen klingelnd
Tafel
und hupend auf die Bühne / die auf Germania den Flügel, zerhackt Hitler verwandelt sich in einen Engel, der furzend über dem Publikum kreist / Hannelore Hoger als GERMANIA
Müller
Für mich war’s die Friedensfahrt, so ein DDR-Ritual. Aber man kann’s auch auf Sechstagerennen beziehen. Nein, ich hatte damals immer die Vorstellung, daß man die Volksbühne … in jedem Theater hast du irgendwann das Gefühl, es hat keinen Sinn mehr. Man muß was anderes machen. Und daraus kam die Idee, mal die Volksbühne, die ja oben so ein schönes Flachdach hat, daß da oben … der Held war damals - der Friedensfahrt, überhaupt der Radfahrer - als Held war Gustav Schur. Vielleicht erinnerst du dich. Es war der größte Radfahrer der DDR. Und ich hatte die Idee …
Kluge
Du hast oben, sozusagen auf dem Kopf des Theaters, eine Art Rennbahn…
Müller
Oben auf dem Kopf des Theaters sollte Gustav Schur im Kreis fahren.
Kluge
Mit den nötigen Beleuchtungseffekten, das sind ja große Lichtfluten, die auf den Fahrradfahrer dann …
Müller
Ja, ja. Eigentlich ist es ein Stück, was nicht in einem Theater machbar ist, das kann man nur unter Benutzung des Theaters machen. Es gab ein Beispiel, das fand ich ganz gut. Ich hatte mal aus irgendeinem Grund so einen kurzen Dialog geschrieben, “Herzstück”. Vielleicht erinnerst du dich daran. Und das haben die mal gemacht in Bochum, das waren Langhoff und Karge, und zwar zu Silvester. Das fing genau um Mitternacht an, vor dem Schauspielhaus in Bochum war ein Podest, vor dem Schauspielhaus auf dem Platz, da ist ein ziemlich weiträumiger Platz. Auf dem Podest stand ein Flügel, und an dem Flügel saß ein Schauspieler, der konnte auch wirklich Klavier spielen. Und dann kam ein Bus der Städtischen Verkehrsbetriebe, aus dem stieg der zweite Schauspieler mit einer Geige. Der konnte Geige spielen. Und der kam auf das Podium, und dann spielten die sich mit dem Dialog gegenseitig an, und am Ende wurde der Geiger von dem Pianisten auf dem Flügel geschlachtet, und er holte ihm aus der Brust einen blutigen Ziegelstein. Ein Zuschauer wurde ohnmächtig. Das war der größte Erfolg dieser Veranstaltung, aber es war auch etwas, was nicht im Theater gegangen wäre, das ging nur in dem Raum um das Theater. Das ist dann noch mal gemacht worden vor der Gedächtniskirche zum Theatertreffen. Und das ist so ein Traum, daß man Theater auch als Hintergrund benutzen muß, gelegentlich. Einfach das Gebäude, und das gibt es, aber man geht raus aus dem Gebäude, und das Gebäude ist nur ein Hintergrund, ein Anlaß, etwas draußen zu machen. Interessant ist, daß man immer bei solchen Sachen kommt auf eine Demontage von Menschen, von Menschenkörpern auch. Hier wird einem der Kopf abgenommen oder abgeschlagen und wieder aufgesetzt. Das ist interessant, daß offenbar das Fehlen von Sprache zu dieser Art von Körpersprache führt, oder Antikörpersprache. Ich glaube, es wäre nicht vorstellbar, dieser Text, ohne diese Kastrationsersatzhandlung. Aber es beruht alles auf der Sprachlosigkeit. Und in der Sprachlosigkeit
Intertitle
oder durch die Sprachlosigkeit,
Müller
durch das Verweigern von Sprache, von Text, wird ein Zerstörungspotential freigesetzt, das von der Sprache sonst so zivilisatorisch überdeckt
Intertitle
und übertüncht wird.
Kluge
Überdeckt wird. Zum Schein überdeckt wird, während alle warten, daß was passiert.
Müller
Daß was passiert, genau. Ja, ja.
Kluge
Also eigentlich würdest du dann sagen, die ganzen sprechfähigen Menschen, die dem bürgerlichen Theater zuschauen, warten auf den Theaterbrand.
Müller
Ja, ja.
Kluge
Der eiserne Vorhang als der wichtigste Schauspieler, wenn er rasselt, ist das Ereignis da.
Müller
Ja, ja. Eine der schönsten Theaterutopien ist von, ich glaube, Rossanow heißt der Mann, ein Russe, so Anfang des Jahrhunderts, der hat Nietzsche übersetzt, das sind so halbessayistische Texte. Und da gibt es eine Beschreibung eines Theaterabends von ihm - sinngemäß jetzt: Die Zuschauer applaudieren, die Schauspieler verbeugen sich. Die Zuschauer gehen raus, verlassen den Zuschauerraum, gehen an die Garderobe, die Garderoben sind leer, die Mäntel sind weg. Sie gehen raus aus dem Theater, und die Stadt ist weg, in die sie zurückwollen, also es gibt keine Häuser mehr. Also das ist eine schöne Theaterutopie. Also das Theater existiert unabhängig von dem, was draußen passiert.
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Entfesseltes Theater / Montage der Attraktionen
Kluge
Was nennt man eigentlich “entfesseltes Theater” in der Sowjetunion, in der frühen Zeit?
Müller
Ich glaube, das hatte sehr viel mit Zirkus zu tun. Es gibt diesen Terminus von Meyerhold, glaube ich, war das: Montage der Attraktionen. Montage der Attraktionen? Ja. Also eine Aufführung als Montage von Attraktionen. Und das kommt natürlich vom Zirkus. Und das wesentliche Element ist die Gefahr. Im Zirkus wartet man ja darauf, daß einer vom Trapez fällt. Und das ist das, was die Spannung hält.
Kluge
Die dramatische Spannung.
Müller
Ja, ja.
Tafel
Was ist dramatisch?
Kluge
Was ist eigentlich nach deiner Definition dramatisch?
Müller
Man kann natürlich sagen, das Grundelement von Theater und also auch von Drama ist Verwandlung, und die letzte Verwandlung ist der Tod. Also das einzige, worauf man ein Publikum einigen kann, worin ein Publikum einig sein kann, ist die Todesangst, die haben alle. Das ist der einigende Faktor. Und das kann man bei allen ansprechen. Sonst gibt’s ganz verschiedene Interessen, ganz verschiedene Bedürfnisse, Wünsche, Ideen, und so. Aber das ist das einzige Gemeinsame. Und auf diesem einzigen Gemeinsamen beruht die Wirkung von Theater. Insofern hat Theater immer zu tun mit einem symbolischen Tod. Und dann ist die Grenzfrage immer, ich habe das auch mal aufgeschrieben, das ist aber das Problem von Theater. “Mauser” zum Beispiel, wo ein Mann hingerichtet wird. Das ist mal gespielt worden, ich glaube, in Argentinien in einem Zuchthaus von zum Tode verurteilten Mördern. Da sind nur Mörder in diesem Gefängnis. Und die haben “Mauser” gespielt. Ich habe davon leider nur gehört, ich hab das versäumt, dahin zu fahren, ich hab’s zu spät erfahren. Und das muß eine ungeheure Veranstaltung gewesen sein. Weil da natürlich ein ganz anderes Verhältnis zum Tod ist bei Leuten, die zum Tode verurteilt sind und nur darauf warten, wann es soweit ist. Aber wenn man sich vorstellt, daß die Grenze zwischen Theater und Realität überschritten wird dadurch, daß ein Mann, der zum Tode verurteilt ist, in einem Theaterstück getötet wird. Das ist das, was … das ist die …
Kluge
Ein dramatischer Wert und ein Ausstellungswert hinzu, der ganz eigenartig ist. Das ist jetzt also mehr als Zirkus, das ist im Grunde wie die Unbekannte aus der Seine. Das ist ein Werk jetzt, erschütternd, weil authentisch. Das ist noch was ganz anderes. Das ist wie im Leichenschauhaus. Das ist Wissen.
Müller
Und ich fürchte, daß das … In der Zeit von Shakespeare waren die große Konkurrenz für Theater diese Bärenkämpfe, die Bärenhatz und die Irrenanstalten, die öffentlich waren. Deswegen gibt’s so viele Wahnsinnsszenen in den Stücken der Zeit. Weil die mußten sich behaupten gegen diese Attraktionen im Theater. Und die Verlängerung von Theater ist natürlich das, also die Gladiatorenspiele.
Kluge
Wenn du mal Alban Bergs Stück nimmst, die Bearbeitung, der hat ja 1914 angefangen, den “Wozzeck” zu komponieren. Das ist eine Musik, die hat direkt mit dem Krieg zu tun, und zwar mit diesen sehr grauenhaften Versionen um Grodno, wo auch die Trakl-Texte handeln, wie eine ganze, glänzende, nichtindustrialisierte österreichische Armee in wenigen Wochen dezimiert wird. Und dieses Schlachtopfer gewissermaßen, das ist in der Musik jetzt der Kern dieser Wirtshausszene usw. Was ist das, was an “Wozzeck” so unmittelbar berührt, das ist doch eigentlich ein Kriminalfall?
Tafel
“TOTENKITSCH in Verdun - - " / “Woyzeck ist die offene Wunde”
Müller
Was du jetzt sagst mit Alban Berg, erinnert mich da: Ich war jetzt in Verdun, um diese Schlachtfelder zu besichtigen, und da waren ein paar Sachen für mich wirklich verblüffend. Erst mal der Kitsch der Monumente. Eigentlich das, was man jetzt so als Karikatur unter sozialistischem Realismus versteht.
Kluge
Der kommt da her?
Müller
Der kommt, glaube ich, aus dem schlechten Gewissen der Überlebenden. Daraus entsteht der Kitsch. Der Kitsch für die Toten aus dem schlechten Gewissen der Überlebenden und auch aus der Hilflosigkeit gegenüber so massenhaften Toten.
Kluge
Legitimationskitsch?
Tafel
Episches Theater & postheroisches MANAGEMENT / Gespräch mit Heiner Müller
Müller
Ja, Legitimationskitsch, genau. Und das andere, wir waren in dem Fort Douaumont, in jedem größeren Raum sind so 60 bis 120 Tote hinter den Wänden, unter dem Boden und so, denen einfach die Lungen geplatzt sind, wenn zufällig mal eine Mine getroffen hat.