Dichter als Metaphernschleuder
Transkript: Dichter als Metaphernschleuder
- Tafel
- Der Dichter als “Metaphern-Schleuder” / Heiner Müller über den Untergang des Imperiums - Was ist dramatischer Stoff? Ist der Zerfall des Sowjetreiches ein dramatischer Stoff?
- Müller
- Zunächst sehe ich da epische Stoffe, es ist ja nicht so, daß da was zerbricht oder zersprengt wird, da zerbröselt etwas zunächst.
- Kluge
- Ja.
- Müller
- Und es ist auch noch gar nicht zu übersehen, was …
- Kluge
- Es war vorher eine Ruine und ist jetzt eine Ruine, und jetzt sieht man sie ein bißchen besser?
- Müller
- Man sieht sie deutlicher, aber es ist überhaupt nicht abzusehen, wo es hinführt.
- Kluge
- Du hast vorhin mal den Satz von Brecht gesagt: “Das Erdöl sträubt sich gegen die fünf Akte”. Wie meint er das?
- Müller
- Das ist ein Problem.
- Kluge
- Also er fühlt sich herausgefordert durch das Erdöl.
- Müller
- Du kannst dramatisch nur etwas anfangen mit einem Vorgang, der an Subjekten, an Individuen ablesbar ist, an Biographien, und die sind immer schwerer zu entdecken, weil es sind so massenhafte Vorgänge.
- Kluge
- Ja. Sieben Millionen Rentner, drei Millionen Soldaten…
- Müller
- Es hat sicher auch etwas zu tun mit der Veränderung der Wahrnehmung, der Optik… Das Fernsehen entindividualisiert ja alles, das Fernsehen bügelt Biographien weg, vernichtet Biographie eigentlich, vernichtet das Subjektive und macht aus allem serielle Vorgänge …
- Tafel
- “Das Erdöl sträubt sich gegen die Einteilung in fünf Akte \-” Bert Brecht.
- Müller
- …und da begegnen sich so zwei Energien, die an der gleichen Auslöschung arbeiten. Ich beobachte es auch bei mir durchaus selbstkritisch, daß mein Interesse an Biographien, an Einzelschicksalen ziemlich rudimentär ist oder schwindet, daß mich nur noch Strukturen interessieren oder Verknüpfungen von Ereignissen. Ich fand immer, ein Beispiel für das, was jetzt passiert, was aber noch nicht lesbar ist, den Trojanischen Krieg, du erinnerst dich? Die Griechen zerstören Troja, Äneas kommt davon über Afrika nach Italien, gründet Rom, und Rom löst Griechenland ab, also dieser Umweg der Geschichte. Und das ist etwas sehr Ähnliches, was da passiert ist mit der Sowjetunion, glaube ich. Wenn du ausgehst mal von dieser Toynbee-These, die gar nicht so dumm ist, daß die einzige Möglichkeit, Rußland zu industrialisieren, in den kapitalistischen Prozeß hineinzutreiben, war eine westliche Ideologie, und das war die Funktion der leninistischen Variante des Marxismus, Rußland in den Kapitalismus zu treiben, und dann hat es da irgendwelche Verzögerungen und Verwerfungen und Verschiebungen gegeben …
- Kluge
- Du arbeitest ja eigentlich nie mit dokumentarischem Material, das du aufsammelst?
- Müller
- Nein, kann ich nicht.
- Kluge
- Nein.
- Müller
- Irgendwie fließt das schon ein, aber ich kann es nie direkt verwenden, weil im Grunde geht es immer um die Herstellung von Metaphern, und da ist das nur Material, was in der Metaphern-Schleuder so eher als Staubkorn …
- Kluge
- Also Metaphern-Schleuder ist dein Hirn?
- Müller
- So was, ja.
- Tafel
- Verkommenes Ufer / Medea-Material / Landschaft mit Argonauten
- Kluge
- Und jetzt machst du etwas ganz anderes, das heißt Verkommenes Ufer. Was ist das?
- Müller
- Ja, es hat einen Bandwurmtitel: Verkommenes Ufer / Medeamaterial / Landschaft mit Argonauten. Das sind drei Szenen, und es ist eigentlich eine Variante der Medea-Geschichte.
- Kluge
- Wie variierst du das? Also Jason kommt ins Schwarze Meer und landet in Kolchis auf der Suche nach dem Goldenen Vlies.
- Müller
- Es war eigentlich für mich immer die erste Formulierung, das erste Epos einer Kolonisierung.
- Kluge
- Aggressiver Handel.
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Seefahrt. Er klaut ja, er unterwirft nicht Kolchis, aber er nimmt das Wertvollste weg.
- Müller
- Ja. Und die Medea ist eigentlich eine Kollaborateurin, sie verhilft ihm ja zu dem Raub, und sie tötet ihren Bruder usw. Es ist doch eine sehr politische Geschichte, glaube ich, aber der Stoff ist sehr frei behandelt. Man sollte darüber nicht reden.
- Kluge
- Aber noch mal zurück auf den Zerfall von Rußland. Der Gorbatschow hat ja gesagt, hier wird ein Staat gestohlen. Der Marx sagt ja: Staat ist Diebstahl, d. h. er stellt sich den Staat so vor, daß die Gutsbesitzer ins Parlament sich setzen, …
- Tafel
- “Staat ist Diebstahl” / “Ein Gemeinwesen wird gestohlen - \-”
- Kluge
- … ein Gesetz machen, daß die Förster ihnen zuarbeiten, und daraufhin dürfen die Menschen nicht mehr aus dem Wald Holz holen, und auf diese Weise werden langsam Klassenverhältnisse geschaffen. So stellt er sich das etwa idealtypisch vor, darüber hat er ja dann Dissertationen geschrieben. Jetzt entsteht aber der umgekehrte Akt, daß der Staat nicht abstirbt, sondern gewissermaßen veruntreut wird, der veruntreute Staat.
- Müller
- Ich glaube, daß der Gorbatschow da doch etwas in Kategorien denkt, und auch befangen ist, die die Sache nicht präzis beschreiben.
- Kluge
- Weil ja auch der Staat kein Haus ist und Europa kein Haus ist mit mehreren Wohnungen usw.
- Müller
- Und was passiert ist mit der Sowjetunion, das war ja von Anfang an eine gewaltsame Konstruktion, und diese ganze Regionalisierung, die jetzt da stattfindet, der Zerfall in Regionen, in regionale Interessen ist ja nur die Folge der Unterdrückung von regionalen Bedürfnissen, gerade in der Stalinzeit, aber Lenin hat das auch schon gemacht. Es gibt so einen bulgarischen Witz, den ich ganz gut finde, weil der was mit dem Staatsbegriff zu tun hat. Aus dem Tagebuch eines bulgarischen Partisanen: “Montag: Wir vertreiben die Faschisten aus dem Wald. Dienstag: Die Faschisten vertreiben uns aus dem Wald. Mittwoch: Wir vertreiben die Faschisten wieder aus dem Wald. Donnerstag: Die Faschisten vertreiben uns wieder aus dem Wald. Freitag: Der Förster vertreibt uns und die Faschisten aus dem Wald.” Das ist da passiert, und das Ergebnis war der Förster: die Sowjetunion, und jetzt läuft der Prozeß rückwärts, das ist völlig unvermeidlich.
- Kluge
- Trotzdem habe ich so ein bißchen den Eindruck, daß hier sehr viel Mitnahmeeffekte entstehen, also d. h. sehr viele machen das regionale Bedürfnis nach Autonomie zum Vehikel, um hier sozusagen selber einen Staat zu gründen, sozusagen eine kleinere Räuberbande, die handlicher zu handhaben ist, in der man noch richtige süffige Gesetze machen kann, um sich etwas anzueignen, um bei der Umverteilung etwas zu veruntreuen.
- Tafel
- “Der Griff nach den Toten \-”
- Müller
- Ja. Zum Beispiel dieser bulgarisch-türkische Konflikt, das war ganz klassisch, glaube ich. Da ging es um die Namen, also die türkische Minderheit sollte bulgarische Namen annehmen, ihre türkischen Namen ablegen.
- Kluge
- Ja.
- Müller
- Das ist dann ein Griff nach den Toten, und die Toten sind der empfindliche Punkt. Ich glaube, das ist überall da passiert in diesen Regionen in der Sowjetunion, daß der Staat nach den Toten gegriffen hat. Das fängt in der Antigone an, dieser Konflikt…
- Kluge
- Ja.
- Müller
- … und das geht dann bis Bitburg eigentlich. … jetzt von dem überlegenen Standpunkt des Aischylos gegenüber Sophokles war die Aufregung darüber völlig unqualifiziert. In Georgien gab es schon vor zwanzig, dreißig Jahren nicht nur eine Mafia, sondern wirkliche Banden, denen ganze Industriekomplexe gehörten oder die das ganze Transportwesen in einer Region kontrollierten, das gab es schon…
- Kluge
- Die jetzt auch ohne Steuermittel eine ganze Nationalgarde ein Jahr lang in Gang halten können, also irgendwer bezahlt das ja. Das ist übrigens Kolchis, nicht wahr. Das ist die Gegend der Nachfahren von Medeas Eltern.
- Müller
- Ja.
- Tafel
- Unterschied der Eroberungen des Dritten Reiches und des jetzigen Landraubs im Osten / DRAMATIK von “Explosion” und “Implosion” -
- Kluge
- Es findet hier ja nicht ein Raub statt, so wie das Dritte Reich sich meinetwegen Gouvernements da im Osten aneignet. Das ist ja offenbar nicht der Fall.
- Müller
- Es ist ganz schwer, was du beschreibst jetzt, es hat ja auch damit zu tun, daß z. B. der Begriff Volkseigentum statt Privateigentum, das ist ja leider eine Abstraktion geblieben.
- Kluge
- Ja.
- Müller
- Ich erinnere mich, ich habe mal in einem sehr frühen Stück, das war in den fünfziger Jahren, so eine Episode nicht beschrieben, sondern erfunden eigentlich, wo deutsche Soldaten einen Kolchosbauern über ein Maisfeld jagen, ich weiß nicht, ob du dich erinnerst?
- Kluge
- Nein, hilf mir mal.
- Müller
- Und sie kriegen ihn natürlich relativ schnell, weil der immer um den Mais herumläuft und die laufen drüber, deswegen haben sie einen Geschwindigkeitsvorteil und kriegen ihn schnell und sie sind betrunken, und der Leutnant hat gute Laune und sagt, wir erlauben dir, daß du dein Grab auf deinem eigenen Feld schippst, also wo ist dein Feld? Das Ganze ist riesig, ein Maisfeld groß wie Sachsen, und der Bauer sagt stur: hier alles mein Feld. Und die sagen, nein, wo ist dein persönliches Feld und da darfst du dein Grab graben. Es ist nichts zu machen, der sagt immer nur, hier alles mein Feld. Es war vielleicht keine Abstraktion irgendwann, aber jetzt ist es eine geworden, und es ist spurlos verschwunden. Das ist das Merkwürdige, daß das Alte einfach ganz selbstverständlich wieder da ist, das alte Verhältnis auch zum Eigentum, und das gab es eigentlich nur im Lied, was aber von vielen gesungen wurde eine Zeitlang, und die haben es dann auch geglaubt. Das ist für mich ein Phänomen, was ganz schwer zu beschreiben ist.
- Kluge
- Ja.
- Müller
- Was ich gerne beschreiben möchte, dies spurlose Verschwinden einer solchen Utopie.
- Kluge
- “Mich interessiert zunehmend, was verschwindet \-”
- Müller
- Das Interessante daran ist vielleicht, mich interessiert zunehmend das, was verschwindet, und das, was verschwunden ist, und da bin ich schon sehr mißtrauisch gegen mich, auch weil es ist durchaus auch ein religiöser Impuls, ein religiöses Bedürfnis, aber ich glaube schon, daß man da sehr vorsichtig sein muß mit der Verwerfung oder mit dem Negieren von religiösen Bedürfnissen, weil ich glaube, es wird keine Politik ohne Theologie auskommen in Zukunft.
- Kluge
- Du meinst mit Theologie aber auch, daß man die Toten ernst nimmt?
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Sie haben die Mehrheit.
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Sie sollten die Mehrheit haben.
- Müller
- Ja. Ich habe es immer noch nicht herausgefunden, ich kann es dir immer noch nicht belegen, aber…
- Kluge
- Nein, du behauptest ja inzwischen, daß die Lebenden ein Mehr sind und den Toten das Grab wegnehmen sozusagen.
- Müller
- Ja, so ähnlich.
- Kluge
- Aber es ist ja wahr, daß wenn du die Schwarzmeerflotte nimmst, dann kannst du ja sagen, die Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin sind gestorben. Sie sind aber schon die dritte Generation nach Begründung der Schwarzmeerflotte, oder nachdem sie zum ersten Mal in der Hafeneinfahrt von Sewastopol versenkt wird, um die Alliierten 1855 abzuhalten, nach Sewastopol einzudringen, ist sie versenkt worden. Und jetzt kommt Panzerkreuzer Potemkin, ein Aufstand und ein Film, der ein zähes Leben hat und dann die deutsche Zensur beschäftigt, also ein wichtiger Film, und der beschreibt …
- Tafel
- “Wieviel und welche Metaphern sind im Stande, die Bewegungen unserer Zeit auf menschliche Maße zu verlangsamen? \-”
- Kluge
- …ein Stück Schwarzmeerflotte, und dann kommt eine Generation, die damit nichts zu tun hat, das sind Enkel von denen, die auf Potemkin gedient haben können, und die kämpfen nun wirklich unter recht aussichtslosen Umständen in diesem etwas engen Bassin des Schwarzen Meeres gegen deutsche U-Boote, italienische Schiffe und all so was, sind aber irgendwie falsch ausgerüstet, und jetzt sind sie plötzlich richtig ausgerüstet und können sogar Manöver mit den Amerikanern im Mittelmeer exerzieren und sich die Achtung fremder Admirale verdienen. Was sie jetzt im Moment machen, sie laufen wie eine Braut da umher, die gekauft werden soll, und eigentlich geht es sozusagen darum, kann man da mal sechs Kreuzer, zwanzig U-Boote, wenn sie doch mit erstklassigen Besatzungen versehen sind und wirklich auf der Höhe der Zeit sind, vielleicht sogar zukünftig sind nach langer Entwicklung, und das ist jetzt sozusagen biographisch mit nichts mehr, mit den Gründern nicht mehr verbunden. Ist es das, was du mit einer Struktur bezeichnest?
- Müller
- Ich denke schon. Ja, das will ich beschreiben..
- Kluge
- Und das ist auch gleichzeitig Volkseigentum.
- Müller
- Hm, hm.
- Kluge
- Ein bißchen Arbeitskraft der Ukraine steckt da drin, ein bißchen von Rußland, und jetzt müssen diese Brüder das aufteilen.
- Müller
- Andererseits ist in dem Vorgang ja auch, das ist jetzt eigentlich ein dummer Witz und keine Metapher: Wenn zwei Hunde kämpfen und der eine legt sich auf den Rücken, dann kann der andere nicht mehr beißen, und so einen Aspekt hat das ja auch, der ganze Vorgang.
- Kluge
- Aber zwischen Republiken gilt das Gesetz nicht.
- Müller
- Nein, überhaupt nicht. Ich meine jetzt im Globalen, der Osten hat sich auf den Rücken gelegt, und jetzt kann der Westen nicht mehr beißen.
- Kluge
- Aber woraus entnimmst du, daß das irgendwie eine Verhaltensweise von Ländern ist, also von dem Westen, den es doch gar nicht gibt?
- Müller
- Ich glaube schon, daß es eine Verhaltensweise ist.
- Kluge
- Das könnten doch Teile, also z. B. das Bankgewerbe könnte beißen, das Militär beißt nicht, der Schwarze Markt beißt, die sizilianische Mafia…
- Müller
- Ja. Auf jeden Fall ist das ja so diffus, dieser Vorgang …
- Tafel
- “Episch ist die EXPLOSION, dramatisch ist die IMPLOSION”
- Müller
- …also dieser Untergang im Osten ist so diffus und auch so wenig zu überblicken als ein einheitlicher Vorgang, daß das, glaube ich doch, der Prolog zu einer Katastrophe auch dieser monetären Wirtschaft ist. Ich glaube, das ist nicht in den Griff zu kriegen.
- Kluge
- Ja.
- Müller
- Hoffe ich jedenfalls als böser Mensch.
- Kluge
- Das heißt, die Rückwirkung jetzt auf Bankhäuser, die die russischen Kredite nicht zurückkriegen, ist es das, was du damit meinst?
- Müller
- Das ist ein Aspekt davon, ja.
- Tafel
- Nicht der Moment ist dramatisch, sondern die Verknüpfung der Momente -
- Müller
- Der Moment ist nicht dramatisch, dramatisch sind die Strukturen oder das Verhältnis von Momenten zueinander.
- Kluge
- …Momente, die einander ablösen, die aufeinandertreffen, die gleichzeitig da sind, also wenn der Putsch da ist und der allmächtige Kommunikator von 1986, der eigentlich alles … wenn der Präsident redete oder der Generalsekretär, dann wurde doch zugehört, es standen alle Mittel zur Verfügung. Und der sitzt jetzt vor seinem Heim-Videogerät und sieht eigentlich wie von Terroristen fotografiert aus, und sein Schwiegersohn ist die einzige Quelle, und ein Ruderboot soll den Kassiber nach Griechenland bringen und von dort an die Weltöffentlichkeit, und dann läuft’s ja wieder.
- Tafel
- Skizze einer Tragödie in antikem Ausmaß: “Der Gastarbeiter \-”
- Müller
- Mich hat interessiert eine Geschichte, die ich am Kriegsende gehört habe, vielleicht haben wir darüber schon einmal gesprochen, der Titel wäre “Der Gastarbeiter”. So drei Frauen, Großmutter, Mutter, Tochter, alle drei Witwen, Offiziersfamilie, Adlige in Mecklenburg, sitzen da in ihrem Schloß mit zwanzig Zimmern und warten auf die Russen, also auf das Ende. Da kommt flüchtende SS vorbei und Soldaten in Zivil, in Unterhosen und so. Da kommt ein kroatischer SS-Leutnant und fragt nach einem Zivilanzug. Sie sagen, kann er haben, er kann sich was aussuchen, nur er muß sie töten, weil sie haben nichts, womit sie sich umbringen können, und sie wollen sterben. Der hat aber seine Waffen auch schon weggeworfen und sucht nun irgendwo und findet in einem Schuppen eine Axt, dann zieht er den Anzug an, den er sich rausgesucht hat, und geht in Richtung Westen weiter. Eine Geschichte von Machawejev, die er immer drehen wollte und nie drehen durfte in Jugoslawien: Ein Kroate, ein Gastarbeiter, kommt aus der Bundesrepublik nach einem Jahr oder eineinhalb Jahren Arbeit, ein Bauer, um seine Familie zu besuchen. Er kommt im Opel Kadett oder Kapitän und Konfektionsanzug aus der Bundesrepublik. Er kommt nachts an, hält unten an dem Hügel, wo das Haus steht, wo die Frau ist mit den zwei Kindern. Er zieht seinen Anzug aus, holt aus dem Kofferraum seine Bauernkleidung, zieht die an, verstaut seinen Anzug im Kofferraum, geht hoch ins Haus, schläft mit seiner Frau, küßt die Kinder, und am Morgen steht er auf, frühstückt mit der Familie, dann bringt er die Frau um, dann die Kinder und geht runter, zieht seine Bauernkleidung wieder aus, zieht seinen westdeutschen Anzug wieder an, fährt zurück in die Bundesrepublik. Diese zwei Geschichten erzählen was übereinander, so was meine ich eigentlich.
- Tafel
- “Notwendige Selbsthysterisierung?”
- Kluge
- Woher holst du eigentlich den motorischen Impuls, der zum Dramatischen gehört? Wie verschaffst du dir den?
- Müller
- Ich glaube, die Voraussetzung ist, daß man, psychoanalytisch beschrieben, eine ausgeglichene Persönlichkeit wird kein Bedürfnis haben, Stücke zu schreiben, nur eine nicht gut ausbalancierte …
- Kluge
- Nein. Du brauchst das Pfund Hysterie, Beschleunigung…
- Müller
- Ich brauche die Spannung.
- Kluge
- Und wie machst du dich so nervös? Wie hältst du dich so nervös? Man hält das ja nicht ewig durch, man dämpft es ja dann ab 17 Uhr mit ein bißchen Alkohol.
- Müller
- Ja, so viel Alkohol gibt es gar nicht, so viel kann ich gar nicht trinken, um das dämpfen zu können.
- Kluge
- Es ist aber eine notwendige Selbsthysterisierung, richtig?
- Müller
- Sicher, ja. Wobei ich nicht weiß, was jetzt passieren wird, wenn ich wieder schreibe. Es ist wirklich eine ganz neue Situation, es ist schon ein Einschnitt.
- Kluge
- Ja.
- Müller
- Ich weiß gar nicht, ob mich so sehr interessiert, was kommt, noch, vielleicht interessiert mich mehr das, was war und was nicht war.
- Tafel
- “Der Zerfall der Sowjetunion, ein dramatischer Stoff?” Was ist dramatischer Stoff? “Auf den SCHLACHTFELDERN der Arbeit \-”