Ohne Rücksicht auf Verluste

Transkript: Ohne Rücksicht auf Verluste

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Text

Mit dem Kurzen Sommer der Anarchie, seinen 37 Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, mit Hammerstein oder der Eigensinn, dem Requiem für eine romantische Frau, hat Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) die Lebensgeschichten von Menschen festgehalten / Wie schreibt man Lebensläufe?

Text

Ohne Rücksicht auf Verluste! /

H. M. Enzensberger
Wie erzählt man Lebensläufe?
Kluge

Ein Lebenslauf ist ja etwas ganz Eigenartiges, also eigentlich gemessen an dem, was objektiv geschieht, oft zu kurz oder zu lang, es gibt Lebensläufe, denen die Geschichte unter dem Boden weggezogen wird, unter den Füßen.

Enzensberger

Ja, aber auf der anderen Seite ist ja jeder Lebenslauf viel reichhaltiger als irgendetwas, irgendein Gefäß, das das fassen könnte. Ja, also das führt natürlich dann dazu, dass…, die Erzählung muss diskontinuierlich sein. Sie als Filmer arbeiten ja immer mit der Montage und das heißt, ich kann mir auch gar nicht vorstellen, dass das so eine ununterbrochene, fortlaufende kontinuierliche Erzählung ist, sondern es liegt ja auch schon an der Verschiedenheit der Quellen, dass das verschiedene Stimmen …, das ist ja immer vielstimmig. Und der Schnitt ist sehr, sehr wichtig und auch das Weglassen ist sehr wichtig, ja, ich kann nicht alles erzählen, das würde die Sache ja nur verwässern. Es gibt solche…, in der angelsächsischen Tradition gibt es eine große…, die Biographie in England ist ja ein ganz wichtiges Medium, aber wenn ich dann höre, dass eine Shaw-Biographie in vier Bänden gibt, mit 2000 Seiten, dann sage ich, mein lieber Freund, das ist ja gründliche Arbeit, vielen Dank, aber du hättest es eher auf den Punkt bringen können, durch Weglassen.

Kluge

Jetzt haben Sie meinetwegen Ihre Eltern, also Ihr Vater, 1902 geboren und 1990 gestorben, richtig?

Enzensberger

Ja.

Kluge

Ihre Mutter, 1905-2008. Das sind zwei Gefäße, die sehr viel mit einem Menschen zu tun haben. Manchmal kann man sagen…, in manchen Momenten sind die in uns.

Enzensberger

Ja, ja sicher, sicher. Nur, ich gehe damit vorsichtig um, weil ich die Distanz zu solchen Personen…, ich kann nicht die Distanz einnehmen, die ich anderen Figuren gegenüber einnehme. Ich meine, mein preußischer General, da ist es kein Problem für mich, die Distanz zu bewahren, während das in der eigenen Familie anders ist gelegentlich; natürlich, indirekt ja.

Kluge

Ihr Vater am Schreibtisch, in dieser gebeugten Haltung, da sieht er ja aus wie Sie, Sie sind nur schmaler. Und so etwas, das zeigt schon eine gewisse momentane Nähe.

Enzensberger

Ja, natürlich, das ist ja unvermeidlich und manchmal dient er mir…, muss er gewissermaßen herhalten, wenn ich zum Beispiel die Rolle des Technikers, wie funktioniert ein Techniker, ja, ein Techniker der… Mein Vater hat mir gesagt, ja, gut, ich habe angefangen das Telefonnetz zu automatisieren, die ersten Versuchsstationen waren in der Weimarer Republik. Dann kamen die Nazis, dann kam die Militärregierung, dann kam die Bundesrepublik, erst die Tri-Zone, die Bundesrepublik…

Kluge

Aber die technischen Fragen, machen einen ganz langsamen Fortschritt.

Enzensberger

Und er sagt ganz kaltblütig, aber telefonieren wollten sie alle.

Text
“Eigensinn im Charakter meines Vaters”
Enzensberger

Er hatte aber auch einen Abstand eingehalten. Zum Beispiel wurde er nach Frankreich geschickt, nach dem Frankreich-Feldzug, da waren die Netze zusammengebrochen durch die Kriegseinwirkungen, die hat er zusammengeflickt in einem Jahr, die hat er zusammengeflickt. Dann ist er wieder nach Hause gegangen. Aber dann hat er auch Eigensinn gezeigt, zum Beispiel er sollte nach Krakau und das Generalgouvernement damals, also das besetzte Polen, der sollte das in Ordnung bringen, also das Telefonnetz. Da hat er gesagt, da gehe ich nicht hin. Da hat er verstanden, was das bedeutet. Anders als in Paris, wo zumindest der Schein gewahrt wurde, war der blanke Terror natürlich in… Frank war der Generalgouverneur, alles Schlächter waren das ja. Und irgendwie hat er das gespürt und hat sich geweigert, da hin zu gehen, das war ja möglich, das war ja möglich.

Kluge

Sie kriegten die ganz feinen Telefonlinien nicht.

Enzensberger
Ja. Und dann am Schluss hat er dann…, da kam ein Führerbefehl
alle diese Verstärkerämter, diese Anlagen, diese technischen Anlagen, sollten gesprengt werden, verbrannte Erde. Da hat er sich geweigert, da haben sie ihn eingesperrt. Ich mache doch nicht … Telefonieren wollen auch die, die nachher kommen, das geht doch nicht, ja, wie die Brückensprengungen und so was, das hat er nicht mitgemacht. Da hat er sich dann plötzlich quergestellt.
Kluge

Und da wird dann von der Empfindung her, die Zeitgeschichte zum Theater.

Enzensberger

Ja, ja, das sind dramatische Szenen, die er sich ja nicht ausgesucht hat.

Kluge

Während die Geschichte der Technik beispielsweise eine Realität bildet. Und darin würden sich auch er und seine Kollegen wieder erkennen, ob sie was können.

Enzensberger
Da gibt es auch ein Kontinuum, bei allen politischen Wirkungen, das war eben…, er hat oft den Satz gebracht
“Telefonieren wollen sie alle”. Also er muss auch mit Rücksicht auf die Nachfolgenden…, kann er das nicht in die Luft jagen, das geht nicht. Wehrkraftzersetzung natürlich.
Kluge

Aber das ist eine andere Verankerung der Gewissenhaftigkeit oder auch der Moralität, als in bloßen Vorsätzen. Eine bessere Verankerung.

Enzensberger

Ja, weil, man sieht es ja auch an den Schriftstellern und Künstlern, die sind eher ins Schwimmen geraten, weil sie nicht so diesen Halt hatten.

Kluge

Aber ein anständiger Ingenieur kommt nicht so schnell.

Enzensberger

… nicht so schnell. Eine Brücke muss stabil sein, die darf nicht zusammenbrechen, das weiß der.

Kluge

Wie lange, im Lebenslauf Ihres Vaters, ist er eigentlich da in diesem Kontinuum? Also es gibt ja erst mal seine Kinderzeit, dann gibt’s eine Ausbildungszeit und jetzt kommt die aktive Zeit. Wann fing sein Beruf an?

Enzensberger

Na ja, er hatte an der Technischen Hochschule studiert, hatte kein Geld von Zuhause, also diese ganzen Sachen mit Freitischen, gab es und so, er hat sich durchgeschlagen. Und ja gut und dann kam allerdings die Familie und ich glaube, eigentlich hätte er lieber…, er hatte eine Vorliebe für die Eisenbahn. Und er hat privat graphische Fahrpläne gemacht, zur Verbesserung der Verbindungen der Schnellzüge in Deutschland.

Kluge

Im Reich.

Enzensberger
Im Reich. Er hatte auch die ganzen Kursbücher immer, aber er wollte das nicht … Die Verbesserung blieb bei ihm, weil, er hat sich geweigert, irgendetwas zu verkaufen, also in der Beziehung war er wirklich vollkommen unbestechlich, die Unbestechlichkeit war auch so einer seiner Züge, weil der hatte ja große Etats zu vergeben an die großen Konzerne
Siemens, Telefon… und Normalzeit, Lorenz, wie die alle hießen und das waren ja hunderte von Millionen, die da verbaut wurden. Und natürlich haben die versucht, ihm Sachen ins Haus zu schicken. Ich erinnere mich, da kam einmal ein Lastwagen vorgefahren und die haben dann Körbe rein gebracht, das war in der so genannten Nachkriegszeit, wo es nichts gab und wir waren völlig geblendet, was da alles war, da war alles: also Hummer, Kaviar - you name it - war alles in diesen Körben. Und einen Kühlschrank haben sie gebracht, das war damals auch nicht zu kaufen. Und wir waren begeistert. Und dann kam mein Vater nach Hause von seiner Arbeit: “Raus hier!” Wir waren enttäuscht, wir hatten uns schon gefreut, aber dann gab es nichts!
Kluge

Aber das ist professionell, denn das hätte ihn umgebracht. Es gibt den Chef der deutschen Filmindustrie in den 40er Jahren, Landgerichtsrat Dr. Pfennig. Und der ist abgesetzt worden von einem Tycoon, also Chef der UFA zu sein, das ist sehr viel. Und weil er ein paar Wurstpakete aus Prag entgegengenommen hat, fiel er von einem Tag auf den anderen.

Enzensberger

Es ist auch merkwürdig, dass es auch in dieser Nazi-Zeit Korruptionsbekämpfung gab, selbst in der SS wurden Leute abgesetzt, weil sie…

Kluge

… die SS-Richter waren streng.

Enzensberger

Ja, das ist merkwürdig. Wie kann das koexistieren mit dem allgemeinen Vernichtungswillen, das ist irgendwie ganz merkwürdig.

Kluge

Das sind die Widersprüche…

Enzensberger

Das sind kleine Kerne, die das bewahrt haben, die sich nicht erodieren ließen.

Kluge

Und die ein System nicht etwa besser machen, aber die Beobachtung…

Enzensberger

Nein, nein, das ist übrigens alles sehr zweideutig, natürlich, das ist alles sehr zweideutig. Denn man kann auf der anderen Seite sagen, warum hast du nicht Sabotage gemacht?

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Lebenswerk / Kontinuität - -

Kluge

Na, Ihr Vater hätte das Telefonnetz auf eineinhalb Stunden lahm legen können. Dann wäre es entdeckt worden und dann wäre er tot…

Enzensberger

Ja, hätte ja auch nichts gebracht.

Kluge

Aber jetzt noch mal, das ist sozusagen so ein Lebenslauf eines Menschen, der einem nahe steht, er hat sozusagen …, bei meinem Vater oder Ihrem Vater, eigentlich eine sehr lange Zeit im Kontinuum, im beruflichen Zusammenhang, sehr lang. Das ist eigentlich ein glückliches Leben…

Enzensberger

Eigentlich eine Art Lebenswerk, denn am letzten Tag vor seiner Pensionierung, hat er das letzte Verbindungsamt eingeweiht, das heißt, er hat das erste und das letzte für Bayern, also für Nordbayern, glaube ich [eingeweiht]. Und das war gewissermaßen auch ein Lebenswerk…, ich habe fertig, hier, jetzt steht es da. Und früher war das Fräulein vom Amt ja noch und das hat er allerdings arbeitslos gemacht.

Kluge

Durch die Automatisierung?

Enzensberger

Durch die Automatisierung.

Text

Die Elemente des Lebenslaufs

Kluge

Jeder Mensch wird geboren, ja, das gehört ja zum Lebenslauf dazu. Und irgendwie, eine kleine Neugier, eine kleine sage ich, bezieht sich darauf, wie wurde man geboren. Wie war das? Waren die Sterne günstig habe ich mich nie gefragt, aber ich habe mich schon gefragt…

Enzensberger

Ja, ja, sicher, das ist…, es gibt…, ein amerikanischer Philosoph hat mal den Ausdruck geprägt, historical luck. Ja, denn dafür kann man ja nichts, man wird da rein geboren…

Kluge

Da ist man hineingeboren…

Enzensberger

In den dreißiger Jahren in den Krieg reingeboren…

Kluge

Hat sich die Mutter gefreut oder nicht? Das ist eine wichtige Frage.

Enzensberger

Ja, alles solche Sachen, ja, ja, das stimmt schon. Ja, aber es gibt natürlich auch…, ich bin da, wie gesagt, ein bisschen heikel, ich habe zum Beispiel einen Großvater, der war Genealoge und der hat riesige…, es gibt riesige, handgeschriebene Familienchroniken, mehrere Bände, er hat alles aufgeschrieben. Aber wenn ihm was nicht gepasst hat, hat er das verbessert, hat er es verbessert!

Kluge

Ach, die Vorfahren wurden etwas günstiger im Laufe der Zeit, im Laufe der Arbeit.

Enzensberger

Ja, der ging so weit, der hat zum Beispiel ein Familienwappen erfunden, das angeblich vom Kaiser Maximilian verliehen worden ist im Jahr 15hundert-weiß nicht was…

Kluge

Hätte er zehn Jahre mehr Zeit gehabt, wären sie adlig geworden.

Enzensberger

Eine absolute Erfindung, das Wappen ist eine reine…, das hat er sich ausgedacht. Es ist schön gemalt, heraldisch richtig, Wappen der Familie - gab es nie! Also das heißt, das sind die typischen Quellen, denen man nicht über den Weg trauen darf. Die Verbesserungen der Geschichten, die Leute verbessern ihre Geschichten. Und deswegen mein Misstrauen gegenüber der Autobiographie. Der andere ist besser qualifiziert, etwas über eine Person zu sagen, als diese Person selbst.

Kluge

Wenn Sie aber jetzt sozusagen, also Lebensläufe beschreiben, dann ist es ja so, man beschreibt ja im Grunde, auch wenn man Lakonie übt und das meiste weg lässt, weiß man das übrige doch kraft Einfühlung. Und das heißt, jeder Mensch hat jetzt, nachdem er eine Kinderzeit hat, an die er sich nur teilweise erinnern kann…

Enzensberger

Ja, das ist ihm erzählt worden, zum Beispiel von den anderen. Und das glaubt er dann sich selbst zu erinnern. Also das sind lauter Missweisungen, die unvermeidlich sind. Und deswegen… Es entsteht eine Art …, Freud hätte gesprochen vom Familienroman.

Kluge

Und jetzt kommt eine Phase, in der so ein Kind in die Schule kommt, wenigstens in Mitteleuropa. Und das ist eigentlich schon Kontinuum Nr. 1, da ist man zusammen.

Enzensberger

Ja, das ist auch…, die wesentlichste Funktion der Schule, ist meiner Meinung nach nicht, dass man so Lesen und Schreiben lernt. Das kann man in sechs Wochen lernen; drei Jahre lang mit dem Alphabet rum zu machen, das ist ja albern.

Kluge

Damit aus Robinson ein gesellschaftliches Wesen wird…

Enzensberger

Natürlich. Da kommt die Clique, da kommen die Allianzen, da kommen die Feindschaften, da kommen die Rivalitäten, da kommt die Eifersucht, da kommt dieses und jenes. Das ist sehr viel wichtiger, denn dieses Einzelkind wäre verloren, wenn es nicht in einem Kontext wäre, in dem Konflikte ausgelebt und verarbeitet werden und auch…, im Übrigen, auch eine schlechte Schule ist eine gute Schule, weil, da lernt man Unterwanderung von Institutionen, von Autoritäten, das lernt man schon als Kind, ja, da ist dieser schreckliche Lehrer und wie werden wir mit dem fertig? Das ist auch gut.

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Die Latenzphase

(das Alter von 6 - 12 Jahren)

Kluge

Und damit hat man jetzt eine Phase, die auch in fast jedem mitteleuropäischen Lebenslauf vorkommt, diese Latenzphase, wie Piaget das nennt. Das heißt, die Unruhe der frühen Kindzeit und auch die Konflikte und das Leiden, das da drin steckt, das kommt im Moment sozusagen auf ein schönes, ruhiges Plateau. So wie Goethe die Seen beschreibt, ja, unter Mondlicht, ruhig, kein Sturm, bis zur Pubertät. Kann man eigentlich sagen, dass das schon mal ein Leben ist.

Enzensberger

Ja. Und außerdem ist man da ja irgendwie auch gedanklich ziemlich hemmungslos. Die Kinder… ich meine, ich gehe manchmal in eine Schule, ich mache keine Lesungen, ich hasse das, aber ich gehe manchmal in eine Schule. Und dann…, ist ja auch egal, ob man in der Zeitung gestanden hat oder nicht, das ist denen…, Prominenz spielt für die gar keine Rolle, bei einem 8Jährigen kommt man damit überhaupt nicht an. Und dann entsteht die…, dann kann man die Produktivität hervorlocken von denen, wenn die dann anfangen, ja, gut, die können Malen, die können Singen, die können Gedichte schreiben und ganz merkwürdige Sachen oft, das geht dann später verloren. Das geht dann wieder verloren…

Kluge

Wie mit der Stimme.

Enzensberger

Ja. Diese Produktivität geht dann wieder verloren. Aber es gibt wirklich…, ich meine, wenn man sich allein den Spracherwerb…, das ist ja so was Gigantisches, ja, wie ein Mensch diese Syntax lernt mit ihren ganzen Typen und Ausnahmen und Sonderbarkeiten, das geht ganz schnell. Und ich meine später, wenn Sie jetzt Japanisch lernen wollen, haben Sie riesige Schwierigkeiten, aber mit vier würden Sie Japanisch im Nu lernen. Also in gewisser Weise waren wir damals begabter.

Kluge

So, wie man schon mal schwimmen konnte, bevor man ein Baby wird. Und diese Seite, wenn man ein Stück von diesem kleinen Garten, den man in diesem Lebensalter in sich hat, wenn man das bewahrt, hat man eine gute Eigenschaft, die ein Autor braucht später, er rekurriert immer wieder auf…

Enzensberger

Das ist richtig, ja, sicher.

Kluge

… eine nicht erwachsene Betrachtungsweise.

Enzensberger

Ich glaube nicht nur…, gut, für einen Autor ist es vielleicht noch wichtiger, aber dem total erwachsenen Menschen, der wäre ja ein pathologischer Fall, der muss ja diese Alter alle mit tragen, der muss die mit tragen, das ist klar. Und das kann neurotische Züge annehmen, aber trotzdem ist das unvermeidlich. Und ich habe keine Lust, nur Achtzig zu sein, ich habe ja gar keine Lust, das möchte ich lieber nicht.

Kluge

Und da gibt es sozusagen Epiphanie, also innen drin, wo man mikroskopisch nachgucken könnte, dann gibt’s sozusagen ein Rumpelstilzchen…

Enzensberger

Ja, aber es gibt aber auch eine Grenze, das ist eben vielleicht auch ein Defizit, aber ich habe einfach keine Lust, mich allzu tief mit meiner eigenen Lebensgeschichte… Ich bin ja ein geübter Vergesser auch, also ich will da nicht drin herum wühlen, ich hasse diese Therapieleute, die da immer diese Sucht…, “ich muss meine Identität finden, ich muss mich selbst verwirklichen”, das ist doch langweilig, das ist furchtbar langweilig.

Kluge

Das brauchen Sie ja auch nicht. Nein, man wird Sie nicht verkennen. Wenn Sie anfangen zu reden, wird man sagen, das ist Enzensberger, das ist wirklich kein Kompliment, sondern das ist eine Eigenschaft von Ihnen. Das ist geballter Eigensinn.

Enzensberger

Unvermeidlich, ja.

Kluge

Aber wenn Sie es mal so nehmen, Sie könnten es ja ohne weiteres sich vergegenwärtigen, wenn Sie jetzt sagen, Ovid am Schwarzen Meer und Ossip Mandelstam, der die Tristia schreibt, der sich auf Ovid beruft und sitzt in einem Café in Moskau.

Enzensberger

Ja, es gibt solche Situationen, wo so was dann hoch kommt geradezu.

Kluge

Und da könnten Sie sozusagen, in den Handschuh, da würden Sie ja unbefangen hineingleiten.

Enzensberger

Ja, das ist schon, wenn es ein anderer ist, gerne.

Kluge

Dann äußert sich dasselbe, was Sie über sich sozusagen jetzt peinlich finden.

Enzensberger

Ja, aber das geht natürlich nicht ohne diese Art verborgenes Kapital, von dem Sie gerade sprechen, das ist ja ganz klar, ich meine, einer, der sich ganz selbstlos würde, der könnte das ja auch nicht zustande bringen, das ist schon klar. Aber ich möchte das latent lassen, ich möchte das nicht auf dem Präsentierteller…, das widerstrebt mir irgendwie, ich weiß auch nicht warum, aber ich hoffe, dass ich nie eine Autobiographie schreibe.

Kluge

Nein. Jetzt nehmen Sie mal eine Momentaufnahme in Ihrem Leben, die von einem Kameramann festgehalten wurde, da stehen Sie an einem Fenster und sehen nach draußen und da ist Winter, Winter über München, etwas Charakteristisches, das ist 1936 auch nicht anders. Das heißt, Sie haben eine ganz lange Bewegung, nämlich die jährlich wiederkehrenden Winter…

Enzensberger

Ja, das sicher, die Jahreszeiten. Ich bin ja glücklich, dass ich in einer Zone der Erde lebe, in der es vier Jahreszeiten gibt, denn es gibt Zonen, wo es nur eine oder nur eine Regenzeit und dann ist immer dasselbe, ja, das ist ja ganz furchtbar. Also da sind wir hier gut dran.

Kluge

Und Sie als Momentaufnahme, diesen Tag, so wie Sie da sitzen mit allen Ihren Zellen, was Sie da an dem Tag denken, das mag Verwandtschaft haben mit einem anderen in Ihrem Leben, aber es ist im Grunde ein Moment, so dass man also…

Enzensberger

Das ist doch wunderbar, das hat auch mit Europa was zu tun, das ist ja sehr abwechslungsreich, ja. Dann schimpft man über das schlechte Wetter, ich schimpfe nie über das schlechte Wetter, das schlechte Wetter ist auch gutes Wetter.

Text

Real im Lebenslauf ist der Moment

Kluge

Ich halte fest, wenn man Lebensläufe beschreibt, macht man es aus Momenten heraus, weil das ist das Lebendige. Sozusagen weil die Zellen vergessen sonst und ganz derselbe wird man nie sein zwei Mal im Leben.

Enzensberger

Ja, ja und man erkennt sich dann auch manchmal nicht wieder und sagt, was war denn damals los? Wie sieht denn das aus?

Kluge

Jetzt gibt es eine zweite…

Enzensberger

Und auch verräterisch manchmal. Manchmal selbst, wer Abstand halten will, fällt natürlich in gewisser Weise auch dem Zeitgeist doch anheim, also man wird mitgerissen, man wird mitgerissen, man hat merkwürdige Kleider plötzlich an und da beginnt es ja schon. Selbst Gesichtsausdrücke können “zeit-verräterisch” sein. Der macht jetzt ein Gesicht der 50er Jahre, das gibt es doch.

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Eine charakteristische Eigenschaft

Kluge

Wenn Sie in einer Wirklichkeit sind, wären Sie gerne in der anderen, wenn Sie Zuhause sind, würden Sie gerne in Norwegen, in Übersee sein, in Amerika, in Mexiko, irgendwo, das heißt, Sie haben einen Wechsel, Sie sind ja lange Zeiten hier ausgebrochen, nach lebhafter Tätigkeit.

Enzensberger
Na ja, aber das ist doch ganz einfach, weil, ich meine, wir sind keine Bäume. Deswegen, mich stört ja schon der Ausdruck
“Was ist ihr Standpunkt?” Das stört mich schon, weil, ich bin doch nicht fixiert auf einen Standpunkt, ich kann mich doch bewegen. Also diese Art von Beweglichkeit finde ich, ist ja eigentlich so was wie ein Lebenszeichen. Also ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das anders ginge. Und natürlich, was jetzt die spezifischen Dinge betrifft, ich bin in Deutschland geboren, in meinem Jahrgang, ich wollte unbedingt raus, das ist ein vitales Bedürfnis, raus! Wir waren ja eingemauert in der Nazi-Zeit, wir konnte ja nie… und auch danach konnte man…, man hatte keinen Pass, man konnte kein Geld umtauschen, man war fixiert. Und das hat man doch unbedingt…
Kluge

Ja und die Wirklichkeit wird irgendwann mal übersichtlich. Und dann muss man den Horizont neu abschreiten…

Enzensberger

Ja, ich finde, das gehört zur Gattung, die Beweglichkeit, ich verstehe gar nicht, wie jemand anders das sehen kann, das ist mir unbegreiflich.

Text

Der fliegende Robert /

Eskapismus, ruft ihr mir zu,

vorwurfsvoll /

Was denn sonst, antworte ich,

bei diesem Sauwetter! -,

Spanne den Regenschirm auf

und erhebe mich in die Lüfte /

Von euch aus gesehen,

werde ich immer kleiner und kleiner,

bis ich verschwunden bin /

Ich hinterlasse nichts weiter

als eine Legende,

mit der ihr Neidhammel,

wenn es draußen stürmt,

euren Kindern in den Ohren liegt,

damit sie euch nicht davonfliegen /

Kluge

Hier gibt es einen Film und da sieht man die Verfilmung eines Buches, „Requiem für eine romantische Frau“, beginnt in der Eingangsszene mit einer sehr lebhaften Frau, die den Dichter Clemens von Brentano, wie man gleich erfährt, während einer Parade napoleonischer Truppen wohl in Kassel, eigentlich umarmt.

Text
Ausschnitt aus dem Film

Requiem für eine romantische Frau

Enzensberger

In Frankfurt, ja.

Kluge

Spontan. Frankfurt.

Enzensberger

Ja. Na ja, das ist so eine Figur, an der man allerhand darstellen kann. Wissen Sie, warum macht man überhaupt solche Biographien? Wenn ich meine historische Phantasie entwickeln will, dann genügt es für mich nicht, wenn ich den großen Ploetz aufschlage und diese Datensammlung, das ist ja ein nützliches Handbuch, das hat man schon stehen, aber ich habe keine Vorstellungskraft…, also kann ich daran keine entwickeln. Und das geht eigentlich für mich nur, indem ich mich wie in einen Handschuh, in eine subjektive Sache da einarbeite, einfühle, ein…, das ist natürlich auch Recherche, also man muss das dann auch richtig erforschen von innen und dann kriegt man ein Gefühl dafür, ja, was ist bei diesen Leuten los gewesen, was ist in ihnen vorgegangen. Und das lässt dann schon…, das kann man dann bis zu einem gewissen Grad auf die Epoche überhaupt beziehen, ja, das bleibt ja nicht bei der einen Person. Und hier geht es ja um eine Frau, also das ist ja auch ganz merkwürdig, wie

einerseits …, die modernen Frauen bilden sich ja ein, die Emanzipation der Frau sei eine Sache der letzten 30 Jahre oder so was, das ist natürlich ganz falsch. Und diese Frauen waren sehr selbstbewusst, sehr artikuliert und ja… Und dann habe ich mich mit dieser Frau beschäftigt, auch mit diesem Herrn Brentano, der ist ja für mich als Dichter auch interessant und wie geht es da zu. Ist auch Großbürgertum zum Teil, da gibt es alle möglichen Begrenzungen vom Milieu her. Und dann ist eben interessant, ich habe ja dann die Erfahrung gemacht, dass jede Biographie muss ihre eigene Form finden, ich kann kein Schema haben, das auf einen heutigen oder aus dem 20. Jahrhundert oder dann…, das geht nicht. Sondern ich muss… und das hat auch mediengeschichtliche Gründe, denn was war…, welches Medium wurde da benutzt. Und es ist interessant, dass zum Beispiel in der Romantik…, da waren die Leute manische Briefschreiber, das war eine Art Telefonersatz, die konnten ja nicht telefonieren, haben also jeden Abend hat sich der…

Kluge

… war auch ein Seelenecho, das heißt also, was die Buchhaltung ist für den Kaufmann, ist der Brief eigentlich für die eigene Befindlichkeit.

Enzensberger

Ja. Und zwar von einem Tag auf den anderen, die haben so oft geschrieben, dass man einen Kontext haben kann, man kann ganz genauso sozusagen die Emotionskurven, ja, wie in einem Enzephalogramm ist das so. Und die haben sie sich ja unter die Tür sogar geschoben, selbst wenn sie im gleichen Haus waren, wenn sie sich gestritten haben, wurde ein Zettel durch… Und sonderbarerweise ist eben von dem wahnsinnig viel erhalten und das ist auch ein schöner detektivischer Aspekt, dass man sozusagen…, ich habe solche Briefe gelesen, die hat seit hundert Jahren niemand in der Hand gehabt. Und das ist ja…

Kluge

… die haben eine Ausdruckskraft, also in den Worten… und wie sie schreiben, das ist auch nicht bloß subjektiv, wie man es den Romantikern ja oft vorwirft. Es ist eine diplomatische Korrespondenz. Also wenn ich sozusagen, um meinen Mann zu gewinnen, dessen besten Freund, dem er beichtet, Amen, so schreibe, dass das eine Rückwirkung haben soll auf meine Ehe…

Enzensberger

Ja. Savigny als Schlichter zum Beispiel. Und dann war es ja so, das hängt natürlich mit dem Milieu auch zusammen, weil dieser Bethmann war eine große…, ist ja heute noch, ist ja eine Bankiersfamilie gewesen und der war da ganz dagegen. Da gibt’s also Widerstände, also da entwickelt sich eine Art…

Kluge

Das müssen Sie mal erzählen, also da gibt es in Frankfurt die Brentanos, Frankfurt-Offenbach und dann hier diese große Familie Bethmann, auch Hölderlin wird noch später da in diesem Umfeld irgendwie noch tätig.

Enzensberger

Ja, ja, die haben große Staatsanleihen gemacht. Das war ja auch der Beginn…, ich meine, später kam dann Rothschild, also die Regierungen waren ja oft geradezu abhängig von dem Geld, das diese Bankierfamilien ihnen zur Verfügung gestellt haben, für den Krieg, für die Kriegskontributionen, da gab es ja die napoleonische Epoche usw. Und das ist auch interessant, wie sie dann mit dem Geld umgehen. Also ich meine, man stellt sich einen Romantiker ja als jemand vor, der so weltfremd ist, das ist aber gar nicht der Fall, weil, die haben schon…, die mussten schon auch aufpassen… Ich meine, ein Typ wie Brentano, der eigentlich keinen Brotberuf haben wollte, der war ja auch irgendwie drauf angewiesen, dass irgendwo ein Vermögen ist, damit er sich das erlauben kann. Der wollte nicht ins Büro, hat er sich geweigert. Und dann diese Frau, sehr leidenschaftliche Sachen sind das auch, also das ist wirklich auch ein Ehedrama, manchmal geradezu mit strindbergschen Zügen. Und das kann man eben… von einem Tag auf den anderen… haben diese Briefe da …, zeigen. Und durch diese sprachliche Virtuosität dieser Leute entsteht auch ein Mehrwert, möchte ich mal sagen, es ist dann nicht die banale, wie man vor dem Scheidungsanwalt alles auspackt, so ist das ja nicht.

Kluge

Aber es ist eigentlich gegenüber dem Werther und dem Spannungsbogen von Werther, eigentlich nicht unterschieden.

Enzensberger

Nein…

Kluge

Nachdem sie sozusagen aus dieser fatalen Beziehung mit dem Brentano, der romantischen, im Grunde entlassen ist endgültig und einen bürgerlichen Menschen heiratet.

Enzensberger

Ja, ja, die Frau, die dann am Schluß Selbstmord begeht, diese romantische Frau, weil, sie war eben auch nicht zufrieden, die hat sich dann aus …, das war praktisch eine Vernunftehe, was sie dann später gemacht hat, weil, mit diesem Brentano war das nicht…, das ging nicht, die waren zu leidenschaftlich, die haben sich so geliebt und so gehasst, ja. Und ich meine, wie gesagt, ich will da etwas…, ich will da in diesen Handschuh von 1805, will ich reinkommen und will das von innen…

Kluge

…denn das ist eine Zeitenwende. Also es fängt 1789 wirklich ein neues Jahrhundert für sich statt und das ist 1815 irgendwann mal beendet und da gibt es jetzt den industriellen Aufbruch von England her…

Enzensberger

Ja natürlich, da kommt Metternich, dann kommt Biedermeier, dann kommen diese ganzen Sachen…

Kluge

… später. Und hier aber ein Aufbruch und es wird mehr verlangt vom Leben als das Leben hergibt.

Enzensberger

… als es geben kann, ja.

Kluge

Und vielleicht ist es auch bei dem Brentano so, dass er dichterisch sozusagen ein Fürst seiner Gefühle ist, während…, also biologisch er Schwächeerscheinungen zeigt.

Enzensberger

Ja, ja, natürlich.

Kluge

…eine Zerrissenheit männlicher Phantasie.

Enzensberger

Ja, ja, sicher. Das ist eben auch interessant, wie…

Kluge

Aus der Ferne wäre es besser.

Enzensberger

…wie es zum Beispiel geradezu manchmal diese ganz verrückte Grenzen gibt, [ein] Mann, der dann plötzlich Haushaltsvorstand spielt oder so diese ganzen alten Rollen, wie er plötzlich…

Kluge

Und währenddessen immerzu abreist.

Enzensberger

… und das abreist, weil das nicht durchzuhalten ist.

Kluge

Und aus der Ferne wäre es so schön.

Enzensberger

Und es ist ja auch, ich meine, diese Zeit ist eben auch…, die gehört in die Geschichte der Erfindung der Liebe natürlich, weil, diese Anforderungen an eine Beziehung zwischen Mann und Frau, die steigert sich in einem Maß, wo das eigentlich nicht mehr einlösbar ist. Diese Betriebstemperatur kann man auf die Dauer ja nicht durchhalten, so ist das.

Kluge

Und es gibt auch Schatzfunde, also ein besseres Leben.

Enzensberger

Ja und ich habe schon übrigens festgestellt, diese Arbeit war auch…, mir gefällt ja auch das Detektivische an so biographischen Recherchen, weil, dann stellt man fest, dass die…, viele Biographen schreiben ja voneinander ab, die sind ja faul. Und wenn man dann hingeht, ich bin in das Erzbischöfliche Archiv gegangen, habe da die Daten korrigieren können, die die Germanisten alle voneinander abschreiben. Also manchmal ist der Outsider der Nichtexperte, ich bin ja kein Professor der Literaturgeschichte, aber manchmal hatte ich eine Chance, etwas zu finden, was die anderen übersehen haben, das ist auch lustig.

Kluge

Aber einen Brief haben Sie erfunden.

Enzensberger

Einen habe ich erfunden, ja, am Schluß…

Kluge

…und dann ein energisches Nachwort. Also der Kommentar fehlt nicht.

Enzensberger

Nein, nicht ganz. Aber das wollte ich schon bei dem Briefwechsel als Form belassen. Während zum Beispiel in anderen Zusammenhängen…, ich habe dann eine Biographie geschrieben von einem quasi Helden des Spanischen Bürgerkriegs, einem Anarchistenführer, Buenaventura Durruti…

Kluge

„Der kurze Sommer der Anarchie“.

Enzensberger

… „Sommer der Anarchie“ und da muss man ganz anders vorgehen, denn da ist das Medium mündlich. Die Anarchisten hatten keine Akten, die hatten keine Bürokratie, das heißt, was mache ich? Ich habe zwar ein paar Flugblätter, so Material gesammelt, was ich finden konnte an anderen Quellen, aber die Hauptquelle waren die alten Männer, die sich erinnern. Und ich musste dann mit der Kamera hin gehen und mit dem Mikrophon, das waren Achtzigjährige in der Emigration, irgendwo in Frankreich, in Holland, überall, wo sie geblieben sind, das war ja noch Franco-Zeit, wie ich das gemacht habe. Und die hatten dann erzählt, also das ist die Mündlichkeit, die mündliche Überlieferung, die den Anarchisten besser passt. Also da muss man ganz anders vorgehen. Und ich muss also jetzt diese Interviews, die muss ich schneiden, damit eine Erzählung daraus wird usw. Das ist wieder ein ganz anderes Vorgehen. Und so muss man eigentlich in jedem Fall… Eine dritte Biographie, die ich gemacht habe, die handelt von einem deutschen General…

Kluge

Hammerstein.

Enzensberger

Dem Hammerstein, ja und da gibt es ganz andere Quellen, da muss ich in die Geheimdienstarchive gehen und das ist so die objektive Seite und dann wird das ergänzt, ich musste dann die Überlebenden, die Familie, davon überzeugen, dass sie ihre Schubladen auf machen, da waren Fotos, manchmal ein Tagebuch, manchmal ein Brief, also das muss man dann so montieren, denn die Akten sagen ja nicht alles, die Akten verschweigen viel…

Kluge

Aber ich sehe Sie im Bendlerblock der Familie Vortrag halten und das ist ein sehr großer Moment eigentlich. An einem historischen Ort…

Enzensberger

Ja, wo das passiert ist.

Kluge

… war das Amtszimmer von Hammerstein. Und da sitzt jetzt die Familie.

Enzensberger

Ja, ja. Also das sind drei ganz verschiedene Methoden und…

Kluge

Hier waren Sie aber am freiesten, hier haben Sie sich also sozusagen gestattet, erfundene Dialoge aus dem Jenseits einzufügen…

Enzensberger

Ja, ja. Das hat natürlich mit dieser Zeit auch etwas zu tun, weil, die…

Kluge

Das ist sozusagen der fliegende Handschuh schon?

Enzensberger

Ja. Aber für jüngere Menschen schwer vorstellbar. Die können sich da schwer reinversetzen.

Kluge

Aber man merkt daran, dass alles, was man hier dokumentarisch tut und was aus Liebe zur Sache auch Dokumente enthält, das unterliegt doch dem dichterischen Reich.

Enzensberger

Ja, da kann man auch einen Unterschied…, es ist natürlich ein bisschen heikel, das Verhältnis sagen wir zu den akademischen Historikern, das ist ein bisschen heikel, weil, die unterliegen ganz anderen Zwängen. Ein Schriftsteller darf mehr.

Kluge

Der Aufsicht der Kollegen. Während Sie der Aufsicht der Geschichte oder sozusagen des Erzählbaren, der Erzählkunst unterliegen. … Tacitus kuckt über die Schulter.

Enzensberger

Ja, auch irgendwie des Lesers, ob er das glaubt, ob ich das glaubhaft machen kann. Und diese Totengespräche sind eigentlich auch ein Versuch, sozusagen die Stimme von heute, die diese Leute befragt, was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht? Warum habt ihr euch so verhalten und nicht… Das können jüngere Leute sich gar nicht vorstellen und da ist das ein heuristisches Mittel, um die hereinzuziehen, ja. Ein 25-Jähriger hat große Schwierigkeiten, sich das Leben in einer Diktatur vorzustellen, der hat ja nie etwas davon mitgekriegt.

Kluge

Nein. Und es ist auch jetzt sozusagen eine gewisse Ferne von Ihrer Person selbst her, denn ich könnte mir vorstellen, ich sehe Sie in Wannsee, auf der Gruppe 47-Tagung, 1962.

Enzensberger

Ja, ja, ja.

Kluge

Da hätte ich mir nicht vorstellen können, dass Sie einmal einen deutschen Chef der Heeresleitung behandeln, mit übrigens Respekt, und sich dort einfühlen, dass das Ihr Handschuh wird.

Enzensberger

Ja, das ist aber eben auch der Vorteil, ich meine, ich finde ja Autobiographien langweilig, mich selbst kenne ich schon bis zu einem gewissen Grad und ich finde es auch nicht so wahnsinnig spannend. Aber gerade diese fremden, ich bin ja auch kein militanter Anarchist, das ist alles eine fremde Welt, ist das eigentlich und die eben auszuloten, mich in sie…, das finde ich viel spannender, als wenn ich erzähle, ja, ich habe Paul Celan gekannt oder Beckett und so, diese Memoiren sind ja oft langweilig und angeberisch auch. Das gefällt mir nicht.

Kluge

Und nun ist das aber auch hier, also zum Beispiel mit großer Verblüffung sehe ich dann Sie in verschiedenen Zeiten, aufgenommen von einem aufmerksamen Kameramann.

Enzensberger

Ja gut, aber das ist eben…, die Konsequenz ist, das muss man anderen überlassen.

Kluge

Aber das ist interessant im Grunde…

Enzensberger

Natürlich…

Kluge

Also wenn Sie jetzt hier sitzen am heutigen Tag…

Enzensberger

Ich erkenne mich da kaum wieder manchmal, in solchen Sachen… Aber das muss ich anderen überlassen, das ist doch hygienischer auch. Und dann gibt es noch ein viertes Projekt, da habe ich mal die Balladenform gewählt, das Buch heißt “Mausoleum” und das sind Figuren aus der Geschichte des Fortschritts. Und das ist wieder ein ganz anderes Verfahren gewesen, weil das beruft sich eigentlich…, warum Ballade? Das sind eigentlich eine Art von Heldenliedern, ja. Und das Heldenlied beruht ja darauf, dass man die Figur schon kennt, die hat ja schon einen Mythos, ja. Wenn ich über Darwin ein langes Gedicht schreibe, dann bin ich ja nicht…, ich entdecke ja nicht Darwin, den gibt es ja schon und zwar gibt es den auch als Mythos und Legende. Und deswegen knüpft das an, dass …, die Form der Ballade ist eine alte Form, mit der man…, schon in der Antike hat man große Sportler zum Beispiel… Pindar, der große Sportler, hat man da geehrt oder weise Philosophen usw. Und deswegen ist das eine Biographie, die gewissermaßen aus Biographien besteht, weil, da benütze ich natürlich schon diesen Fundus, der erzeugt worden ist in der Geschichte durch die Wiedererzählungen.

Kluge

Und sie werden, dadurch dass es 37 sind, die hier versammelt werden, kriegen sie ein Stück von sich auch, sozusagen die Kaprizierung auf einen einzelnen, das ist ja ein bisschen willkürlich…

Enzensberger

Ja, ja. Na, es gibt eine unfreiwillige…, es gibt natürlich auch…, der Biograph erzeugt, ohne es zu wollen, sogar wider seinen Willen, auch ein bisschen etwas von einem Selbstportrait. Ich meine, warum? Weil, ich kann mich ja nur jahrelang mit einer Person beschäftigen, mit der mich irgendetwas verbindet. Ich muss ja eine Art von emotionaler…

Kluge

… Empathie, wie man sagt.

Enzensberger

Ich muss Empathie haben, nicht Identifikation, das wäre ein Fehler.

Text

Die Lebensläufe des HOMO NOVUS

Kluge

Und jetzt hier, bei “Mausoleum”, haben Sie ja Menschen einer ganz bestimmten Denkungsart, das ist der Homo Novus, der zerfällt in Catilina, also einem Aufrührer, einem verschwörerischen Menschen, der die Naturwissenschaften erfindet, der auch betrügen kann, der Kolonien bildet und gleichzeitig einem Menschen, der von der Aufklärung, von der Neugier, nicht lassen kann. Also zwei Eigenschaften, die gegeneinander laufen.

Enzensberger

Ja. Und es heißt ja auch, aus der Geschichte des Fortschritts. Also den kann man…, also der hat ja mehrere Facetten, das ist ja nicht so ganz eindeutig was das ist, der Fortschritt.

Kluge

Fortschritt des Verbrechens, Fortschritt der Industrie, Fortschritt des Fleißes, Fortschritt der Intelligenz, Fortschritt eigentlich auch der Gutartigkeiten.

Enzensberger

Auch der Gutartigkeiten.

Kluge

Obwohl sie nicht so leicht sich fortsetzen lassen.

Text

Charaktere ohne Phrase

Enzensberger

Ja, das Pastorale zum Beispiel ist mit diesen Charakteren unverträglich, die können nicht ölig sprechen. Na ja und da zeigen sich dann die Ambivalenzen auch und auch… es zeigt sich auch in diesen Geschichten eigentlich der Preis, den diese Menschen zahlen für ihr Projekt, das geht ja tief in die Psyche dann, bis an die Grenze der Verrücktheit. Ich meine, viele große Mathematiker, die haben das nicht…, die landeten in der Psychose oder so was. Das ist ja nicht ungefährlich alles.

Kluge

Es ist nicht ungefährlich, sich so unendliche Mühe zu geben.

Text
Ein neues Projekt
Das BUCH DER RETTUNGEN
Enzensberger

Ja und sich so hin…, also es ist ja auch eine Hingabe damit verbunden und das ist nicht kostenlos. Also ich glaube, das ist…, man kann sich fragen, ob das nicht etwas ungesund ist, ein Genie zu sein. Ich hatte neulich die Idee von einem…, ich werde es nie machen, man hat ja immer mehr Pläne, als man jemals auszuführen in der Lage wäre. Aber ich hätte zum Beispiel gerne…, ich würde gerne ein Buch lesen, das heißt „Das Buch der Rettungen“, das heißt also, so ein Dutzend Geschichten von Leuten, die in letzter Minute, oft durch einen Zufall, entkommen, die entkommen. Der letzte Zug, die Nelly Sachs kannte eine…, über Selma Lagerlöf, eine schwedische Kronprinzessin, die ihr noch im Jahr 1940 ermöglich hat, rauszukommen. Solche Geschichten, ja…

Kluge

Einer versäumt das Flugzeug, das über dem Atlantik abstürzt und so, durch Blitzschlag.

Enzensberger

Ja, ja. Das sind sehr tolle Geschichten, über die Rettung in letzter Minute. Das ist eigentlich…

Kluge

…Rettung in letzter Minute, Rettung aus Versehen, Rettung, ohne dass man die Absicht hatte… sind eigentlich schöne Geschichten.

Enzensberger

Ja, schöne Geschichten.

Text
Wirklichkeit ist nicht total –
Kluge

Und das lässt man sich sozusagen von dem Tyrannen Realitätsprinzip nicht ausschließen. Wenn der wie ein Moloch da sitzt und sagt, so, mich gibt es, ich bin, weil ich wirklich bin, dann würden Sie sagen, das bezweifle ich aber. Deswegen fängt jetzt die subjektive Seite an, jetzt kommt die Glosse.

Enzensberger

Es gibt in dem Sinne, gibt es nicht das Totale, das ist keine Totalität, das Totalitäre mag es geben, aber gibt zum Beispiel auch keine totale Gesellschaft, es gibt in jeder Gesellschaft Ecken, Nischen, meinetwegen, wenn es schlimm wird, sind es nur noch Nischen, sind es nur noch enge Räume, aber die existieren fort. Und ich weiß aus der Nazi-Zeit, da gab es immer wieder… und das mag harmlos aussehen, wie ein Kaffeekränzchen, aber das war anders, das war nicht homogen, diese Gesellschaft selbst, diese Nazi-Gesellschaft, hat es nicht geschafft, die Homogenität zu erzeugen.

Kluge

Sie sind ja sozusagen…

Enzensberger

Ein Mandelstam in der Sowjetunion…, ich meine, das sind … Achmatowa, die wir kennen und dann gab es natürlich…, genauso interessant sind welche, die wir nicht kennen, deren Namen nicht überliefert sind. Aber es gibt zum Beispiel einen amerikanischen Historiker, der ist Rußlandforscher und so und der hat diese Tagebücher aus der Stalin-Zeit veröffentlicht, die hat er in Moskau gefunden, private Tagebücher, die heimlich geschrieben worden sind und das sind natürlich no-names, das sind ja keine berühmten Leute, die sind von einer unglaublichen Wucht und die sind wahnsinnig interessant. Oder ich habe eine kleine Sammlung von Frauengeschichten aus der Nazi-Zeit, also teils Tagebücher, die sind ja veröffentlicht, teils sind es auch…, aber meistens sind es gleichzeitig geschriebene Sachen, die sie dann unter der …, irgendwo versteckt hielten, diese Frauen in Berlin, das sind ja anonyme Bücher auch…

Kluge

Das haben Sie ja im Grunde herausgebracht.

Enzensberger

Ja, ja, wir haben es herausgebracht in diesen Büchern. Und die sind von einer ziemlichen Wucht und interessant auch, dass in dieser ganzen zeitgeschichtlichen Forschung eigentlich die Rollen der Frauen weit unterschätzt wird, denn der Widerstand zum Beispiel, wäre ohne die Kurierarbeit, ohne die Logistik, die die Frauen geleistet haben, wäre das gar nicht möglich gewesen.

Text

Ohne Rücksicht auf Verluste! /

H. M. Enzensberger
Wie erzählt man Lebensläufe?
Kluge

Der Sturz Robespierres, wäre ohne Frauen nicht zustande gekommen.

Enzensberger

Eben.

Kluge

Der König, 1789, wird nicht nach Paris geholt, wenn nicht durch die Frauen von Paris. Das ist interessant.