Ich bin der Saboteur meiner Depression
Transkript: Ich bin der Saboteur meiner Depression
- ICH BIN DER SABOTEUR MEINER DEPRESSIONEN / Hans Magnus Enzensberger über
- Maulwürfe und Störche in der Dichtkunst
- Text
- …Charakter mit der Notwendigkeit, sich relaxt zu bewegen - - ?
- Text
- ICH BIN DER SABOTEUR MEINER DEPRESSIONEN / Hans Magnus Enzensberger über: Maulwürfe und Störche in der Dichtkunst
- Enzensberger
- Die Idee der Originalität ist sehr relativ, denn ich schreibe immer an etwas weiter, ich fange ja nicht immer wieder von vorne an. Niemand fängt von vorne an. Und in dem Sinn ist es auch eine… Man hat ein Kollektiv im Rücken und man hat sogar ein Kollektiv neben sich. Ich sage dann oft, ein Autor ist auch ein bisschen wie ein “Radio-Kopf”, in dem alle möglichen Stimmen aufgefangen werden, die Stimmen der anderen. Die Sprache ist nicht mein Privateigentum. Das ist völliger Unsinn. Und ich meine…vielleicht ein Satz… wenn ich morgens die Zeitung hole, ich habe eine wunderbare Zeitungsfrau, der ich immer gern zuhöre und vielleicht hat die einen Satz, den ich stehlen kann. Ja, verstehen Sie?
- Kluge
- Insofern ist man ein Transmitter, ein Verstärker?
- Enzensberger
- Ja, ganz sicher. Und natürlich gehört dazu die Ökonomie, die der Alltag nicht hat. Der Alltag ist unökonomisch, ist ein Verschwender, ein dauerndes Blabla. Diese Arbeit ist sehr ökonomisch, weil man kann dann ziemlich viel… Ich denke, das ist auch ein Vorzug dieser Form. Was heißt das: Poesie? Ein Vorzug dieser Form ist, es gibt keine andere Möglichkeite auf einer halben Seite so viel zu sagen. Das ist ökonomisch. Das gefällt mir auch an dieser Arbeit.
- Text
- Museum der modernen POESIE
- Kluge
- Aber es sind Fangnetze gleichzeitig in gewissem Sinne. Sie haben hier 1960 etwas veröffentlicht, was sehr interessant ist: Museum der modernen Poesie.
- Enzensberger
- Das war jetzt mein Empfänger, ich habe meinen Weltempfänger sozusagen und das war eben notwendig, weil wir einen totalen Blackout hatten. Wir hatten ja durch den Faschismus ungefähr 15 Jahre totalen Blackout und wussten nicht was in der Außenwelt eigentlich passiert. In dem Sinn gab es auch für mich eine Mauer, denn diese ganze “Nazisache” war auch deswegen so unangenehm, weil man nicht raus konnte. Man konnte ja nicht raus, man war eingemauert von diesem Zeug und die einzige Möglichkeit rauszukommen war irgendwie in die russischen Steppen zu marschieren. Das war ja auch ein Antrieb der Soldaten: Sie kamen nach Paris, sie kamen irgendwohin, sie kamen endlich aus diesem Ding heraus. Ich glaube, das ist ein Teil der Energie dieses Kriegs.
- Kluge
- Blitzkrieg führen.
- Enzensberger
- Ja, ja. Aber gut, ich konnte nicht raus und kulturell war es genauso, man war eben gefangen in diesem Ding und als es möglich wurde, war es sehr wichtig, die Wiedergewinnung von Welt auch in der Poesie zu betreiben…
- Kluge
- Jetzt haben Sie für die Zeit zwischen 1910 und 1945 eine Art Arche Noah gebaut, alles in das Boot geladen, was Ihnen persönlich gefällt. Sie sind ja relativ freizügig…
- Enzensberger
- Ja, aus allen möglichen Sprachen, so musste das zusammengesucht werden.
- Kluge
- Die Originalsprache steht immer auf der anderen Seite.
- Enzensberger
- Das gab es damals ja alles nicht in Deutschland. Und zugleich war es eine Operation, die auch den Sinn hatte, daß man sozusagen davon Kenntnis nehmen muss, daß diese heroische Moderne, diese Epoche eigentlich schon hinter uns liegt, daher Museum. Also ein Museum ist ja etwas, wo ich schon… ist eine Retrospektive eigentlich. Damals gab es schon die ersten Anzeichen dieser Neoavantgarde und damit musste man sich auseinandersetzen und ich wollte damit auch sagen, “Kinder, ich glaube es ist nicht sehr vielversprechend wenn ihr jetzt noch mal Dada macht, und wenn ihr jetzt noch mal Surrealismus macht”, denn das bloße Nachahmen und Wiederholen, das ist nicht sehr produktiv. Da war auch schon ein polemischer Aspekt drin, also irgendwie auch schon 30 oder 40 Jahre vor der sogenannten Postmoderne, also die Vorstellung, daß wir mit dieser Moderne nicht mehr gleichzeitig sind.
- Kluge
- Das nennen Sie “schlechte Avantgarde”, was dann jetzt hier sozusagen improvisiert im Niemandsland… Dann wäre es besser, das Museum noch einmal zu besuchen.
- Enzensberger
- Ja, denke ich auch. Ich meine, das private Programm ist auch ganz klar, daß man dann als… in diesem Anfängerstadium sucht man danach, was…
- Kluge
- Wo sind die Eideshelfer?
- Enzensberger
- …ja, wo sind die Verbündeten.
- Kluge
- Die Schiffsversammlung bei Athen ist der Anfang der Ilias und besteht aus der Aufzählung von Schiffen.
- Enzensberger
- Ja, ja.
- Kluge
- Und so ähnlich geht es hier, die schönsten und Lieblingsschiffe, die Sie haben. Sie haben ein breites Kapitel über das Meer. Wie kommt das?
- Enzensberger
- Das weiß ich nicht, das ist halt eine Urmetapher, die immer noch sehr produktiv ist. Es ist immer über das Meer sehr viel gedichtet worden. Ich selbst habe gar keine so starke Beziehung zum Meer, ich weiß gar nicht wie das zustande kommt, aber das ist aus dem Material. Ich bin selbst sogar wasserscheu. Das Meer ist ja unter anderem auch ein Feind. Seeleute gehen auch nicht gern ins Wasser.
- Kluge
- Es beschäftigt Sie ganz intensiv.
- Enzensberger
- Ja, ja, sicher.
- Text
- Was ist Ihr LIEBLINGS-GEDICHT im Museum für moderne Poesie?
- Kluge
- Das Kapitel von Gedichten über das Meer scheint mit eines der schönsten Ihrer Sammlung und der Menge nach ist dieser Teil der Längste.
- Enzensberger
- Ach ja… das ist ja interessant.
- Enzensberger
- Es gibt diesen peruanischen Dichter, der damals in Deutschland unbekannt war und der mir unglaublichen Eindruck gemacht hat. Er heißt César Vallejo, Peruaner, der dann im Spanischen Bürgerkrieg eine Rolle gespielt hat und in Paris… Man kann fast sagen, Hungers gestorben ist. Ein ganz merkwürdiger Mann, halb Indio außerdem. Der schreibt hier ein Gedicht, es heißt: “Himmel und Staub” und das ist so ein “Jedermanns-Gedicht”. Es ist ein Gedicht, das eigentlich nicht von einer besonderen Person handelt, sondern mit dem sich jeder identifizieren kann. Es hat dann den Refrain: “Ich, der geboren ist und sonst nichts.” Es ist eine Aufzählung von Sachen, also: Wer hat keinen blauen Anzug im Schrank? Er fragt immer so.
- Text
- CÉSAR VALLEJO - HIMMEL UND STAUB
- Enzensberger
- Und jeder, der das liest, muss eigentlich gestehen… Wer nimmt kein Frühstück…
- Text
- Wer hat keinen blauen Anzug im Schrank?
- Enzensberger
- …also muss eigentlich jeder gestehen “ich auch!”.
- Text
- Wer nimmt kein Frühstück
- Enzensberger
- Darauf läuft das dann hinaus…
- Text
- und keine Trambahn,
- Enzensberger
- …und das Ganze endet dann aber doch in einer Klage…
- Text
- die ewige Zigarette im Mund,
- Enzensberger
- …und es endet mit der Klage: „Ach ich, der geboren ist, einzig und allein und sonst nichts“.
- Text
- in der Brieftasche seinen Gram?
- Text
- Ich, der geboren ist
- Text
- und sonst nichts !
- Text
- Ich, der geboren ist und sonst nichts !/
- Text
- Wer schreibt nicht dann und wann einen Brief ?
- Text
- Wer hat keine dringende Sache im Kopf
- Text
- und stirbt nicht aus Gewohnheit,
- Text
- heulend vor dem was er hört ?
- Text
- Ich, der einzig und allein geboren ist !
- Text
- Ich, der einzig und allein geboren ist !/
- Text
- Wer heißt nicht Carlos
- Text
- Oder sonstwie sonstwie ?
- Text
- Wer nennt die Katze
- Text
- anders als Katze Katze ?
- Text
- Ach, ich ! der geboren ist einzig und allein
- Text
- und sonst nichts !
- Text
- Ach, ich ! der geboren ist einzig und allein
- Text
- und sonst nichts !/
- Kluge
- Der Max Horkheimer hat einmal gesagt, “Ich bin ich, weil ich davon absehen kann, daß ich ich bin”.
- Enzensberger
- Ja.
- Kluge
- Das ist sozusagen eine eigenartige Wechselwirkung…
- Enzensberger
- Ja, das ist sehr schön, ja.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Schriftsteller
- Kluge
- …daß ich mit dem bloßen Narzissmus eigentlich wieder ummauert bin.
- Enzensberger
- Natürlich, das ist eine sehr gefährliche Berufskrankheit…
- Kluge
- Der Poet, der es mit Kraft macht, oder der Schriftsteller, der es mit Egozentrismus macht…
- Enzensberger
- Das hat mit seiner Produktionstätigkeit zu tun, weil er ja isoliert arbeitet. Er sitzt an einem Tisch so vor sich hin und dann kommt die Außenwelt, wenn er zur Kenntnis genommen wird, bestärkt sie ihn sogar noch darin, weil die Leute aus irgendwelchen Gründen, die ich nicht begreife, gerne echte oder falsche Genies haben. Und das übt einen gewissen Druck auf diesen armen Menschen aus und am Schluß glaubt er vielleicht selbst daran, sehr gefährlich. Ich glaube, ein Gegengift ist dann auch, was ich nenne “die Tätigkeit zur linken Hand”. Man hat ja zwei Hände und die rechte ist sozusagen die Schreibhand, aber mit der linken kann ich doch auch allerhand machen und daher diese Lust, die mir gegeben ist, mich in andere Sachen einzumischen. Also man macht dann was mit anderen zusammen, sei es eine Zeitschrift, oder man wird Verleger, man wird Übersetzer, man arbeitet mit jemandem zusammen. Denn es gibt ja Dinge, die man nicht allein machen kann. Das ist ein gewisser Ausgleich und vielleicht auch ein gewisser Schutz vor dieser Berufskrankheit, würde ich mal denken. Das gefällt mir halt, das erleichtert mich, denn sonst kann sich das immer weiter verengen, diese Asozialität, die mit der Arbeit verbunden ist. Das ist ja nur die halbe Sache.
- Kluge
- Also sozusagen das Stammeln und das in Zungen sprechen, das ist ein Kern der Poesie, aber nur einer?
- Enzensberger
- Ja, ja, sicher.
- Kluge
- Man muss sich eine poetische Natur wie einen Kreis von Gestirnen vorstellen, nicht wie eine Zentralsonne oder ein Schwarzes Loch, das alles ansaugt. Ist das richtig gedacht?
- Enzensberger
- Ja, ja das kann es auch geben. Wissen Sie, es ist ja so, wenn man über Literatur spricht, ist man ständig in Versuchung von sich auf andere zu schließen und ich will da nicht der Gesetzgeber von anderen sein…
- Enzensberger
- …die können machen was sie wollen, aber jeder muss eine Möglichkeit finden, wie er diesen absurden Beruf ausübt. Und ich brauche eben diesen Ausgleich, andere Spielflächen, Theater. Ich meine, ich habe nie viel mit dem Film zu tun gehabt, aber das sind arbeitsteilige Dinge.
- Text
- DIE FURIE des Verschwindens
- Kluge
- Es gibt ein Gedicht von Ihnen: “Die Furie des Verschwindens”, das ist auch Titel einer Sammlung.
- Enzensberger
- Ja.
- Kluge
- Was ist die Furie des Verschwindens? Das ist ein Begriff von Hegel. Der einzige philosophische Begriff, den ich bei Ihnen kenne.
- Enzensberger
- Das ist ein eher pessimistischer Text.
- Text
- DIE FURIE
Kluge. Auch was das “Ich” betrifft sehr pessimistisch.
- Text
- Sie sieht zu,
- Text
- wie es mehr wird,
- Enzensberger
- Auch darin verbirgt sich wahrscheinlich ein altes und ewiges Motiv der Poesie…
- Text
- verschwenderisch mehr,
- Text
- einfach alles, wir auch/
- Enzensberger
- …was man früher die Vergänglichkeit nannte, was aber eher theologisch gedacht ist…
- Text
- […] Wie der Mehrwert mehr wird,
- Enzensberger
- …während die Furie des Verschwindens ist etwas anderes…
- Text
- der Hunger auch;
- Enzensberger
- …das ist keine christliche Instanz, sondern…
- Text
- sieht einfach zu,
- Text
- mit ihrem Gesicht,
- Text
- das nichts sieht; nichts-sagend,
- Kluge
- Eine träge Ewigkeit, die wartet wie eine große Katze?
- Enzensberger
- Ja.
- Text
- kein Sterbenswort;
- Kluge
- Das ist ein sehr unheimliches Wesen.
- Enzensberger
- Unheimliches Wesen, natürlich, kommt ja auch aus der Antike und nicht aus der Theologie…
- Text
- denkt sich ihr Teil;
- Text
- Hoffnung, denkt sie,
- Enzensberger
- …und da sind noch ein paar Kafka-Zitate darin versteckt in diesem Text.
- Text
- unendlich viel Hoffnung
- Text
- nur nicht für euch;
- Text
- ihr, die nicht auf uns hört
- Text
- gehört alles, und sie erscheint
- Text
- nicht fürchterlich;
- Text
- sie erscheint nicht; ausdruckslos;
- Text
- sie ist gekommen; ist immer schon da;
- Text
- vor uns denkt sie; bleibt;
- Text
- ohne die Hand auszustrecken
- Text
- nach dem oder jenem,
- Text
- fällt ihr, was zunächst UNMERKLICH,
- Text
- dann schnell, rasend schnell fällt, zu;
- Text
- sie allein bleibt, ruhig,
- Text
- die Furie des Verschwindens /
- Enzensberger
- Nein, das ist noch aus einer Zeit, wo es nicht weiterging. Wissen Sie, in meinen Augen waren die 70er Jahre sehr schwer erträglich. Man sprach immer von der Stagnationsperiode in der Sowjetunion, aber Stagnation gibt es ja auch bei uns.
- Kluge
- Ging vorüber wie im Flug?
- Enzensberger
- Ein gewisser Stillstand. Über die 70er Jahre kann man nicht viel sagen, glaube ich, war eine Latenz, war eine Verlarvungszeit auch und dann eben Ende der 80er. Plötzlich setzte sich das alles dann wieder in Bewegung, auch neue Turbulenzen entstehen.
- Kluge
- In dem Katastrophenjahr ‘86 kommt im Dezember Ihre Theresia an.
- Enzensberger
- Ja.
- Kluge
- Das ist das Katastrophenjahr von Tschernobyl.
- Enzensberger
- Ja, das ist richtig.
- Kluge
- Die schützen Sie im Grunde.
- Enzensberger
- Ja.
- Enzensberger
- Trotz dieses Risikos war das kein schlechter Moment, weil ich denke, wir leben ja nicht in Momenten der Stagnation. Dies ist eine riskante Periode in der man ist, aber es ist doch alles besser als diese verschnarchte Gleichmäßigkeit, die ganz aussichtslos irgendwie auch ist, wo alles immer nur so weitergeht. Also mir gefällt so etwas gar nicht und da sind wir heute besser dran mit allen Risiken, die das in sich birgt…
- Kluge
- Wie lange gehen die Enzensbergers zurück? Wie lange können Sie Ihre Vorfahren zurückverfolgen?
- Enzensberger
- Och, das sind alles Leute vom Land, das ist keine alte, bürgerliche Familie. Das geht zurück bis zum Dreißigjährigen Krieg etwa und es gibt ja heute noch große Bauernhöfe da im Voralpenland, die diesen Namen führen.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Schriftsteller
- Enzensberger
- Daher kommt auch der Familienname, der ja von dieser Pflanze herkommt, vom Enzian. Das ist eine blaue Blume und früher waren die Berge blau davon.
- Kluge
- In den Bauernkriegen ist das der Bodensee-Haufen?
- Enzensberger
- Ja, ja, sicher.
- Kluge
- Sehr siegreich. Er wird durch einen Vertrag übertölpelt.
- Enzensberger
- Das stimmt, aber trotzdem, solche Revolten sind wohl selten ganz umsonst, denn das hatte eben auch die Folge, daß sich der Großgrundbesitz in diesen Teilen Deutschlands nie richtig hat durchsetzen können. Das lag sicher auch an dem Widerstand der Bauern, also irgendwie hat es dann die Herrschaften doch beeindruckt und man hatte an den Besitzverhältnissen eigentlich wenig rühren können. Es gab zwar immer einen Bischof und einen Zehnten und so etwas. Es waren meistens geistliche Herrschaften dort, Bistum Augsburg, Erzstift soundso, die Fugger waren drin. Es war ein richtiger “Fleckerlteppich” diese Gegend da. Aber gut, eine ganz klassische Geschichte. Bauern, Handwerker, dann wurde studiert. Eine klassische Sozialisationsgeschichte.
- Kluge
- “Der fliegende Robert”, das ist eine andere poetische Fassung, die kommt mir weltlicher vor, als…
- Enzensberger
- Das ist ja auch eine Kindersache. Der fliegende Robert ist dieses Kind aus dem Struwwelpeter, dem man immer sagt “bleib schön zu Hause, draußen ist schlechtes Wetter und es ist ein Risiko, bleib lieber da wo du sicher bist”…
- Text
- Der Fliegende Robert /
- Text
- Eskapismus, ruft ihr mir zu,
- Enzensberger
- …und dann geht dieser Robert aber trotzdem raus und hat einen Regenschirm dabei, weil es regnet und dann fliegt er davon…
- Text
- vorwurfsvoll /
- Enzensberger
- …und das ist natürlich eine herrliche…
- Text
- was denn sonst, antworte ich,
- Enzensberger
- Der Hoffmann, der den Struwwelpeter schrieb… Die Texte sind ja sehr zweideutig, das sind Warnungen, aber auch Verlockungen,…
- Text
- bei diesem Sauwetter!-,
- Text
- spanne den Regenschirm auf
- Enzensberger
- …das heißt, die Verlockung ist eigentlich stärker als die Warnungen und…
- Text
- und erhebe mich in die Lüfte/
- Enzensberger
- …deswegen dieser Flug des Robert. Kinder denken oft, daß sie fliegen können…
- Text
- Von euch aus gesehen,
- Text
- werde ich immer kleiner und kleiner,
- Text
- bis ich verschwunden bin /
- Text
- Ich hinterlasse nichts weiter
- Text
- als eine Legende,
- Text
- mit der ihr Neidhammel,
- Text
- wenn es draußen stürmt,
- Text
- euren Kindern in den Ohren liegt,
- Text
- damit sie euch nicht davonfliegen /
- Enzensberger
- Und es ist sehr schön… es ist ein sehr starkes Motiv. Sich nicht abschrecken lassen von den Warnungen. Ich denke… ich habe eine private Unterscheidung von zwei Typen von Autoren, vielleicht ist das einschlägig. Ich unterscheide zwischen “Maulwürfen” und “Störchen”. Also der eine, Kafka zum Beispiel, der auch über Maulwürfe geschrieben hat, es gibt ein berühmtes Stück von ihm das heißt “Der Riesenmaulwurf”. Das ist ein völlig monomaner Künstler, der bei seiner Sache bleibt und der diesen äußerst kunstvollen Bau mit seiner ganzen Energie um jeden Preis fertigstellt.
- Kluge
- Der sich verbreitet… Der ein Netz schafft…
- Enzensberger
- Ja, das ist seine einzige Aufgabe. Während ein Storch… ein Schriftsteller als Storch, jemand ist, der seine Frösche dort und hier sucht. Mein Temperament ist mehr das des Storches, deswegen vielleicht auch ein gewisser Mangel an Konzentration, daß man sich hier und dort viele Spielplätze sucht. Das ist ein bisschen etwas anderes und als Kind entspricht dem dann vielleicht dieser fliegende Robert.
- Text
- Der Genosse BARTLEBY
- Enzensberger
- Das ist der Genosse Bartleby. Bartleby ist eine Figur aus einer Geschichte von Melville. Das ist ein alter Schreiber, der dann plötzlich nicht mehr will und er sagt einfach immer wenn ihm sein Chef was sagt, ihm etwas befiehlt, er arbeitet in einer Kanzlei als Schreiber, der sagt dann einfach: “Ich möchte lieber nicht”. Und dieses “ich-möchte-lieber-nicht” ist unbesiegbar. Es stellt sich heraus, daß der auf keine Weise dazu zu bringen ist, das, was man für seine Pflicht hält, zu tun.
- Enzensberger
- [liest vor]
»Ich möchte lieber nicht«
So fängt es an, unscheinbar,
eines Morgens. Es ist ja nur
die Krawatte, was würgt,
der Kontoauszug; was stört, ist,
daß das einzige Tier,
das sich immerzu wäscht,
sich immerzu waschen muss;
auch die unermüdliche Dummheit
da draußen ist es,
der unbesiegbare Krach,
was es zermürbt, das einzige Tier,
das sich feiern läßt,
nicht dafür, daß es geboren ist,
einmal im Jahr, nein, dafür,
daß es Tag für Tag wieder aufsteht,
rätselhaft, bis zur Rente.
Es bleibt nicht liegen.
Gegen die größeren Nackenschläge
sträubt es sich, meutert
gegen den Hunger. Der Hunger
möchte, möchte. Er
macht die Knochen leicht.
Nein, die Erleuchtung
kommt nach dem Essen.
Apathische Anfälle,
die wiederkehren mit siebzehn,
wie die Grippe, mit siebenunddreißig,
- mit achtzig, immer von neuem
»Ich möchte lieber nicht. «"
Zu müde, um das Messer
in die Hand zu nehmen.
Ein paar Tage lang
mit dem Kopf zur Wand,
oder drei Wochen, dann,
mit wankenden Knien
der erste Gang zum Waschbecken,
zum Kleiderschrank, zurück
zu den ewigen Werbespots
für Mord und Totschlag."
- Kluge
- Das ist Ihre Antwort jetzt, dieses Gedicht, weil es einfach eine Formspur ist.
- Enzensberger
- Ja, ja, ja. Also das ist auch dieses… “Jeder hat diese Krawatte, jeder hat diesen”… das ist auch so ein “Jedermannsgedicht”. Es passiert jedem, daß er einfach mal nicht mehr möchte. Er möchte lieber nicht.
- Kluge
- Was nennen Sie ein “Jedermannsgedicht”?
- Enzensberger
- Das ist eine Einladung zur Projektion, das heißt es funktioniert wie eine Falle. Der Leser gerät in die Falle, indem er es nicht so lesen kann, als wenn es von jemand anderem handeln würde. Es bezieht sich auf ihn selbst.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Schriftsteller
- Enzensberger
- Er kann dem kaum entkommen, denn er wäscht sich auch, er feiert auch Geburtstage. Alles das trifft auf ihn auch zu.
- Kluge
- Jedermannsgedichte. Und der Gegenpol wäre ein Rätsel, sozusagen etwas Fremdes?
- Enzensberger
- Ja, oder es gibt ja auch autobiographische Sachen, wo einer eben nur von seinen eigenen Geschichten erzählt und wo der andere dann sagt, “ja gut, das mag so sein, aber da bin ich ausgeschlossen.”
- Kluge
- Es gibt in der Antike die Stoa. Die besseren Elemente davon finden sich dann bei Montaigne noch einmal auf der Relaisstation zu uns gespiegelt. Sie haben das ja herausgegeben, das dicke Buch.
- Enzensberger
- Ja, ja.
- Kluge
- Wie verhalten sich diese Tugendlehren, Ataraxia, die unerschütterliche Ruhe, die Geduld, „ich trage einen Brustpanzer gegen das Schicksal“. Sind das Dinge, die Ihnen vertraut sind?
- Enzensberger
- Doch… und hilfreich. Eigentlich entwickelt man das vielleicht auch nicht. Die Bücher sind dann gut. Oft sind das ja eher Wiederentdeckungen, das heißt, das Schöne daran ist, so halb entwickelt man ja solche Methoden selbst, spontan, naturwüchsig möchte ich fast sagen. Also das Kind, das zum Beispiel… ich kann mich daran erinnern, als es kein Heizöl gab nach dem Krieg oder während des Krieges saß man im Kalten, es war Winter und es war einfach kalt. Und die Übung bestand darin als Kind, das hat man sich ja selbst ausgedacht, man greift an die Heizung und spürt, daß die Heizung heiß ist. Man kann sich das so suggerieren, starke Kälte hat ja auch eine gewisse Ähnlichkeit auf der Haut wie Hitze. Es ist ein merkwürdiges Ding. Und ich konnte mich durch eine Art autogenes Training, selbst erfunden, davon überzeugen, daß es gar nicht so kalt ist. Das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einer stoischen Übung und wenn man dann später auf eine Tradition trifft, die das formulieren kann, dann ist das natürlich wunderbar und bestärkt einen in solchen Übungen. Ich möchte es einmal Übungen nennen, denn es ist ja vielleicht keine Weltanschauung, es sind aber Übungen. Tugend ist ja eine Übung.
- Kluge
- Und die Sammlung solcher Übungen, die sind etwas, was Sie schon spannend finden? Wenn Sie einmal Ihr Verhältnis zu Montaigne beschreiben. Er ist ja ein Mann, der Bürgerkriege, Religionskriege beenden geholfen hat. Ein hochzivilierter Mann.
- Enzensberger
- Und eigentlich nicht darauf hereingefallen ist. Der hat sich ja nicht einfach irgendjemandem angeschlossen, das ist auch ein Teil seiner Übung und solche Sachen, die sind in unseren Traditionen latent vorhanden. Die meisten Leute wissen wenig davon, wir sind ein bisschen privilegiert, wenn wir uns dessen vergewissern können. Aber die Regungen selbst, diese Übungen selbst, entstehen, glaube ich, immer wieder von neuem. Ein Kind entwickelt merkwürdige Strategien dem Leben gegenüber, den Zumutungen gegenüber. Entwickelt eigene Strategien, die werden nur besser artikuliert und verständlicher gemacht und stellen dann auch einen Zusammenhang zwischen den Menschen her, weil es dann nicht mehr nur mein eigener merkwürdiger Trip ist. Als Kind denkt man ja: Nur ich bin so, die anderen verstehen das nicht. Aber die Gesellschaft, in die man nun gerät, enthält dann, wenigstens spurenweise, diese Momente noch als Zusammenhang. Man findet Freunde, die das auch können und das stärkt, das ist ein Überlebensmittel. Diese ganzen Sachen benötigt man, es ist gar nicht so sehr eine moralische Forderung, die Tugend, es ist auch eine Überlebenstechnik.
- Kluge
- Und das heißt, ein Kommentar zur praktischen Lebensführung, Kommentare zu Notfällen, Kommentare für meine Tochter, wenn ich nicht mehr da bin. Das sind alles Produkte, von denen Sie sagen, das wäre eines Poeten wert?
- Enzensberger
- Sicher, absolut, natürlich, klar. Mein neues Buch hat einen etwas paradoxen Titel. Ich habe ein neues Gedichtbuch, das im Sommer erscheint und es trägt den Titel: “Leichter als Luft”. Da haben wir wieder diesen Flugtraum, aber der Untertitel lautet: “Moralische Gedichte”. Manche Leute werden das widersprüchlich finden, nur weil sie unter Moral eine Art von Predigt verstehen, aber ich sehe das nicht so.
- Kluge
- Nein… das ist die falsche Form.
- Enzensberger
- Ja, ja. Ich sehe das nicht so. Die handeln doch auch, zu einem gewissen Teil wenigstens, von Verhaltensmöglichkeiten. Das hat mit Predigen nichts zu tun, ich will ja niemandem einreden was er tun und lassen soll, darum geht es nicht.
- Text
- Empfindung VON ZEIT
- Kluge
- Wenn Sie sagen müßten, was Ihnen eine völlig fremde Zeit ist, was würden Sie da sagen?
- Enzensberger
- Ja… Also wenn man die historische Zeit meint, dann ist das so eine Sache… Man kann sich in eine vergangene Zeit so weit rein begeben wie in einen Handschuh und das hängt jetzt von Kenntnissen, Identifikationen, von allen möglichen Faktoren ab, kulturellen Faktoren auch. Wie weit kann man da vordringen? Und ich stelle fest, daß ich eigentlich nur bis ins 18. Jahrhundert wirklich vordringe, wo ich ein Gefühl von innen habe. Andere Zeiten, ältere Zeiten kann ich eigentlich nur von außen wahrnehmen. Das ist ein großer Unterschied. Es gibt ja Leute aus dem 18.Jahrhundert, die sind ein bisschen wie eine Familie, die kennt man, man kann erraten welche Regungen da vorhanden sind, es ist die Psyche nicht total fremd, nicht exotisch. Da ist man noch in irgendeiner Weise zu Hause. Je weiter man zurückgeht, desto mehr wird es eigentlich ein äußerliches Studium. Man kann dann die Quellen studieren, man kann die Werke betrachten, es ist ja noch etwas da, aber man hat kein Gefühl von innen.
- Kluge
- Man wundert sich mehr?
- Enzensberger
- Ja, ja. Also man merkt natürlich auch, daß das, worin man selbst lebt, diese Zivilisation, offenbar nicht das Maß aller Dinge ist. In China sehe ich etwas und man steht wie der “Ochs vorm Berg”. Und es ist auch ganz klar, daß selbst Leute, die ein ganzes Leben daran verwenden das zu verstehen, da gibt es offensichtlich auch eine Grenze.
- Kluge
- Und was wäre jetzt außer dem 18. Jahrhundert eine nahe Zeit für Sie?
- Enzensberger
- Ich weiß nicht, das reicht. Bis dahin gibt es eine Art Kontinuum mit störenden Sachen natürlich auch. Es ist ja nicht so, daß man diese Vergangenheit in irgendeiner Form glorifiziert, so ist das nicht. Man hat sogar das Gefühl des Unangenehmen in diesem Handschuh, also der Gestank oder die terroristischen sozialen Verhältnisse, die Frage der Geburten, als was man geboren ist und so. Also es hat nichts damit zu tun mit dem Lob auf die guten alten Zeiten.
- Kluge
- Wenn Sie einmal 1946 nehmen, da sind Sie, glaube ich, in Nürnberg. Das ist damals eine zerstörte Stadt.
- Enzensberger
- Ja, das ist dann eine andere Zeit, das ist ja schon erlebte Zeit. Das ist nicht dieser Rückgriff in irgendetwas, das andere erlebt haben, sondern es ist die eigene Haut und das ist ja noch etwas anderes als ein Handschuh.
- Kluge
- Waren Sie schon einmal wieder in Nürnberg?
- Enzensberger
- Ja, ja. Ich komme manchmal hin. Ich habe zwar keine Verwandten mehr dort. Doch, doch die Stadt ist ja ein merkwürdiger Ort.
- Kluge
- Ist das für Sie so wie ein Zeitraffer, also wenn Sie sich jetzt das Zertrümmerte vorstellen, das Wiederaufgebaute?
- Enzensberger
- Ja, ja. Das war ja ganz früher einmal eine sehr glanzvolle Stadt, dann ist sie heruntergekommen. Dann wurde sie proletarisiert durch die Industrialisierung und gerade durch die Erhaltung dieser mittelalterlichen Form war es auch sehr unhygienisch, sehr schmutzig, sehr eng. Große Teile der Altstadt waren vor der Zerstörung slumartig mit engen Hühnerstiegen, schiefen Dächern, mangelhaften sanitären Bedingungen und so weiter. Also auch da, so glorios war das nicht, das war eigentlich eine Stadt schon im Abstieg und mit großer Enge, daher vielleicht auch die politische Radikalisierung in der Stadt. Das war ja kein Zufall, daß Nürnberg zur Stadt für den Reichsparteitag erwählt worden ist, denn es hatte eine sehr starke Wählerschaft und eine riesige Vorgeschichte. Die Nürnberger haben schon im Hochmittelalter die Juden vertrieben, die sich dann in einer zweiten Stadt ganz in der Nähe angesiedelt haben, nämlich in Fürth. Dort hatten sie bessere Bedingungen…
- Kluge
- Wo Kissinger herkommt?
- Enzensberger
- Ja, ja. Wo Kissinger herkommt und wo es heute noch eine Spiegelfabrik gibt, weil die waren Spiegelmacher, das hat mit Gold zu tun, mit Silber, die waren reiche Leute, die Juden von Fürth.
- Kluge
- Und diese ganze Welt wird planiert durch Bombenangriffe, die schon sehr exzessiv waren. Offenbar brannte so etwas Altgebautes sehr rasch.
- Enzensberger
- Doch, doch. Das war ein richtiger Feuersturm, das hat sehr gut gebrannt, diese alten Dachstühle.
- Kluge
- Und für Ihre Haut sozusagen…
- Enzensberger
- Ich habe den schlimmsten Angriff gar nicht selbst erlebt, die Familie wurde dann evakuiert, 1943, aber die ersten Angriffe waren auch schon so, daß eben der Himmel rot war und das Haus gegenüber -man kam aus dem Keller- war nicht mehr da. Also das war schon eindrucksvoll. Wenngleich ich sagen muss, ich habe ja den Verdacht, daß Kinder so etwas anders erleben als Erwachsene aus verschiedenen Gründen. Zum einen haben solche Katastrophenereignisse zur Folge, daß die Autoritäten auch zertrümmert sind, also die Schule, die Erwachsenen-Autorität…
- Kluge
- Nicht aber die der Schutzpersonen, der Glaube an Schutzengel, also die “Nähe-Schicht” schützt einen. Man glaubt ja nicht, daß die Bombe einen selber trifft.
- Enzensberger
- Nein, nein. Das sind zunächst immer die anderen. Und das Schöne an einem brennenden Haus ist, daß es nicht das eigene Haus ist…
- Kluge
- Das war aufregend?
- Enzensberger
- …aber das Schauspiel ist für Kinder äußerst eindrucksvoll und hat etwas Unwiderstehliches, auch Erwachsene sind da nicht gefeit, man sieht ja die Zuschauer immer. Bei jeder Katastrophe gibt es Zuschauer.
- Text
- TRÄGHEIT der Automaten
- Kluge
- Von Turings Automaten und der perfekten Maschine dieses Erfinders sagen Sie einmal, sie sei träge. Wenn in diese Maschinen alles gewissermaßen hinein gebaut ist, was es an Fähigkeiten gibt, der universale Automat, der globalisierte, automatisierte, sozusagen schärfer reagierend als die Weltbörsen, alle zusammen. Da sagen Sie, der wäre aber träge.
- Enzensberger
- Naja, die Turingmaschine ist eine Maschine, die auch unendliche Prozesse schluckt und verarbeitet und das ist wie mit Achilles und der Schildkröte ein bisschen. Also ganz egal wie schnell die Maschine ist, ihr Programm, da es potentiell und endlos ist, dauert es natürlich auch endlos lange, bis sie das mahlt. Das ist ja sozusagen wie eine feine Mühle, die das kleinmahlt in Bits, in digitale Entscheidungen. Deswegen auch dieses monströse Geschwindigkeitswachstum der Computer. Eine Wettervorhersage geht langsamer als das Wetter im Grunde. Das heißt ich kann eine Prognose im Grunde immer nur vielleicht für den nächsten Tag mit einiger Präzision machen und die Datenmenge, die dann kommt, wenn ich eine Prognose für einen Monat machen will, ist so groß, daß sie die Möglichkeiten selbst des schnellsten Computers sprengt, da sind zu viele Variablen drin.
- Kluge
- Wenn Sie ein Lob der Trägheit einmal anstimmen sollten, wie würden Sie das machen? Es würde mich interessieren, wie sich diese Maschine zum Beispiel zur Wettermaschine, die Sie nannten… zur Fähigkeit dieses Planeten, Sand in Form von Meeren so zu mahlen, daß Strände herauskommen… Also wie lange dauert so etwas?
- Enzensberger
- Ja, also diese kosmische Zeit ist ja sowieso sehr merkwürdig, die hätte mit unserer Zeit wenig gemeinsam.
- Kluge
- Und die wäre träge?
- Enzensberger
- Zum einen ist sie unendlich geduldig. Diese kosmischen Prozesse haben, gemessen an unserer Zeitskala, natürlich eine Geduld, die unser Vorstellungsvermögen bei weitem überschreitet. Wenn Sie zum Beispiel so eine Wüste sehen, die Ornamente der Wüste, also was da entsteht an…, das sind ganz raffinierte Figuren, die da entstehen, eine wahnsinnige Geometrie, die eigentlich unseren Ornamenten überlegen ist, aber die Zeiträume, in denen das passiert…
- Kluge
- …sind sehr langsam.
- Enzensberger
- Die Natur ist eine sehr langsame Künstlerin mit einer unbeschreiblichen Geduld. Ob das jetzt hunderttausend oder eine Million Jahre sind, das spielt gar keine Rolle und wir mit unserer Lebensspanne sind dagegen natürlich völlige Eintagsfliegen und deswegen die Beschleunigung, deswegen haben wir es so eilig, weil unsere Zeit so bemessen ist, deswegen diese Hektik.
- Kluge
- Hitler glaubte das Jahr 1943 nicht mehr zu erreichen, deswegen muss 1939 angegriffen werden. Napoleon hat keine Zeit, er muss Russland erobern, von da aus Indien, er hat keine Lebenszeit dafür.
- Enzensberger
- Es ist natürlich auch etwas Irres an diesem Tempo.
- Kluge
- Ja.
- Enzensberger
- Und mit der Beschleunigung steigt ja auch das Risiko.
- Kluge
- Sie persönlich brauchen aber eine gewisse Beschleunigung oder den Eindruck von Beschleunigung als Genussmittel…
- Enzensberger
- Ja, ich denke, schön ist an diesem, soweit man das beherrschen kann… zum Teil spielt ja das Unbewusste da auch eine Rolle, aber soweit man das beherrschen kann… Ich liebe dann die Abwechslung.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Schriftsteller
- Enzensberger
- Ich liebe dann die Zeit einer vielleicht gesteigerten Produktion oder Produktivität und dann gefällt es mir zu trödeln. Der Workaholic muss das Trödeln trainieren, sonst wird er verrückt. Also er muss sich zurücklehnen, muss die Arme fallen lassen und muss trödeln, sich die Zeit vertreiben. Und das ist ja sehr schön. Ich habe auch gar nichts gegen eine kleine Depression, weil die dabei sehr nützlich ist. In der Depression läßt man ja die Arme sinken und das ist sehr gut, es regeneriert.
- Kluge
- Aber mit dem Gefühl, daß da eine Strömung ist…
- Enzensberger
- Ja natürlich… Irgendetwas arbeiten ja trotzdem weiter, der Körper arbeitet weiter, das Herz pumpt, im Gehirn entstehen wahrscheinlich auch irgendwelche Ströme, nur ich bin nicht der Antreiber. Ich bin der Saboteur meiner Selbst, es ist einfach notwendig. Manche Leute nennen das vielleicht Urlaub oder Erholung. Urlaub passt mir nicht, aber trödeln passt mir.
- Kluge
- Das verbindet sich aber mit Arbeit, sozusagen in den Lücken des Trödelns?
- Enzensberger
- Hinter dem eigenen Rücken passieren dann schon Sachen und wenn man an etwas obsessiv dran ist, das kann man ja nie ganz stilllegen. Also das arbeitet wahrscheinlich unter der Decke weiter und nach 14 Tagen, wenn man aus dem Trödelstadium wieder herauskommt, stellt sich heraus, daß vielleicht die eine oder andere Lösung sich inzwischen eingestellt hat einfach. Das ist ja auch ganz schön.
- Kluge
- Ich hab Sie zum erstenmal gesehen, da habe ich Sie nicht wirklich gesehen, sondern Adorno hat mir gezeigt von dem Fenster in seiner Wohnung: “da drüben wohnt Enzensberger”, das muss 1960 gewesen sein.
- Enzensberger
- Ja
- Kluge
- Das ist der einzige, der dichten kann, sagte Adorno. Adorno hielt ja nach Proust Dichter im Allgemeinen für überflüssig.
- Enzensberger
- Er hielt nicht viel davon, ja.
- Kluge
- Er fand sonst keinen Dichter der Gruppe 47 beachtenswert, meinte aber, daß Sie in der Lage wären, adäquat, also philosophiegerecht, zu dichten und zeigte das sehr aufmerksam und beschrieb “jetzt sind Sie nicht zu sehen, aber manchmal sind Sie dort zu sehen”. Das ist meine erste Begegnung mit Ihnen.
- Enzensberger
- Das Schöne daran ist natürlich, mir gegenüber hätte Adorno so etwas nie angedeutet. Er war ja…
- Kluge
- …streng…
- Enzensberger
- …von dieser chinesischen Höflichkeit und Diskretion.
- Text
- Th. W. Adorno, Frankfurter Kritische Theorie
- Enzensberger
- Und die Annäherung an Adorno war ja gar nicht so einfach, denn er hatte so viele Schutzhüllen um sich herum und deswegen hatte der Umgang mit ihm immer etwas fast Zeremonielles. Ich war oft bei ihm, wir waren Nachbarn und ich hatte ja auch im Verlag mit seinen Arbeiten ein bisschen zu tun, das heißt, wir haben uns oft gesehen, aber diese Distanz wurde immer eingehalten. Das fand ich eigentlich sehr schön.
- Kluge
- Beschreiben Sie mal, wie Sie das empfunden haben. Wenn Sie sich noch einmal hineinversetzen in 1960.
- Enzensberger
- Naja, ich meine, man war natürlich immer ein bisschen Adorno gegenüber der Dummkopf, denn er war von einer monströsen Gescheitheit, der Mann. Er war ja unfähig zum Beispiel einen unvollkommenen syntaktisch groben Satz zu äußern, das war alles druckreif. Das hat natürlich auch etwas Einschüchterndes, aber mir hat es auch gefallen. Die meisten Philosophen sind ja ästhetisch oft ein bisschen farbenblind, die schreiben dann schlecht, das kann man schwer lesen, was sie schreiben und Adorno hatte natürlich eine starke Sensibilität, er war Komponist, er hatte ein großes Interesse an der Kunst.
- Kluge
- Er hatte ein musikalisches Verhältnis zur Kunst.
- Enzensberger
- Ja, seine ganze Theorie hatte auch damit etwas zu tun und für jemanden, der selbst literarisch zum Beispiel arbeitet, hat das eine hohe Anziehungskraft. Es hat etwas Faszinierendes, wie dieser Mann so scheinbar mühelos produzieren konnte.
- Kluge
- Sie traten der übrigen Welt wenig verehrend gegenüber, also Sie galten als frech. Sie griffen ziemlich umfassend an.
- Enzensberger
- Das hatte etwas mit der Situation zu tun.
- Kluge
- Der Spiegel wurde fertig gemacht, die Frankfurter Allgemeine Zeitung wurde darauf aufmerksam gemacht, daß sie Fälschung betreibt.
- Enzensberger
- Das ist keine… Es waren nie Provokationen, sondern ich hatte halt das Bedürfnis festzustellen, was der Fall ist. Das heißt, die polemische Note darin ergibt sich ja nur aus dem Gegenstand. Die ergibt sich nicht daraus, daß ich irgendjemanden schockieren, ärgern, aufregen oder provozieren will. Das ist gar nicht der Grund.
- Text
- ICH BIN DER SABOTEUR MEINER DEPRESSIONEN / Hans Magnus Enzensberger über: Maulwürfe und Störche in der Dichtkunst
- Text
- Anlässlich der Ausgabe der Zeitschrift du Heft Nr. 669: Hans Magnus Enzensberger / Der Raum des Intelektuellen
- Enzensberger
- Im Gegenteil, ich war ja oft erstaunt darüber, wie beleidigt die Leute sind, wenn ich versuche etwas festzustellen, zum Beispiel dieses Objekt ist viereckig. Ich meine das ist doch keine Beleidigung, sondern man stellt halt fest, daß es so ist oder versucht es jedenfalls.
- Kluge
- Die FAZ schrieb, um Sie zu widerlegen, etwa 800 Zeilen. Sie haben, glaube ich, in sieben Zeilen darauf geantwortet.
- Enzensberger
- Ja, das mag schon sein. Wissen Sie, das war die frühe Bundesrepublik…