Die Welt der Enzyklopädie: Dr. Manfred Osten

Transkript: Die Welt der Enzyklopädie: Dr. Manfred Osten

Die Welt der Encyclopédie

Text
Eine VERSAMMLUNG DES MENSCHLICHEN WISSENS war der Ansatz der ENCYCLOPÉDIE, an der die besten Geister Frankreichs jahrelang schrieben /
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Denis Diderot
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Die Stichworte sind noch heute von größter Aktualität / Die Andere Bibliothek publizierte eine Auswahl der wichtigsten Beiträge mit Kommentaren moderner Autoren / Dr. Manfred Osten und Hans Magnus Enzensberger berichten - -
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DIE WELT DER ENCYCLOPÉDIE / Dr. Manfred Osten und Hans Magnus Enzensberger über die berühmteste Plattform der Aufklärung
Alexander Kluge
Es gibt hier ein dickes Buch von Diderot und anderen – die Enzyklopädie. Was ist das?
Dr. Manfred Osten
Das ist im Grunde die Versammlung des gesamten Wissens der Welt in einer Sammlung, die dieses Wissen aufbereitet hat für die Zeitgenossen.
Kluge
Ein kooperatives Werk. Im 18. Jahrhundert.
Osten
Ja. Es hat im Grunde eine pädagogische Bedeutung gehabt. Denn Diderot, die großen Enzyklopädisten haben mit dieser Enzyklopädie etwas verbunden, was wir eigentlich heute gar nicht mehr im Auge haben bei diesem Begriff. Nämlich etwas, was Diderot formuliert hat mit folgendem Satz: “Wahrhaftig, der Mensch tritt vor seine Zeitgenossen hin und sieht sich so, wie er ist; nämlich ein sonderbares Wesen, gemischt aus erhabenen Eigenschaften und beschämenden Schwächen.”
Text
Dr. Manfred Osten, Autor
Kluge
Und jetzt nehmen sie zu Stichworten, als Autoren… sie sin d ja Schriftsteller, im Wesentlichen; sie sind ja gleichzeitig Dichter und Philosophen, Naturwissenschaftler und so weiter, also eine bunte Mischung; d’Alembert spielt eine Rolle, Condorcet… Wenn du mal das Stichtwort “Langeweile” nimmst, was steht da?
Osten
Das Stichwort der Langeweile ist hier aufgenommen als ein Wort, mit dem gezeigt wird, dass dieser Begriff vor allen Dingen verbunden ist mit Erlebnisarmut und dadurch eine Dehnung der Zeit sich ereignet. Das heißt, hier haben wir also dieses Phänomen, das durchgängig ja ein Gegenstand überhaupt der Überlegungen der Menschheit gewesen ist, nämlich: Was ist die Zeit? Wie empfinden wir überhaupt Zeit? Und der Zeitegriff, wie wir wissen aus der Astrophysik, der Ewigkeit, wird ja verbunden mit jener Vorstellung des Endes der Welt in Gestalt von Nicht-mehr-Ereignen, einer Nicht-Abfolge von Ereignissen. Das heißt, wenn also die schwarzen Löcher schließlich in Gammastrahlung aufgelöst sind und sich nichts mehr ereignet in der totalen Finsternis, ist keine Zeit mehr. Denn die Zeit verbindet sich für uns mit einer Abfolge von Ereignissen, und wenn diese Ereignisse nicht mehr stattfinden in alle Ewigkeit, ist die Ewigkeit eigentlich da.
Kluge
Und jene Abbrechung von lebhafter Zeit, also gewohnter Zeit, Zeit, die angenehm verrinnt, wenn man zu mehreren Menschen zusammen ist, die ist zunächst störend; führt zu diesem ‘ennui’, der Langeweile; eine seltsame Art, sich unbehaglich zu fühlen. Dahinter steckt aber eine Tugend, nämlich mit langen Zeiten umgehen können.
Osten
Das ist ein großes Problem, vor dem sich die Klassik ja überhaupt gesehen hat. Goethe hat ja gesagt, “Was vertreibt die Zeit? Tätigkeit.” Das ist diese Vorstellung, dass wir letztlich die Zeit füllen müssen, erfüllen müssen. Und dieses ist wiederum das Rekurieren auf die Vorstellung, dass die eigentliche Erfülltheit der Zeit unmöglich ist durch Kairos – das heißt, dass wir die Zeit erfassen und das dauernde Ausweichen in die Vergangenheit und in die Zukunft lassen, sondern die Gegenwart als die höchste Göttin, als die größte Göttin verehren. Goethe hat ja gesagt, die einzige Göttin, die ich verehre, ist die Gegenwart.
Text
Was heißt Enzyklopädie
Osten
“Enzyklopädie. Dieses Wort bedeutet ‘Verknüpfung der Wissenschaften’. Es setzt sich zusammen aus der griechischen Präposition…
Kluge
…’en’…
Osten
… ‘en’, und den Substantiven…
Kluge
… ‘kyklos’…
Osten
… ‘kyklos’, ‘Kreis’. Das heißt, ‘Leere’, ‘Kunde’, ‘Kenntnis’. Tatsächlich zielt eine Enzyklopädie darauf ab, die auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse zu sammeln, das allgemeine System dieser Kenntnisse den Menschen darzulegen, damit die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos für die kommenden Jahrhunderte gewesen sei.” Das was hier gesagt wird, ist ja im Grunde die Aufgabe der Geisteswissenschaften, nämlich, das Gedächtnis der Menschheit zu bewahren. Und was wir heute erleben in der Moderne ist ja im Grunde das Problem, dass die Geisteswissenschaften dieses Amt letztlich abgegeben haben…
Text
“… damit wir nicht sterben, ohne uns um die Menschheit verdient gemacht zu haben”
Kluge
… an die Archivare der Naturwissenschaften.
Osten
So ist es. Das heißt, die Acceleration der Erkenntnisse und Ergebnisse der Naturwissenschaften eilt voraus, ohne dass die Geisteswissenschaften mit ihrem Bewertungsmonopol, das sie aufgrund des Gedächtnisses oder der Gedächtnisverwaltung haben, nachkommen können. Das heißt, wir stehen heute in einem Missverhältnis der Kenntnisse die wir haben über die Geschichte, und der Einsichten, die wir daraus gewonnen haben auf der Seite der Geisteswissenschaften, und der Unfähigkeit der Beurteilung der neuen Phänomene, die durch die Naturwissenschaften auf uns zukommen.
Kluge
Es wäre eigentlich so, wenn eine Abzweigung der Naturwissenschaft einen Fehler enthielt, zum Beispiel, jetzt nur noch Großforschung in Form von CERN, dann könnte man nicht zurückgehen zu der letzten Wegkreuzung, weil das Gedächtnis schon längst verloren ist. Das heißt, dieses Gedächtnis ist durch Karrieren und Institutsgründungen befestigt wie ein Pflasterstein. Es ist nicht wirklich möglich, einen Irrtum in der Entwicklung, in der Evolution der Naturwissenschaften nochmal zu korrigieren.
Osten
Das Problem besteht außerdem darin, dass die anamnetische Kultur, mit der diese Enzyklopädie als Grundvoraussetzung verbunden war, das heißt die Fähigkeit, diese Dinge überhaupt zu memorieren, verloren gegangen ist. Denn die anamnetische Kultur wird ja nicht mehr geübt. Die Memorierfähigkeit ist im Grunde ja aufgehoben durch die…
Text
Dr. Manfred Osten, Autor
Kluge
Wie soll die aber auch existieren? Ich meine, du kannst doch die Quantenphysik, die Entstehung der Quantenphysik, beispielsweise, oder die Lorenzschen Transformationsformeln, die kann doch kein einfacher Mensch aufsagen.
Osten
Das ist das eigentliche Problem, vor dem wir stehen. Das ist die eine Schwierigkeit der Unzugänglichkeit dieser Ergebnisse der Naturwissenschaften – die übrigens als letzter noch einmal versucht hat memorierfähig zu machen in Worten der Klassik und der Poesie Alexander von Humboldt im “Kosmos”… der “Kosmos” ist der letzte Versuch eines “public understanding of science and humanities”.
Kluge
“Kosmos” ist ein Riesnewerk, das er schrieb, er schrieb ja bis zu seinem Tod…
Osten
Das ist im Grunde der letzte Versuch, diese Ergebnisse, die wir heute nicht mehr memorieren, verstehen können, der Naturwissenschaften, einem allgemeinen…
Kluge
… Diskussionszusammenhang zu öffnen…
Osten
… zu öffnen und in einer enzyklopädischen Weise der Welt noch einmal zugänglich zu machen. Dieses hatte seinerzeit, nämlich in einer Zeit der anamnetischen Kultur des neunzehnten Jahrhunderts, mehr Auflagen erlebt als die Auflagen der Bibel. Das heißt, es hat eine Zeit gegeben, in der das Interesse für diese Inhalte, die wir heute nicht mehr verstehen und memorieren, noch so groß war, dass dieses also der absolute Bestseller gewesen ist in Europa; das heißt, in Deutschland. Heute noch findet man hier und da in alten bürgerlichen Wandschränken verstaubt diesen “Kosmos” liegen, der nie wieder weiter geführt worden ist, weil schon Humboldt selbst größte Schwierigkeiten hatte, die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zusammenzuholen. Er hat sich selber bezeichnet oder ist bezeichnet worden als die sogenannte “enzyklopädische Katze”. Das heißt, er ist im Grunde genommen derjenige gewesen, der noch einmal versucht hat, durch unendliches hin und her rennen und abfragen der Einzelwissenschaften dieses noch einmal, wie Goethe sagen würde, “palpabel”, genießbar zu machen für die Mitmenschen. Das heißt also, die eigentlichen Ängste der Moderne gegenüber den Naturwissenschaften resultieren aus diesem Abbrechen des Erklärungszusammenhangs, der damals noch einmal versucht worden ist.
Kluge
Das Interessante ist, dass jede naturwissenschaftliche Richtung inzwischen eine eigene Sprache hat.
Osten
Ja, das ist es. Ja.
Kluge
Also sie ist nicht mehr in eine allgemeine, verständige, diskursive Sprache, wie die Enzyklopädie hier in Frankreich das voraus setzt, zu übersetzen.
Osten
Hinzu kommt, dass die Sprache selbst nicht mehr das eigentliche Verständigungsmittel ist, denn die Kompliziertheit der naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse lässt sich praktisch nicht mehr transmittieren durch die Sprache, sondern nur durch das Experiment selber noch. Das heißt, wer heute…
Kluge
Und das äußert sich in Zeichen; in Aufzeichnungen, in Formeln…
Osten
Das heißt, das ist also ein Regress der Sprache auf das reine Experimentieren. Wir sind also, im Grunde befinden wir uns bereits, in den letzten Fortschritten der Naturwissenschaft heute, in einem Bereich, der jenseits der Sprache sich befindet. Das heißt, wir haben dieses Kommunikationsmittel, das hier noch die Enzyklopädisten vor sich hatten, längst verlassen, und bewegen uns in ein ganz neues Feld hinein, das mit der Sprache nichts mehr zu tun hat.
Text
Dolly, das Klon-Schaf
Kluge
Sie haben ja hier in der “Anderen Bibliothek” eine ganz wunderbare Ausgabe gemacht der Enzyklopädie. Was nennt man eine Enzyklopädie?
Hans Magnus Enzensberger
Ja, das waren diese Leute, die geglaubt haben, sie könnten alles noch einmal im Ganzen und von vorne und…
Kluge
… eine Leselandkarte der ganzen Welt, des Wissens der Welt, die Innereien der Welt.
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor & Herausgeber
Enzensberger
Ja, und die haben sich auch nicht nur mit Büchern begüngt, sondern die sind auch in die Werkstätten gegangen, und haben gesagt: ja wie geht das eigentlich zu, wenn jemand Seide spinnt, eine Seidenspinnerei; ein Webstuhl, wie sieht der aus? Das heißt, sie haben nicht nur ihre Theorien – die ja auch hier alle vorhanden sind, die Theologie angefangen, die Philosophie, ist alles da drin, sämtliche Wiessensgebiete –; und dann aber wird das konkretisiert, das hießt dann “arts et métiers”. Die Metiers wurden auch… Und das ist neu…
Kluge
“Kunst und Fertigkeit”…
Enzensberger
Ja, und das war neu damals, weil die Büchergelehrten wollten davon ja vorher ja eigentlich wenig wissen…
Kluge
… nichts wissen… praktisch…
Enzensberger
… das war der Handwerkerstand; damit haben wir nichts zu tun.
Kluge
Und hier ist zum ersten Mal das Denken und die Poesie aufs Praktische gerichtet und nach den Scharnieren Gedächtnis, Vernunft und Einbildungskraft…
Enzensberger
… Einbildungskraft, jaja, das ist schon sehr imponierend. Und davon ist uns ja doch ziemlich viel verloren gegangen. Denn heute riskiert ja niemand mehr solche Unternehmungen. Man sieht das an den Lexika, die immer schlechter geworden sind…
Kluge
Also sie brauchen für alle drei Poesie…
Enzensberger
Ja, das ist richtig. Es waren ja auch Autoren…
Kluge
Machkunst, Darstellungskunst. Also “poesis” heißt ja eigentlich nur: “machen”.
Enzensberger
Ja…
Kluge
‘ne Karte machen…
Enzensberger
Ja…
Kluge
‘ne Kenntnis machen. Ein Gefäß bauen.
Enzensberger
Na gut, das ist eine Auffassung von dem Ganzen. Ich meine, das ist ja auch ein merkwürdiges Gebilde, diese Vorstellung von Poesie ist ja fließend. Denn da gab es den “vates”, den Seher; der Dichter als Seher, als Visionär. Dann gab es diesen empirischen Dichter, der nahe an der Realität bleiben wollte; da gab es alles. Deswegen, ein Begriff von Poesie ist ja schwer zu machen. Ich meine, wenn Sie Hölderlin und Brecht vergleichen, das sind ja zwei ganz verschiedene Arten, an die Welt und an den Text heranzugehen.
Kluge
Was macht Hölderlin, beispielsweise?
Enzensberger
Ja Hölderlin war ja natürlich einer von den Sehern.
Kluge
Das heißt der Rhein geht auch, unter Umständen, in umgekehrter Flussrichtung…
Enzensberger
… ja sicher, die Garonne, was ist die Garonne…
Kluge
… ins Gebirge zurück, was ist die Garonne…
Enzensberger
Das ist ja auch ein Mythenerzeuger, ein Mythenwiederaufnehmer von der Antike her, von den Griechen, und…
Kluge
… und ob die Flüsse in uns sind…
Enzensberger
… ja, das sind ja natürlich ganz große Figuren, auch wenn heute kaum jemand diese… Ja, da ist auch ein Stückchen Anmaßung dabei, wir sind auch vielleicht ein bisschen zu bescheiden geworden.
Kluge
Aber es geht ja nicht verloren. Sie haben ein Gedicht gemacht über Kassandra, die ja auch eine Seherin ist.
Enzensberger
Ja natürlich, man wird es ja auch nie ganz los. Man kann zum Beispiel den Polytheismus nicht loswerden. Das ist ja auch interessant, ich meine, nach zweitausend Jahren Christentum sind…
Kluge
… nimmt der Aberglaube zu…
Enzensberger
… sind Mars und Venus immer noch genauso da. Also die alten Götter verschwinden auch nicht.
Kluge
Das ist die Seite dieser klassischen Poesie, und jetzt gibt es bei Brecht einen Modernismus. Das heißt, ich möchte auch etwas erfahren.
Enzensberger
Ich möchte Reibung haben. Ich möchte Reibung…
Kluge
… an den wirklichen Verhältnissen…
Enzensberger
… an den Verhältnissen.
Kluge
Eigentlich bin ich eine Sonderform des Detektivs.
Enzensberger
Ja, kann man sagen.
Kluge
Edgar Allan Poe schon…
Enzensberger
Ja sicher, die suchen… Und das drückt sich natürlich auch in der Sprache aus. Da gibt es eben, das ist auch eine ganz alte Kategorie, da gibt es – jetzt sind wir in einem ganz anderen Gespräch – den sublimen Stil, den erhabenen Stil, und den vulgären oder den normalen. Also in der Sprache gibt es diese Niveaus.
Kluge
Und den normalen, den anti-literarischen Stil, den brauch ich, wenn ich neue Eroberungen des Wissens machen will.
Enzensberger
Seit, man kann sagen, beginnend vielleicht mit der Aufklärung, aber erst im zwanzigsten Jahrhundert wirklich, wird ein Spiel mit diesen Sprachniveaus möglich. Auch in der Prosa; ich mein ein Mann wie, ein Autor wie Joyce, da haben Sie die Odyssee drin, da haben Sie die gesamte Literaturgeschichte drin, und zugleich ist es Alltag in Dublin, an einem Tag…
Kluge
… an einer Theke…
Enzensberger
… bis in die Bars; der Vertreter, Herr Bloom ist eigentlich ein Handelsvertreter, also das ist alles auf einem sehr “down-to-earth”, also auf einem sehr…
Kluge
… hoher Gesang und Geschwätz gleichzeitig…
Enzensberger
Ja. Und das ist natürlich eine sehr fruchtbare Sache. Also da ist ein Moment der Moderne, das man ungern aufgäbe.
Text
“Am 8. Mai, das war ein Ding/ Als die Titanic unterging - -”
Kluge
Sie haben einmal in einem Gedicht geschrieben: “Am 8. Mai, das war ein Ding/ Als die Titanic unterging”. Nun ist die nicht am 8. Mai untergegangen, sondern das deutsche Reich ging unter am 8. Mai. Sie wenden also sozusagen, also die Metapher besteht darin, dass sie “cross-mapping” machen, dass Sie zwei Landkarten, die den Untergang der Titanic und den Untergang eines großen Reichs übereinander legen…
Enzensberger
Aber diskret. Das wird nicht ausdrücklich gemacht; das kann man mithören, wenn man will. Es ist ja auch mit der Lektüre so eine Sache; jeder liest ja etwas anderes. Also ein und derselbe Text produziert in tausend Lesern tausend verschiedene Reaktionen, Echos. Der Resonanzboden ist verschieden.
Kluge
Was ist in dieser Welt eine Metapher und was wäre ein Menetekel? Menetekel ist ja ein großes Bild…
Enzensberger
… ein großes Bild, jaja…
Kluge
… das von den Göttern gesandt ist, an Herrscher zunächst.
Enzensberger
Ja gut, sowas kann sich auch einstellen, würde ich sagen. Ich glaube, man würde nicht gut daran tun, sowas absichtlich… also darauf hinzuzielen, es auszukalkulieren.
Kluge
Kann man ja wahrscheinlich auch nicht…
Enzensberger
Es muss sich eigentlich hinter dem Rücken des Schreibenden oder Sprechenden… muss sich das hinter dem Rücken herstellen. Und das ist ja auch eine interessante Sache, dass einem… deswegen ist das so ein tiefes Laster, das Schreiben, weil beim Schreiben entstehen einem Ideen, die man vorher überhaupt nicht hatte. Ich glaube, dass es sowieso sehr traurig ist, wenn jemand etwas schreibt, wo er von vornherein schon weiß, was dabei herauskommt.
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor & Herausgeber
Kluge
Das ist niemals Planwirtschaft…
Enzensberger
Das ist nicht gut. Das kann man in der Wissenschaft vielleicht, bis zu einem gewissen Grad… Obwohl auch dort das Unerwartete während der Arbeit erst wirklich zum Vorschein kommen kann. Also die Selbstüberraschung des Wissenschaftlers. Und sowas ist für die Literatur absolut notwendig. Wenn ich das nur runterschreibe nach diesem Rezept, dann überrasch ich mich nicht und kann damit auch niemand anderen überraschen. Dann ist es ja nur eine Routine. Also selbst bei einem Essay ist es schön, wenn man nicht von vornherein weiß, was da am Schluss dann alles zum Vorschein kommt.
Text
Der Artikel “GOTTLOS” / Von Diderot
Enzensberger
“Gottlos ist, wer einen Gott lästert, den er im Grunde seines Herzens verehrt. Man darf nicht den Ungläubigen und den Gottlosen verwechseln. Die Christen, die wissen, dass der Glaube die größte aller Gaben ist, müssen bei der Anwendung dieses Schimpfwortes vorsichtiger sein als andere Menschen. Sie wissen doch, dass es eine Art Bezichtigung bedeutet, und dass man das Vermögen, die Ruhe, die Freiheit, ja sogar das Leben dessen gefährdet, den man als ‘Gottlosen‘ hinzustellen beliebt. Es gibt viele irrgläubige Bücher, aber wenige gottlose.“
Kluge
Das schreibt ein Heide names Diderot.
Enzensberger
Jaja. „Der Mensch hat seine Zweifel, er unterbreitet sie der Öffentlichkeit. Mir scheint, dass man sein Buch, statt es zu verbrennen, lieber der Sorbonne zuschicken sollte.“
Kluge
Und der Diderot selber ist nicht gläubig.
Enzensberger
Neinnein, natürlich nicht.
Kluge
Aber er akzpetiert, dass es Menschen gibt, die nicht handeln wollen; die irgendeine Einbildung haben, so in seiner Sprachweise…
Enzensberger
… in seiner Sprachweise, jaja…
Kluge
… die unverkäuflich ist für sie. Davon leben sie.
Enzensberger
Und das ist mehr als ein taktisches Verhalten. Es spielt natürlich die Zensur auch eine Rolle, hier bei dieser ganzen Operation. Aber das ist kein taktisches Verhalten, sondern er meint schon, dass… die Religion ist nicht etwas, [worüber] man nur verächtlich sein kann, sondern es ist auch eine anthropologische Tatsache. Und mit der muss man ernsthaft umgehen. Das ist so ungefähr die Haltung, die er hat.
Kluge
Es gibt irgendwelche Leute wie Pascal, die sagen: ja, ich brauche dies.
Enzensberger
Ja, und kann man ja respektieren. Nur wenn das dann institutionell Druck ausübt, dann wird er rebellisch, natürlich. Das lässt er sich dann auch nicht gefallen.
Kluge
Welche Leute sind das eigentlich, die diese Enzyklopädie geschrieben haben. Also Diderot, ein Schriftsteller.
Enzensberger
Da da gab es ein paar große Namen. Die haben ja alle mitgeschrieben…
Kluge
… d’Alembert…
Enzensberger
… Voltaire, Rousseau, d’Alembert…
Kluge
… Condorcet…
Enzensberger
… haben ja alle mitgeschrieben. Aber, interessant ist auch, die Unbekannten. Ein gewisser Lambert [?], glaub ich, heißt der, der hat über tausend Artikel geschrieben. Und niemand kennt ihn. Und diese Artikel sind durchaus nicht schlecht. Der hat Leute mobilisiert, der hat Leute ausgekundschaftet und eingespannt in diese Riesenarbeit, die sonst keine große Rolle gespielt hätten in der Welt. Der hat ermöglicht. Eine große Ermöglichungsgeschichte auch.
Kluge
Hier gibt es jetzt noch ein paar Seitenzweige, meinetwegen. Zur gleichen Zeit, oder wenig später, gibt es den Messier, dem sie auch ein Gedicht gewidmet haben. Der jetzt die Sterne zählt.
Enzensberger
Ja, der die Sterne zählt, der “Kometenjäger“…
Kluge
Nach dem heute noch die Sterneninseln…
Enzensberger
… der Katalog…
Kluge
… ferne Galaxien…
Enzensberger
… M9…
Kluge
“M9“ heißt “Messier 9“… oder 81, “Messier 81“, da ist ein schwarzes Loch.
Enzensberger
Und der entspricht so einem Bild des Wissenschaftlers, weil der hat die ganze Revolution eigentlich nicht beachtet, die französische Revolution, weil er an sein Fernrohr fixiert war. Der konnte gar keine Aufmerksamkeit aufbringen für diese Leute da auf der Straße, was die da treiben. Er musste ja den Himmel… der ist doch viel wichtiger! Für ihn war das… Er hieß auch das “Kometenfrettchen“, hat man ihn auch genannt.
Kluge
Weil er jagte…
Text
Charles Messier (1730-1817)
Enzensberger
Eine tolle Figur…
Kluge
… weil er eins nach dem anderen fraß. Und wir verdanken ihm eigentlich die Aufzeichnung ferner…
Enzensberger
… Galaxien.
Text
Messier 81/ Spiralgalaxie/ 11 Millionen Lichtjahre entfernt
Enzensberger
“Glücklich (hereux, -se) gehört zur Moral.“ Und da ist auch eine schöne Passage. Das ist übrigens Voltaire. “Es könnte wohl sein, dass ein schlecht erzogener Schurke – ein Sultan, zum Beispiel, dem man gesagt hätte, es sei ihm erlaubt, Chrissten gegenüber treulos zu sein; seine Wesire, wenn sie reich werden, mit einer seidenen Schnur erwürgen zu lassen –; es könnte wohl sein, sage ich mit allem Nachdruck, dass ein solcher Mann nicht mehr Gewissensbisse hätte als ein Mufti, und dass er sehr glücklich wäre. Auch darüber mag sich der Leser eigene Gedanken machen. Alles, was wir hierzu bemerken können, ist: es steht zu wünschen, dass dieser Sultan der unglücklichste unter den Menschen wäre.“
Text
Voltaire
Kluge
Das ist echt Voltaire, nicht…
Enzensberger
Voltaire…
Kluge
…‘ne freche Zunge. Und als er stirbt, gibt es ein Staatsbegräbnis, wie es Frankreich nie wieder gesehen hat. Glaub ich also, ein fünf Kilometer langer Festzug.
Text
Voltaires Trauerzug in Paris, 1778
Enzensberger
Nicht einmal Victor Hugo oder Sartre konnten damit konkurieren…
Kluge
… hat das je bekommen.
Enzensberger
Gut, es war nicht konfliktfrei. Weil Diderot und Voltaire, die waren sich ja alle nicht einig. Das ist auch sehr schön an dieser Enzyklopädie, dass es nicht ein Einheitschor ist, der hier spricht, sondern man kann die Töne, Untertöne hören und dieses ganze Zeitalter in seiner Reichhaltigkeit ist hier auch gespeichert. Weil Rousseau, Voltaire, und Diderot waren sich in keiner Weise einig.
Text
DIE WELT DER ENCYCLOPÉDIE / Dr. Manfred Osten und Hans Magnus Enzensberger über die berühmteste Plattform der Aufklärung