Die Ordnung der Dinge: Wie poetisch ist die Wissenschaft?
Transkript: Die Ordnung der Dinge: Wie poetisch ist die Wissenschaft?
Die Ordnung der Dinge. Wie poetisch ist die Wissenschaft?
- Text
- Poesie des Fortschritts/ H.M. Enzensberger über sein Buch “Elixiere der Wissenschaft”
- Text
- Rodney Brooks, Roboter ohne Kopf
- Text
- DIE HIRN-FORSCHERIN / Mit Prof. Dr. Susan A. Greenfield (Oxford)
- Text
- DER NANO-FORSCHER / Mit Prof. Dr. George M. Whitesides (Harvard)
- Text
- DER MATHEMATIKER / Keplers Kugelpackungen und die Wurstkatastrophe
- Text
- Der FLIEGEN-FORSCHER / Warum ist es so schwer eine Fliege zu fangen?
- Text
- Der STERNEN-FORSCHER / Prof. Dr. Erwin Sedlmayr: Warum ist der Nachthimmel nicht heller als die Sonne?
- Text
- DAS MURMELTIER DES GEISTES / Durs Grünbein über DESCARTES
- Text
- u. a.
- Text
- DIE ORDNUNG DER DINGE / Wie poetisch ist die Wissenschaft?
- Text
- Hans Magnus Enzensbergers SIEBENUNDDREISSIG BALLADEN AUS DER GESCHICHTE DES FORTSCHRITTS sind legendär / Jetzt hat Enzensberger sein neues Buch DIE ELIXIERE DER WISSENSCHAFT herausgebracht / Die Poesie, sagt Enzensberger, ist seit einiger Zeit aus der Dichtkunst in die Wissenschaft ausgewandert / Ein SEITENBLICK auf die PRAKTIKEN DES MENSCHLICHEN GEISTES - -
- Alexander Kluge
- Herr Enzensberger, “Die Elixiere der Wissenschaft: Seitenblicke in Poesie und Prosa” - Seitenblicke, was ist das?
- Text
- POESIE DES FORT-SCHRITTS / Hans Magnus Enzensberger DIE ELIXIERE DER WISSENSCHAFT
- Hans Magnus Enzensberger
- Ja, das ist keine frontale Operation, wo man sagt, ich bin jetzt der, der alles über die Wissenschaften weiß und Breitwand bildet, sondern ich bin ja auch nur ein Dilettant, sozusagen, fasziniert von den Wissenschaften, aber kein Ordinarius - ich beanspruche nicht eine Kompetenzkompetenz, sozusagen, und deswegen seh ich die Dinge auch auf ein… von der Kulisse, gewissermaßen aus, und manchmal sieht man ja aus der Kulisse etwas anderes, als wenn man im Publikum, im Parkett sitzt. Das ist ein anderer Blick, selbst auf dem Theater ist das so; es sieht ja ganz anders aus, wenn sie von der Seite reinschauen. Und man kann dann etwas vielleicht entziffern, gewisse Gesten, gewisse Bewegungen, kann man auf diese Weise besser sehen, einfach.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Kluge
- Sie fahren ja auch wirklich hin, also zum Beispiel Sie sprechen hier von Kathedralen der Moderne, unterirdische Kathedralen, und sie korrelieren das, was in Genf unterirdisch gebaut wird, was Sie wirklich gesehen haben…
- Text
- CERN - European Organisation for Nuclear Research / Genf
- Enzensberger
- Ja natürlich, man muss schon hingehen. Also das ist… der Blick aus der Kulisse heißt nicht der abstrakte Blick, sondern ist es ist schon… ohne eine sinnliche Anschauung wird das auch nichts, selbst bei den abstraktesten Sachen. Sehen Sie, sogar, wenn Sie sogar in ein mathematisches Institut gehen - das ist ja nun die abstrakteste Form der Wissenschaft - ist eine Atmosphäre… herrscht dort, die ist anders, und die muss man auch schmecken, wie die Leute dort sind. Zum Beispiel die totale Vernachlässigung der Äußerlichkeiten. Das ist sehr interessant, dass diese Leute, die ja manche von ihnen weltberühmte Leute sind, mit den schäbigsten Büros… das macht ihnen gar nichts aus. Was sie anhaben, das interessiert sie nicht, weil sie in ihrer Arbeit eine andere… einen anderen Glanz. Das ist ein andrer Glanz.
- Kluge
- Mehr Sein als Schein….
- Enzensberger
- Das auch. Es gibt da sowas wie einen Höhenrausch in der Spitzenforschung, und da hat man keine Zeit übrig, sich um Statusfragen, zum Beispiel, zu kümmern; wer den größeren Dienstwagen hat, wie in der Wirtschaft oder der Politik, das gibt es dort gar nicht, das ist sehr interessant, natürlich. Und dann der Ton, der Ton der Gespräche - so dass man beim Mittagessen auf eine Serviette kritzelt…
- Kluge
- Was man gefunden hat…
- Enzensberger
- Ja, man kann ihnen auch schlechtes Essen vorsetzen, das merken die gar nicht, weil sie so hypnotisiert sind von den Problemen. Das ist doch sehr spannend! Das ist auch schon etwas; von außen gesehen, aber doch, man errät, was da vorgeht.
- Kluge
- Was macht ein Mathematiker anders als normale Menschen? Sie schreiben hier: “Zugbrücke außer Betrieb”. Das ist die Zugbrücke zwischen Gesellschaft und Mathematik, die scheint irgendwie hochgezogen zu sein.
- Enzensberger
- Naja, die Mathematik ist der Extremfall, sagen wir. Es gibt ja einen gewissen wissenschaftlichen Analphabetismus auch bei den sogenannten gebildeten Leuten, die traditionell mit ihren Humanwissenschaften, was man da halt so Geisteswissenschaften nennt, da gibt es ja natürlich traditionell… Das pflanzt sich dann in der Gesellschaft fort, bis in andere Leute, die auch nicht unbedingt studiert haben, die sagen dann: “Um Gottes willen! Damit bin ich in der Schule geplagt worden, davon will ich nichts mehr hören, und so weiter. Das ist jedenfalls der Zustand, der bis vor kurzem geherrscht hat. Ich bin allerdings in dieser Hinsicht optimistisch, weil sich in den letzten zehn Jahren da sehr viel geändert hat. Von den angelsächsischen Kulturen ausgehend gibt es eben doch eine breite Alphabetisierung in wissenschaftlichen Dingen, und ich glaube auch bei uns kann man feststellen, also es gibt jetzt Tageszeitungen, die jeden Tag über Wissenschaft berichten. Sowas war ja vor fünfzehn Jahren undenkbar. Das gab es gar nicht.
- Text
- MATHEMATIK
- Kluge
- Was ist das?
- Kluge
- Mathematik: was ist das? Also in der Antike zeichnet so etwas… wie ein Ritter sich auszeichnen kann, kann einer, der Mathematik versteht, einen Ritter übertrumpfen. Das ist etwas Wirkliches.
- Enzensberger
- Ja, das Wort heißt ja, “mathesis” heißt ja Lehre schlechthin. Die Griechen waren wahrscheinlich die Ersten, die das zu einer Leitwissenschaft gemacht haben, aufgrund von der man eben die ganze Natur verstehen kann. Das war ja wohl eines der Motive bei der ganzen Sache. Und natürlich gibt es die platonische Version der Mathematik, das heißt, die mathematischen Gegenstände haben sozusagen in der platonischen Sicht eine Existenz abgesehen von uns. Die existieren, präexistieren; wir entdecken sie nur. Und dann gibt es eine andere Version von mathematischem Denken, und das heißt, wir entdecken die Dinge nicht, wir erfinden sie, wie bauen sie, wir konstruieren sie; Konstruktivismus und so weiter. Egal wie man sich da philosophisch entscheiden will, ich glaube, die Frage lässt sich gar nicht so mit “ja” und “nein” beantworten… Ich sage, das hat auch etwas von einer Kathedrale. Wenn Sie eine Kathedrale aus Begriffen bauen mit atemberaubenden Höhen, sie kommen da sehr weit, und die Konstruktion also solche hat ja eine gewisse Schönheit. Also da gibt es einen gewissen ästhetischen Aspekt in der Mathematik, der auch sehr verführerisch ist, möcht ich mal sagen.
- Kluge
- Das sind Poeten, auf ihre Weise.
- Enzensberger
- Ja, und wissen Sie, die Leute verwechseln eben immer die Mathematik mit Rechnen, und Rechnen ist ja eine etwas langweilige Tätigkeit. Jedes Kind sagt mit einem gewissen Recht: gut, ein bisschen Kopfrechnen kann nicht schaden, aber im Übrigen, große Multiplikation, das kann doch ein Taschenrechner besser als ich; wozu muss ich mich da quälen? Darum geht’s aber in der Mathematik gar nicht. Das ist etwas ganz anderes, und viele große Mathematiker waren sehr schlechte Kopfrechner. Das hat sie auch gar nicht interessiert, das ist ja banal.
- Kluge
- Aber wenn Sie mir mal solche Menschen beschreiben. Sie holen ja Ihre Lieblinge, wenn Sie so wollen, die sie poetisch dann auch mit Gedichten versehen, holen Sie aus dem sechzehnten, siebzehnten, achtzehnten Jahrhundert, nicht? Also das siebzehnte ganz besonders gern. Nehmen Sie mal Leibniz, beispielsweise, den Sie ja sehr liebevoll beschreiben. Sehr eigenartig, wie einen Außerirdischen.
- Text
- Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716)
- Enzensberger
- Ja, er hat etwas Monströses, natürlich, durch die extreme Konzentration auf diese intellektuelle Arbeit.
- Kluge
- Er hat äußerlich eine Perücke auf, ist gepudert… ein Mann seiner Zeit.
- Enzensberger
- Äußerlich wirkte er vollkommen angepasst eigentlich. Ein Hofmann, ein Rat, wie man damals sagte, ein geheimer, konsistorialer – nicht konsistorialer, aber so geheimer Rat.
- Kluge
- Räumt Geld ab bei den Fürsthöfen…
- Enzensberger
- Ja, und war eben auch, das ist für uns heute nicht mehr vorstellbar, der war nun auf tausend Feldern kompetent. Ich mein, er hat sich auch in [der] Praxis… war kein reiner Theoretiker, er war auch anwendungsorientiert und dadurch auch sehr nützlich. Er hat sich mit Bergwerken beschäftigt, zum Beispiel, er hat sich mit Geldoperationen beschäftigt, aber das alles auf der Basis einer, was er nannte, “mathesis universalis” – das heißt, er wollte einen Schlüssen finden, wie man in verschiedene Bereiche des Lebens eingreifen kann.
- Kluge
- Weil nach seiner Meinung alles gewissermaßen durchmathematisiert ist.
- Enzensberger
- Ja, er sagte ja auch: “Das ist das Denken des lieben Gottes, die Mathematik” – so ähnlich hat er das ausgedrückt.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Enzensberger
- Und von daher, natürlich, in der Anfangsphase einer Wissenschaft, wenn sie ihre großen Fortschritte macht, neigt jede Wissenschaft ein bisschen, sagen wir zur… ich möchte nicht sagen zum Größenwahn, aber es kommt der Sache nahe. Also die Vorstellung, dass man die ganze Realität packen, erfassen kann, das ist in der okzidentalen Wissenschaft sehr früh aufgetaucht. Dieses Motiv, dass man sozusagen den Generalschlüssel für die Welt in die Hände bekommen kann. Das war in der Physik sehr früh der Fall. Interessanterweise, in der Biologie ist das viel später passiert. Die Biologie ist ja im Vergleich zur Physik eine junge Wissenschaft. Da gibt es, da brauch ich meinen Spickzettel… das ist auch interessant; Newton, Galilei, Kopernikus, das ist ja lange her…
- Enzensberger
- 1604, 1616…
- Enzensberger
- Ja, während die großen Schritte in der Biologie, die sind relativ jung. Also Mendel, 1865; Darwin, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.
- Text
- Gregor Mendel (1800-1899)
- Text
- Charles Darwin (1809-1882)
- Enzensberger
- Und dann die Sache, dass, zum Beispiel, um ein Lebewesen zu erzeugen, Ei und Samenzelle verschmelzen müssen: 1875 entdeckt, von Oskar Hertwig. Mendelsche Gesetze: 1865. Kernteilung – die Verdoppelung beim Wachstumsprozess –: 1880 von Fleming. Und dann unser großer, halb vergessener Theodor Boveri, vor genau hundert Jahren, 1902, die Chromosomentheorie.
- Text
- Theodor Boveri (1862-1915)
- Enzensberger
- Das ist eine ganz junge Wissenschaft, und deshalb hat sie auch noch dieses…
- Kluge
- …etwas Alchimistisches..
- Enzensberger
- … ja, und auch den Machtanspruch, das grenzt dann an Übermut, das ist dann die Hybris, die daraus entstehen kann. Und wir haben ja heute… die Lebenswissenschaften fühlen sich als Leitwissenschaften, haben die Eierschalen der Reduktion, den Reduktionismus noch; also philosophisch sagen wir auch in einem naiven Studium; naive Erkenntnistheorie – “wir werden das alles in den Griff kriegen”; Allmachtsphantasien, manische Phase…
- Text
- HYBRIS DER LEBENS-WISSENSCHAFTEN/Allmachtsphantasie von Gen-Biologen
- Enzensberger
- Ich hab mal einen Essay geschrieben, der ist auch da drin, der heißt: “Putschisten im Labor”, und da komm ich darauf zu sprechen, dass diese Wissenschaft sozusagen in ihrer Sturm & Drang-Phase ist, also die Vorstellung hat, sie können alle Probleme lösen, sie können alles reduzieren, sie können alles ableiten. Also auch hier die Idee des Generalschlüssels, zum Leben, hier in diesem Fall. Lassen sich nichts sagen; Gesetze, die die einschränken würden, empören sie.
- Text
- Putschisten der Wissenschaft
- Enzensberger
- Das ist schon ein merkwürdiges Verhältnis, das da vorliegt, und meine Erklärung dafür ist auch, dass die Utopie, die in unserer Geschichte sehr lange politische Utopie war… ist gewissermaßen in die Wissenschaft abgewandert. Das heißt die großen Menschheitsversprechen, die früher, sagen wir beispielsweise, der Kommunismus dargeboten hat…
- Kluge
- …der sozialistische Mensch, der veränderte Mensch, der neue Mensch…
- Enzensberger
- …der neue Mensch ist heute ein biologisches Produkt. Also in der ideologischen Seite, es ist ja interessant. Und auch die Versprechungen, die Heilsversprechungen, bis zu Unsterblichkeitsversprechungen, werden von gewissen Wissenschaftlern vorgebracht. Es gibt natürlich Wissenschaftler, die das sehen, die nicht diese… Außerdem kommt noch etwas anderes dazu, weil das Ganze ja natürlich eine riesige Industrie ist. Das heißt, es kommt auch noch ein Motiv dazu, ein Druck, ein ökonomischer Druck, der dazu führt: um an der Börse zu reüssieren, muss ich Versprechungen machen. Also da ist eine ideologische und eine ökonomische Seite, und viele Wissenschaftler haben Schwierigkeiten, die beiden zu unterscheiden. Die merken gar nicht, was mit ihnen getrieben wird.
- Text
- Genealogie des Omnipotenz-gefühls/Projektmacher in der Wissenschaft
- Kluge
- Sie fangen ja an mit Spalanzani, beispielsweise, also Projektemachern.
- Enzensberger
- Projektemachern, die eigentlich ohne die technischen Mitteln zu haben doch schon in einer Art intuitiven Wissenschaft die Möglichkeiten vorhergesehen haben. Übrigens gibt’s auch einen Text von Diderot, der sehr interessant ist in der Beziehung, der auch spricht, dass das alles aus einem Ei kommt. Das konnte er wissenschaftlich gar nicht beweisen; die Wissenschaft war gar nicht auf diesem Stand. Und es ist sehr interessant, es gab ja eben gerade um diese Wende des achtzehnten Jahrhunderts eine Explosion von Ahnungen, möcht ich mal sagen, wo die theoretische Intelligenz ihre Fühler ausgestreckt hat, sehr weit, das ist ja sehr merkwürdig. Und wir haben in Deutschland ja auch einen Herd dieses Phänomens. Man könnte fast sagen, dass damals eine neue – das ist ein großes Wort – eine neue Form von Intelligenz auf die Welt gekommen ist. Es ist ja nicht so, dass…
- Kluge
- Wann war das?
- Enzensberger
- Ja, ich denke so in dieser Zeit: Aufklärungszeit und dann bis in die [Zeit], was man dann Romantik so nennt, also mit Epochenbegriffen bei mir…
- Kluge
- An der Nahtstelle…
- Enzensberger
- An dieser Nahtstelle, ja. Und das ist ja auch nicht nur, natürlich, ein deutsches Phänomen. Ich mein, in Frankreich ist ja auch notorisch, was da alles passiert ist. Jedenfalls war das eine ungeheure… eigentlich beneidet man die manchmal ein bisschen, diese Zeit, weil die hatte natürlich auch diese Frische und Unbefangenheit und fast Frechheit des Denkens. Also eine Intelligenz, die Grenzen sprengt.
- Kluge
- Beschreiben Sie das nochmal näher: da haben Sie gleichzeitig die Gewerbefreiheit…
- Enzensberger
- Ja, das hat sich auch zu…
- Kluge
- … also nicht mehr nach Zünften, wie die Meistersinger arbeiten, sondern man ist sozusagen freigesetzt. Jeder darf, eigentlich, alles was nicht verboten ist. So wie 1989 in der DDR bricht sozusagen eine ständische Gesellschaft auf.
- Enzensberger
- Ja, nicht kampflos, das war gar nicht so einfach, weil die ökonomischen Verhältnisse natürlich auch sehr drückend waren für viele dieser Gelehrten – besonders in Deutschland, wegen der Kleinstaaterei. Und ich erkläre mir das auch ein bisschen so, wenn man sich da reindenkt in diese Situation: man wächst irgendwo auf dem Land auf, und dann kriegt man ein Stipendium, dann muss man behaupten, dass man Theologie studiert, damit man überhaupt rauskommt aus dem Elend…
- Kluge
- Da wird man aber gefördert…
- Enzensberger
- Wird man gefördert, und dann lässt man die Theologie weg, und dann fängt man an… Das ist auch, wissen Sie, wenn Sie sich in einer Gesellschaft nicht seitlich bewegen können, in der gesellschaftlichen Mobilität in Statusfragen, dann liegt es nahe, nach oben zu gehen. Sehr typisch für die deutsche Geistesgeschichte ist ja diese Flucht nach oben, nenn ich das. Das heißt mir es bleibt mir gar nichts übrig, weil in diesem Kuhdorf…
- Kluge
- Die Flucht in die Karriere… Die Flucht in die Selbstverfertigung…
- Enzensberger
- … in diesem Kuhdorf, wo die Gänse über die Straße gehen – Weimar – zu einem Weltphänomen zu werden, gibt es nur einen Weg, und der führt hierüber [deutet auf seinen Kopf]. Das ist ja ganz klar. Und da gibt es sehr viele, manche sind steckengeblieben, nicht alle haben es geschafft, aber jedenfalls ist das was die Produktion betrifft ja ziemlich einmalig.
- Kluge
- Und gleichzeitig expandiert diese Art von Menschheit, von mitteleuropäischer Menschheit, über die ganze Welt. Alexander von Humboldt in Südamerika…
- Enzensberger
- Gut, einen Schritt weiter, wenn dann natürlich die ganze Kolonisierung der Welt eintritt, die ersten Keime eines Weltmarkts entstehen, dann gibt es auch sowas… Heute sind wir ja voll in einem intellektuellen Weltmarkt. Denn ich meine, jemand, der heute in Tokio irgendetwas entdeckt, da ist die Email in Sekundenschnelle überall auf der Welt da. Die Kommunikationsmittel sind auch anders. Obwohl man sagen muss, gerade jemand wie Leibniz hatte ja eine riesige Korrespondenz, da gab es auch schon eine Vernetzung jedenfalls innerhalb Europas, wo diese Leute einander zugearbeitet, einander bekämpft – es gab Konkurrenzkämpfe, Prioritätenkämpfe, die berühmte Sache da zwischen Newton und Leibniz, die sich da in die Haare kriegten, wer zuerst die Differenzialrechnung…
- Kluge
- Aber beide hatten sie sie…
- Enzensberger
- Beide hatten sie natürlich, auch gleichzeitig. Auch interessant.
- Enzensberger
- Der Begriff homo sapiens ist ja etwas hochgegriffen, wenn man das Benehmen dieser Spezies betrachtet.
- Kluge
- … die sind nicht weise …
- Enzensberger
- So weise kann man das eigentlich nicht nennen.
- Kluge
- Sagt man auch “savant”? Nein, ist nicht die Übersetzung? Wie könnte man’s übersetzen in eine andere Sprache?
- Enzensberger
- Ja, zwischen weise und wissend. Die philosophische Weisheit ist nicht unbedingt gemeint. Und es ist ja etwas richtig dran; daher kommt ja die Wissenschaft auch, weil das eine Spezies ist, die das treibt, aus Gründen, die wahrscheinlich, wie Sie sagen… aus Notwendigkeit, aus Realitätsdruck..
- Kluge
- Was wär der Gegenpol? Homo barbarus, wär das ein Gegenpol?
- Enzensberger
- Ich weiß nicht. Ich hab schon ein bisschen Schwierigkeiten mit den Barbaren, denn das, was die Griechen Barbaren nannten, waren ja eigentlich nur [die], die nicht Griechisch sprachen.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Enzensberger
- Und das ist ja kein sehr gutes Kriterium.
- Kluge
- Die man gut ausrauben kann.
- Enzensberger
- Natürlich muss man sagen, das ist die eine Seite, diese sogenannte Intelligenz, wobei wir nicht genau wissen wie wir die definieren sollen. Es gibt ja auch diese ganzen IQs, diese ganzen Tests, sind ja völlig kindisch, sind ja absurd. Intelligenz ist in diesem Sinne ja gar nicht messbar.
- Kluge
- Diesen Menschen, den Sie sehr mögen, zwischen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, meinetwegen Brentano: den nennt man auch “homo compensator”, der etwas Neues lernt, nämlich im Verhältnis zum Menschen auszugleichen. Ein Gleichgewichtsmensch.
- Enzensberger
- Ja, die These vom Mängelwesen auch, dieses Mängelwesen, dieses irgendwie wehrlose…
- Kluge
- Und produziert jetzt nicht nur Wissenschaft sondern Gleichgewichtsverhältnisse. Das wär was Neues gewesen.
- Enzensberger
- Ja, da muss man dann auch die Künste sehen in Relation zur Wissenschaft. Das ist ja auch kein stabiles Verhältnis, sondern es gibt Phasen, in denen sicherlich die Kunst, die Künste – also die Literatur, die Musik, die Dichtung – irgendwo die produktivere Seite darstellen…
- Kluge
- Die kooperativere auch…
- Enzensberger
- Könnte man vielleicht vom Mittelalter sagen. Und dann gibt es Phasen, in denen diese Intelligenz sich irgendwie verlagert, und die Produktivität eher auf eine andere Seite… Ich denke wir – mir macht das gar nichts aus, ich bin ja selbst ein Schriftsteller, aber mir macht es gar nichts aus zu behaupten, das heute ein Teil dieser imaginativen Produktion auf die Seite der Wissenschaft abgewandert ist. Und wenn man so sieht, wo die glänzendsten Arbeiten, die glänzendsten Produktionen entstanden sind… Ich behaupte zum Beispiel, dass wir in einem goldenen Zeitalter der Mathematik leben. Das merken die Leute gar nicht so.
- Kluge
- Da gibt es einen Mann, den Dirac, und der entwickelt eine mathematische Formel in den zwanziger Jahren, die fordert allerdings, dass es eine Spiegelwelt gibt. Die ist auf der Höhe von “Alice im Wunderland”.
- Text
- Paul A. M. Dirac
- Enzensberger
- Ja das ist ganz richtig, überhaupt gibt es ja…
- Kluge
- Zehn Jahre lang lachen alle darüber und dann erweist sich, dass in der Natur das vorfindbar ist.
- Text
- Materie und Antimaterie im Zusammenstoß
- Enzensberger
- Natürlich, da ist die ganze Quantenmechanik gar nicht auflösbar ohne diese Mittel, die der Mann da sich, ja… die ihm eingefallen sind, sagen wir einmal ganz bescheiden.
- Kluge
- Aus Schönheit. Er hat gedichtet. Das würden Sie sagen, das ist mein Kollege. Das ist sozusagen vom Seitenblick her…
- Enzensberger
- Naja das ist etwas hochgegriffen, aber ich meine, es ist auch sehr interessant: Wissenschaft ist ja auch nicht möglich ohne eine Art von Erzählung. Ich meine, natürlich, wenn Sie so eine Formel sehen, dann denken Sie, das ist keine Erzählung. Aber was die Formel bedeutet, ist nur darstellbar, wenn ich eine Geschichte dazu habe.
- Text
- Erst das Wort, dann die Empfindung
- Enzensberger
- Gab es in Deutschland die Empfindsamkeit, gab es empfindsame Menschen? Die gab es erst, seitdem Herr Lessing das Wort “empfindsam” erfunden hat.
- Kluge
- Und jetzt bemerkt jeder an sich Empfindsamkeit.
- Enzensberger
- Empfindsamkeit, ja. Und so ist unser Weltverständnis jetzt auch charakterisiert durch die Sprache der Wissenschaft, die äußerst erfinderisch ist, und sehr produktiv. Die erfinden ja die tollsten Sachen, da brauch ich wieder meinen Spickzettel hier. Ich hab mir da mal so eine Liste aufgeschrieben, das ist ja irre, da gibt es also in der Kosmologie, in der Physik, gibt es “Fackeln”, “Sonnenwinde”, “Tierkreislicht”, “galaktisches Rauschen”; da gibt es die “Dunkelwolken”, “verbotene Linien” gibt es, dann gibt es “Wurmlöcher”; “schwarze Strahlung” gibt es da…
- Kluge
- …“dunkle Materie”…
- Enzensberger
- …“gekrümmten Raum”; das muss man sich alles mal auf der Zunge zergehen lassen; den “Quantentunnel”, und in der Mathematik – man kann da ewig weiter – da gibt’s den “Cantorstaub” und “wilde Knoten”. In der Mathematik gibt’s “wilde Knoten”!
- Kluge
- “Entartete Materie” ist auch ein Ausdruck.
- Enzensberger
- Ja. Und da kann man eigentlich die nur beneiden um ihre Prägekraft. Das würde man manchem Dichter eigentlich wünschen, dass er in der Lage wäre, solche großartigen Metaphern zu finden.
- Kluge
- Sie zitieren ja da einmal die Benennung der momentan für elementar gehaltenen “starken Wechselwirkung”. Das sind drei Kräfte: “Three Quarks for Muster Mark” heißt es bei Joyce. Das ist ein verballhorntes…
- Enzensberger
- Ja, das hat der direkt von “Finnegans Wake” genommen.
- Kluge
- … drei Viertel Bier, Dubliner Bier, aus Finnegans Wake.
- Enzensberger
- Da gibt’s Schnittflächen. Ich würde heute behaupten, es muss…
- Kluge
- Da kommt der Ausdruck “Quark” her.
- Enzensberger
- …zwischen der wissenschaftlichen Intelligenz und künstlerischen Intelligenz gibt es Schnittflächen, und es gibt sogar, ich möchte es sagen, es gibt ein gemeinsames ästhetisches Verlangen, wenn man das so nennen kann. Denn auch ein Mathematiker oder ein Wissenschaftler möchte, dass seine Theorie nicht nur stimmt, stringent ist, sondern er möchte auch, dass sie elegant ist, er möchte eine elegante Lösung. Und was bedeutet das? Das bedeutet natürlich, es ist ein ästhetisches Kriterium.
- Text
- Carl Friedrich Gauss (1777-1855)
- Kluge
- Wenn Sie Gauß mir mal beschreiben. Ein Mann, der am russischen Hofe sehr viel Vollmachten hatte. Der durfte, sozusagen, auf elegante Weise geometrische Figuren in sibirische Wälder kilometerweit einritzen, damit fremde Intelligenzen, die uns mit Fernrohren beobachten, sehen, wer hier sitzt…
- Enzensberger
- …sehen, da denkt jemand; hier, auf diesem Planeten, denkt jemand.
- Kluge
- Also Unternehmer und Denker.
- Enzensberger
- Ja, und dann eben natürlich fantastisch an diesem Gauß, das gefällt mir auch sehr, dass der ja nie aufgehört hat. Der hat nicht nachgelassen, das ist auch etwas Merkwürdiges. Ich glaube, dass das auch etwas Vital-Belebendes hat; diese Art zu produzieren hat etwas, was… Der geht ja nicht in die Rente. Das Gehirn, es ist nicht pensionierbar.
- Kluge
- Einem Außerirdischen, einem Besucher vom Sirius gegenüber: wie würden Sie dieses Menschenhirn beschreiben?
- Enzensberger
- Naja, das ist ja irgendwie ein ziemlich rätselhaftes Organ. Heute ist die Hirnforschung auch eine extrem wichtige Wissenschaft geworden, Disziplin geworden, und man hat ja alle möglichen Methoden erfunden, das sichtbar zu machen, was im Gehirn vorgeht, und ist ja alles sehr faszinierend und sehr spannend. Nur an die eigentliche Frage kommt man mit diesen Mitteln ja nicht ran. Es gibt ja nach wie vor das: was ist Bewusstsein? Diese Frage kann die Hirnforschung ja eigentlich nicht beantworten.
- Kluge
- Und offenkundig ist es nicht nur im Kopf, in dieser geschützten Zone, durch Knochen geschützt, sondern offenkundig überall vorhanden. Das ist ein Gemeinwesen.
- Enzensberger
- Ja, nein, das Nervensystem, Zentralnervensystem, das Rückenmark, das denkt ja alles. Und es gibt einen amerikanischen Forscher – das ist auch sehr interessant – der hat von einem zweiten Gehirn gesprochen, und das sitzt hier. Das ist das Gehirn, das kontrolliert…
- Kluge
- … wo der solar plexus ist, oberhalb des Magens, sozusagen, so das nervöse Zentrum ist. Wo wir behaupten, da läge das Herz.
- Enzensberger
- Ja, früher nannte man das das Herz; er hat es etwas weiter nach unten verlagert. Aber das ist ja bis zu einem gewissen Grad autonom von diesem Gehirn [deutet auf seinen Kopf], von dem Großhirn; das operiert ja auch, ohne dass wir es wissen.
- Kluge
- Wenn es aber unruhig ist, dann kann auch die ganze Strahlfähigkeit des Gehirns nicht nützen.
- Enzensberger
- Dann kommt alles durcheinander. Nein nein, das muss schon funktionieren, und das hat auch eine gewisse Homeostase. Das heißt, durch komplizierte Ausgleichsmechanismen schafft es Balancen her [sic]. Und da hat der ein ganzes Buch geschrieben, das heißt “The Second Brain”. Das ist sehr interessant, natürlich.
- Kluge
- Sehr interessant.
- Enzensberger
- Ja, aber die Bewusstseinsfrage ist nach wie vor die härteste Nuss, die zwischen Philosophen, Informatikern und eben Hirnforschern, Physiologen sehr umstritten [ist]. Da gibt es auch sehr interessante Diskussionen darüber, das ist ja ganz klar. Nur diesem Außerirdischen, dem wird man das nur dann halbwegs verständlich machen können, wenn er selbst ein Organ entwickelt hat, das ähnliche Komplexitätsgrade hat. Sonst würde er ja nicht eintreffen, wenn er das nicht hätte. Dann könnten wir nicht mit ihm Verbindung aufnehmen.
- Text
- DIE POESIE DER WISSENSCHAFT
- Kluge
- Wenn Sie hier in Ihrem Kapitel “Die Poesie der Wissenschaft” schreiben, gehen Sie ja erstmal sehr weit, indem Sie sagen, möglicherweise weiß die Menschheit im Moment gar nicht, wo ihre poetische Qualität sich verwirklicht. Sie glaubt es noch, dass das in der Literatur geschähe, oder in der Vergangenheit liegt. In Wirklichkeit sind die Wissenschaften dabei, eine neue Poesie, ein Netzwerk…
- Enzensberger
- Das ist eine starke These, aber man kann einiges zu ihren Gunsten anführen. Zum Beispiel, das betrifft ja die avanciertesten Wissenschaften am meisten – wie gesagt, die Biologie ist eine relative junge Wissenschaft, die ist noch lange nicht auf dem Stand…
- Kluge
- Unreif, pubertierend.
- Enzensberger
- Unreif, gewissermaßen. Während in der Physik: die Physik hat einen Zustand erreicht, in der, sagen wir, der Vulgärmaterialismus, das heißt: “Wir können alles erklären” – wie der Laplacesche Dämon – also “wenn ich die genauen Daten habe, kann ich alles vorhersehen”…
- Kluge
- Was doch die Sache selbst erledigt und variiert [unverständlich]…
- Enzensberger
- Diese deterministische Vorstellung, von der hat sich die Physik ja längst verabschiedet. Und was die Kosmologie, Astrophysik und die Partikelphysik, die Teilchenphysik, was die uns heute erzählen, könnte man auch bezeichnen als Mythen. Die spielen eine ähnliche Rolle, das hat eine ähnliche Funktion. Es ist nicht identisch mit einem griechischen Mythos, aber es hat für unser Bewusstsein eine ähnliche Funktion. Das heißt das sind Bilder, die uns die Welt verständlicher machen, so wie die alten Mythologien, die haben ja dem gleichen Zweck gedient. Ich konnte mich orientieren in der Welt, weil ich wusste: Venus ist die Liebe, Zeus ist der Donner, und da konnte man sich alles Mögliche erklären dadurch. Jedenfalls erklären in dem Sinn, dass man es glaubt, verstanden zu haben; dass man nicht mehr fremd in dieser Welt ist, sondern ein Verständnis von ihr gewinnt. Und so ist das ja heute auch, dieses Universum, das da beschrieben wird in den Wissenschaften. Und das ist, wie gesagt, anhand von Erzählungen. Die Geschichte des Urknalls und die Entfaltung des Universums aus diesem Ereignis, wie wird der im Einzelnen beschrieben: die Expansion, die Rotverschiebung, und so weiter, diese ganzen Sachen – das ist ja auch ein Mythos, also, analog zu einem Mythos. Das ist auch eine sehr starke Produktion, denn es ist nichts Leichtes, es ist nichts Simples. Nicht jeden Tag wird ein Mythos gebildet. Das ist doch stark.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Kluge
- Wenn ich da mal Ihre Aufmerksamkeit drauf lenken darf: da gab es einen Kongress in der DDR zu Zeiten, als diese Republik noch sehr viel Selbstbewusstsein entfaltete. Und die sagten, eigentlich verschwenden Sterne durch den Sternenwind – blaue Riesen, junge Sterne – ihre Materie. Sie gehen nicht sparsam vor. In einer Planwirtschaft ganz unmöglich: wir müssen sie umbauen.
- Text
- Blauer Riese/Verschwendung durch Sternenwind
- Enzensberger [lacht]
- Kurios.
- Kluge
- Aber das wäre doch sozusagen eine Begegnung zweier mythischer Bewegungen.
- Enzensberger
- Jaja, wobei die eine ängstlicher ist; die ist ängstlicher…
- Kluge
- Die Sparsamkeit…
- Enzensberger
- … die Sparsamkeit, ja.
- Kluge
- Und die Verschwendungssucht…
- Enzensberger
- … und die Verschwendungssucht des Universums…
- Kluge
- … vorherrschend des Universums…
- Enzensberger
- Auch in der Biologie: man braucht ja nur irgendeinen Befruchtungsprozess [herzunehmen], Millionen von Samenzellen werden da ausgeschüttet. Das ist eine unglaubliche Explosion von Energie. Und da knüpft sich da bei manchen Kosmologen auch die Frage an: Wie endlich ist das Universum?
- Text
- Die WINDSBRAUT DES GEISTES
- Kluge
- Hier gibt es den Ausdruck “Vernunft” bei Ihnen. Der kommt in Ihren Dichtungen öfter vor. Und einmal heißt es hier: “Ihr Haar”, das der Vernunft, “die Windsbraut”, “die Windsbraut des Geistes – ich weiß nicht, was das ist, das kann man ja einem Gedicht nicht immer entnehmen –
- Text
- “Ihr Haar ist dunkel wie die Vernunft”/
- Enzensberger
- … nicht sagen, ja…
- Kluge
- “Sie wirft dir Sand in die Augen, die Windsbraut, ihr Haar ist dunkel wie die Vernunft.”
- Enzensberger
- Mhm.
- Kluge
- “Dunkel wie die Vernunft”: man sagt doch sonst immer “hell”?
- Enzensberger
- Ja, aber die Vernunft ist sich selbst ja nicht durchsichtig. Das ist ja auch etwas Rätselhaftes an dieser Möglichkeit. An dieser Fähigkeit ist etwas, das hat mit dem ganzen Gödel-Problem ein bisschen was zu tun. Das heißt, die Möglichkeit der Selbsterkenntnis ist immer begrenzt. Wir sind ja immer etwas anderes noch als das, was wir in uns sehen.
- Kluge
- Was ist das Gödel-Problem?
- Enzensberger
- Naja, das ist, das man ein System innerhalb eines Systems niemals vollständig beschreiben kann.
- Kluge
- Man muss immer einen Punkt außerhalb einnehmen.
- Enzensberger
- Ja, es gibt aber keine Vernunft, von der aus wir die Vernunft total aufklären können. Da bleibt immer ein Rest. Gödel hat ja das anhand der mathematischen Systeme bewiesen. Die Unentscheidbarkeitstheoreme von Gödel, die gehen ja darauf hinaus – gut, um es etwas einfacher zusagen, ich hab das mit dem Münchhausen-Phänomen verglichen, ein etwas kühner Vergleich, der streng genommen vielleicht nicht ganz stichhaltig ist…
- Kluge
- Sumpf und der Zopf…
- Enzensberger
- Das Problem, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, das hat ja etwas Vergleichbares.
- Kluge
- Und da sagt Gödel, das gibt es aber.
- Enzensberger
- Er sagt, wir können die Mathematik nicht lückenlos aus der Mathematik beweisen. Das ist nicht möglich, da bleibt immer ein Rest von Unentscheidbarkeit. Die Systeme sind nie ganz vollständig; man nennt das auch das Unvollständigkeitstheorem. Und das hat er aber nicht nur einfach so behauptet, so wie ich da daher rede, sondern er hat es stringent bewiesen, mathematisch bewiesen, dass die Mathematik kein lückenlos geschlossenes vollständiges System sein kann. Und wenn das für die Mathematik gilt, was sollten wir dann erst von unsern anderen Systemen sagen, die ja viel anfälliger sind, viel weniger stringent.
- Kluge
- Also eine Unruhe der Materie…
- Enzensberger
- Ja, das könnte man vielleicht sagen…
- Kluge
- … am absoluten Kältepol gibt es noch lebhafteste Bewegung. Es gibt immer diese Ausnahme…
- Enzensberger
- Ja, es gibt immer das, so wie man zum Beispiel… Die Linguisten haben ja ein ähnliches Problem. Die Sprache ist durch die Linguistik nicht vollständig beschreibbar.
- Text
- Tausendjährigen Flechten/ der Erde langsamstes Telegramm
- Kluge
- Jetzt gibt es sehr viele Metaphern in ihren Gedichten, also, zum Beispiel, “Flechtenkunde”, in der Sie immer wieder Intelligenz, Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Vernetzung, und so weiter, woanders entdecken, als man sie vermutet. Also nicht im Internet entwickeln Sie, oder in der Telephonie, oder beim Marconi, die Verknüpfungsfähigkeit, sondern bei einem älteren Element, den Flechten, und von denen sagen Sie: “Sie ist der Erde langsamstes Telegramm”. Die Flechte.
- Enzensberger
- Ja, die hat ganz andere Zeitformen, natürlich, denn die können ja… Es ist auch eine Frage der Lebensdauer. Eine Flechte kann ja unendlich alt werden. Die kann hunderte von Jahren alt werden, ohne sich groß zu verändern. Die hat also ein anderes Verhältnis; ein anderes Zeitverhältnis. Trotzdem ist da auch Evolution; trotzdem ist da auch Erfindung, sozusagen…
- Kluge
- … und Vertrauenswürdigkeit.
- Enzensberger
- Ja, sicher…
- Kluge
- “Der Fuß Barbarossas hat auf eine Flechte getreten, und es machte ihr nichts aus. Sie ist noch heute da. Barbarossa ist tot.”
- Enzensberger
- Ja. Überlebt. Und ist auch, natürlich, eine große Erfindung der Biologie, diese Symbiose, die da stattfindet zwischen Alge und Pilz ist eine geniale Idee, sozusagen. Sogar die unbelebte Materie, könnte man sagen – das wäre fast eine romantische These – dass sie auch eine Art Intelligenz [hat]; dass da ein intelligenter Prozess inhärent ist. Wir kennen das Subjekt nicht. Spinoza hat gesagt: “deus sive natura”.
- Kluge
- Das heißt…
- Enzensberger
- Also “Gott oder die Natur”. Er hat die gleichgesetzt. Für ihn war ja die Natur… Und heute gibt es diese ganzen Geia-Hypothesen, das anthropische Prinzip, und so weiter. Das sind alles solche Vorstellungen, dass die Intelligenz nicht jetzt nur mit uns in die Welt getreten ist…
- Kluge
- Wir haben sie usurpiert, wir haben sie organisiert…
- Enzensberger
- Wir haben sie organisiert, haben von ihr Gebrauch gemacht, einen anderen Gebrauch als die Natur, aber die Prozesse, die Entstehung von Komplexität, kann man sagen, die ist ja längst vor uns da gewesen.
- Kluge
- Da gibt es manches Meereswesen, wenn wir verschwänden könnte aus dem Meer eine Intelligenz entstehen.
- Enzensberger
- Ja gut, das tierische Leben ist ja aus dem Meer auch gekommen.
- Kluge
- Ob die Gebirge nicht eine sehr langsame Form von Intelligenz enthalten, weiß man nicht.
- Enzensberger
- Weiß man nicht.
- Kluge
- Die Ozeane könnten komplexe, intelligente Lebensformen sein.
- Enzensberger
- Jedenfalls existieren komplexe Strukturen überall, auch längst vor dem Menschen. Das ist ja auch der schönere Teil der Evolutionstheorie. Es ist ja ein bisschen plump und nicht sehr erhellend, wenn man sagt, wie die Vulgärdarwinisten, “wir stammen von den Affen ab”. Was soll denn das heißen? Das ist ja im Übrigen auch eine schreckliche Verkürzung von Darwins Gedankengängen. Sondern in dieser Evolution… Da braucht man keine Affen dazu, sondern das war schon immer da. Diese Kosmologie, das ist ein kosmologisches Prinzip, das aus einfachen Dingen komplexe entstehen. Bei uns heißt’s dann Selbstorganisation und so weiter.
- Kluge
- Sie geben ja hier sehr liebevolle, poetische Attribute. Also zum Beispiel die Farbe eine bestimmtem Flechtenart auf Spitzbergen beschreiben Sie – die Sie offenkundig gesehen haben: “Safran, korallen, orange, persio, scharlach, orseille”. Was ist orseille, wie sieht das aus?
- Text
- “Safran, korallen, orange, persio, scharlach, orseille”
- Enzensberger
- “Orseille” ist auch eine Farbe, eine rötliche Farbe mit Brauntönen drin. Und deswegen wurde ja auch, in der alten Welt… wurden ja Flechten sehr zum Färben verwendet. Es war eine der ersten Quellen der Farbe, bevor es die synthetischen Farben gab. Die Menschheit wollte immer Farben haben. Ist auch sehr schön. Unser Auge möchte Farbe haben. Es ist äußerst empfindlich. Die Differenzierungsfähigkeit des Auges ist auch so ein Wunder; dass wir bis zu fünfzigtausend Nuancen unterscheiden können, das ist schon enorm. Es gibt eine ganze Geschichte der Farben, natürlich; eine ganze Ökonomie der Farben, dass man gesucht hat, Chemie… Man hat aus Läusen, zum Beispiel, dieses Rot, dieses Krapprot aus zerdrückten Läusen, oder aus der Purpurschnecke, das ist ja schon sehr alt. Und die Kunst des Färbens, da gibt’s eine ganze Geschichte der Farben, bis zu unseren heutigen petrochemischen Methoden, Farben. Oder denken Sie an die Flüssigkristalle, die wir heute haben. das sind ja wunderbare Dinge. Da gibt’s also eine Geschichte der Farben, und die beginnt vielleicht mit den Flechten.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Kluge
- Wenn ich jetzt verstehe, was Sie unter Intelligenz verstehen, und was Sie so entzückt, dann ist das auf der einen Seite Generosität, Verschwendung: dass ich etwas tue, etwas [wozu] nicht nur der Nutzen mich heißt, sondern dass ich da ein “surplus” habe.
- Enzensberger
- Ja, sicher.
- Kluge
- Das zweite ist, dass ich neugierig bleibe. Das ist ja eine Triebfähigkeit.
- Text
- Sündenfälle der Neugier / Catilinarische Tugend
- Enzensberger
- Ja, ja, sehr lustbetont, auch.
- Kluge
- Catilinarisch auch.
- Enzensberger
- Ja, auch, natürlich; das ist auch rücksichtslos. Natürlich, die Neugier ist ja auch etwas Rücksichtloses. Und da gibt es dann auch die ganzen Sündenfälle, natürlich, der Neugier.
- Kluge
- … etwas aneignen…
- Enzensberger
- Auch sehr interessant, dass, zum Beispiel, die Physik ihren Sündenfall hinter sich hat mit der Atombombe, während die Biologie ihren Sündenfall noch vor sich hat. Also da steht uns ja noch einiges bevor, da müssen wir drauf gefasst sein. Das wird nicht nur gut gehen, was da im Gange ist; da wird es auch Monster geben, da wird es Katastrophen geben, da bin ich ziemlich davon überzeugt.
- Text
- Menschenrechte für Klone?
- Kluge
- Nehmen Sie mal an, einen reichen Mann, also etwa in der Vermögenslage des Sultans von Brunei, [der] hält sich, gewissermaßen, Klone, die die Reserve, wenn ihm mal was fehlt, wenn seine Niere…
- Enzensberger
- Jaja, Ersatzteil…
- Kluge
- …Ersatzteile, ja…
- Enzensberger
- … ein Ersatzteillager.
- Kluge
- Er hat also in Form von Sklaven ein Ersatzteillager, um sich herum. Was ja für Faust bei Goethe durchaus ein angemessener Gedanke wäre…
- Text
- Homunculus in Goethes FAUST, 2. Teil
- Enzensberger
- Ja, sicher. Nur ich meine, nicht umsonst ist es eine Tragödie, Faust. Also da wird man sehen. Und die heutigen Grundversuche zeigen schon… Die Besonneneren unter den Biologen warnen ja auch. Selbst der Dolly-Mann, der dieses Schaf da geklont hat, der warnt heute vor dem Klonen. Also der sagt…
- Kluge
- … der sagt, der Alterungsprozess nimmt gar nicht ab.
- Enzensberger
- … nimmt gar nicht ab; es entstehen Pathogene, unkontrollierbare…
- Kluge
- Ich habe ein neunundachtzig Jahre altes Baby erzeugt, beispielsweise. Das ginge doch.
- Enzensberger
- Gut, da sind auch sehr unheimliche Dinge im Gang, das ist ja ganz klar. Und wie das in den politischen Prozessen verarbeitet werden kann, wissen wir auch noch nicht.
- Kluge
- “Ein Hase im Rechenzentrum”: das ist ein Gedicht von Ihnen. Da sprechen Sie bewundernd von diesen Lebewesen. “Aus dem Eozän hoppelt er an uns vorbei in eine Zukunft, reich an Feinden, doch nahrhaft und geil wie der Löwenzahn.” Da gehört doch mit zu dem, das Sie sagen, immanent.
- Enzensberger
- Ja, sicherlich. Man muss auch das Prekäre sehen. Natürlich sind die Ameisen wahrscheinlich katastrophenresistenter als wir. Das heißt, wir sind eben weich und empfindlich. Die Ameisen dagegen sind sehr überlebensfähig. Die sind ja auch viel älter als der Mensch, und ich glaube man übertreibt nicht, wenn man sagt, die werden uns auch überleben.
- Kluge
- Die haben ein Hirn so groß wie ein Salzkorn.
- Enzensberger
- Fantastisch. Und trotzdem sind sie in ihrer Organisation…
- Kluge
- Ein exaktes Unterscheidungsvermögen…
- Enzensberger
- Ja, aber in ihrer Organisation, was die leisten mit diesem nicht mal stecknadelgroßen Gehirn… sind die Leistungen durch die Zusammenschaltungen. Das ist auch eine Metapher, wenn man sagt, “der Ameisenstaat”. Entomologen können da sehr interessante Dinge drüber [sagen]; die haben diese Mechanismen ja gut erforscht, wie das zu Stande kommt. Die Kommunikation, die gegenseitige Abstimmung, wie so ein Ameisenhaufen dann funktioniert, das ist sehr interessant: wie komplexe Leistungen entstehen aufgrund von sehr einfachen Bestandteilen. Das hat mit der Theorie der zellulären Automaten etwas zu tun.
- Kluge
- Automaten haben Sie ja zeitlebens gefesselt. Das ist wieder bei Leibniz, der ja ein ganz großer Automatenforscher ist.
- Enzensberger
- Sicher, da beginnt das, ja. In der Antike gab es sehr primitive Automaten… Interessant auch der Zusammenhang mit dem Priestertrug, denn schon in Ägypten gab es “Simulacra”, nannte man das. Also da gab es Statuen, die sich bewegen. Und die haben die Leute eingeschüchtert. Die Gläubigen standen vor einem Rätsel, vor einem Wunder. Das ist in der Geschichte des sogenannten “Priestertrugs” eine der ältesten Erscheinungen. Es gibt eine Verbindung zwischen der Glaubenspropaganda und dem Automatenwesen.
- Kluge
- Also wenn sozusagen ein Stock zu einer Schlange wird, so etwas ist…
- Enzensberger
- Ja, ja, ja. Eine der Wurzeln des Automaten ist gar nicht so sehr praktisch, sondern die haben auch eine ideologische Funktion.
- Text
- Ahnvater Lukrez (95 - 55 v.Chr.)
- Kluge
- Lukrez kommt öfter vor bei Ihnen. Was hat der gemacht?
- Enzensberger
- Naja, das war eben noch ein Dichter von wirklichem Format. Denn damals war es so, dass die Dichter und die Wissenschaftler eigentlich einander sehr nahe waren. Das ist in der Antike mal geschehen und dann wieder in der Renaissance. Ein Dichter konnte sich gar nicht blicken lassen, wenn er ein wissenschaftlicher Analphabet war. Und umgekehrt, ein Wissenschaftler konnte sich gar nicht blicken lassen, wenn er..
- Kluge
- … sich nicht ausdrücken konnte…
- Enzensberger
- … wenn er sich nicht ausdrücken konnte, wenn er nicht auf dem Niveau der künstlerischen Produktion war. Das hing sehr zusammen. Und Lukrez war eben der Mann, der das Projekt gefasst hat, in einem großen Lehrgedicht den gesamten Kenntnisstand der damaligen Wissenschaft darzustellen. “Über die Natur der Dinge” ist sein großes Gedicht, und da ist wirklich die ganze Atomtheorie der Zeit drin enthalten, und so weiter. Und auch in einer wunderbaren Formulierungskraft… Ich verdächtige den Begriff der Originalität in der Kunst. Es gab so eine Zeit, das ist eigentlich auch erst zwei-, dreihundert Jahre her, wo der Geniekult aufkam, und wo jeder die Illusion hatte, er fängt von vorne an. Also “jetzt komme ich”, und die andern weg, und jetzt fang ich…
- Kluge
- “Die Welt war nicht, bevor ich sie erschuf”…
- Enzensberger
- Ja, und das ist natürlich ein ganz großer Irrtum. Bis in die Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts hinein hat man diese Illusion gehätschelt des Originalgenies. Und das ist natürlich eigentlich Unsinn; wir schreiben ja immer an einem Text weiter.
- Text
- POESIE DES FORT-SCHRITTS/ Hans Magnus Enzensbergers DIE ELIXIERE DER WISSENSCHAFT
- Enzensberger
- Der Text ist ja schon da, ein paar tausend Jahre lang, und an diesem Text, an dem schreiben wir weiter. Wir verändern ihn auch rückwirkend. Die Tradition wird ja immer neu erfunden, ist ja auch kein fester Vorrat, an dem man sich nur bedienen kann, sondern die wird ja immer wieder umstrukturiert durch unsre Tätigkeit. Aber die Vorstellung, dass das alles von mir stammt, die ist ja völlig abwegig…
- Text
- Panorama-Roboterauge
- Text
- Rodney Brooks ist freier Unternehmer und zugleich Direktor des ARTIFICIAL INTELLIGENCE LAB am Massachusetts Institute of Technology (MIT)/ Wie kann man es vermeiden, fragt er, daß wir unsere Vorurteile in die künstlichen Intelligenzwesen einbauen ? / Wir vermeiden wir Menschen es, DIGITALE CHAUVINISTEN zu werden - - ?
- Text
- ROBOTER OHNE KOPF/ Rodney Brooks über den ROBOTER GENGHIS
- Rodney Brooks [Voice-over, den englischen Originalton übersetzend]
- Unsere Grundidee war, dass damals in den achtziger Jahren die NASA ja geplant hat, einen riesigen Roboter auf den Mars zu senden, und die Kosten wären zwölf Milliarden Dollar gewesen.
- Text
- NASA-Marsroboter
- Brooks
- Das heißt, wir haben dann einen Roboter mit sechs Beinen gebaut, den wir “Genghis” genannt haben, der nur einen Kilogramm wiegt, und [der] hatte die gleichen Fähigkeiten wie dieser große Roboter, den die NASA plante zu bauen.
- Text
- GENGHIS
- Text
- Prof. Rodney Brooks, Artificial Intelligence Lab am MIT
- Brooks
- Das heißt wir waren der Ansicht, wenn man, sagen wir, hundert dieser nur ein Kilogramm schweren Roboter ausschicken würde statt dieses riesigen, eintausend Kilo schweren, dann wäre die ganze Mission preiswerter. Denn natürlich wäre die Masse, die man dann in den Orbit schicken würde, sehr viel geringer, und damit wird das Ganze billiger. Wir haben auch gedacht, dass, wenn wir einen kleinen Roboter bauen – und wir hatten ja schon in nur zwölf Wochen den ersten Prototypen fertig –, dass wir auf dieser Basis dann auch schneller die Roboter entwickeln könnten. Das heißt, es würde alles eine sehr viel schnellere Art und Weise sein, auf andere Planeten zu kommen. Und dann haben wir gedacht, wenn wir also diese Roboter sozusagen auch autonom sich auf der Planetenoberfläche [des] Mars [hin- und] herbewegen [lassen] könnten, ohne dass da irgendwie Fernkontrolle von Menschen erfolgen müsste, dann würde das Ganze preiswerter sein. Und wir haben statt autonom einfach “außer Kontrolle” gesagt, deshalb also “schnell, billig, und außer Kontrolle”, das ist vielleicht ein bisschen komisch formuliert, aber irgendwann hat diese NASA diesen Slogan tatsächlich angenommen, aber etwas umgeändert. Die haben gesagt, “schneller, billiger, besser”, denn dieses “außer Kontrolle”, das war ihnen zu radikal.
- Text
- Wie kam GENGHIS zu seinem Namen?
- Kluge
- “Genghis” – wie kommt es überhaupt zum Namen?
- Brooks
- Das war ein sechsfüßiger Roboter, der konnte über alles steigen, was im Weg lag. Er musste nicht einen Umweg machen, sondern konnte einfach darüber steigen. Wir haben furchtbar viele Namen uns ausgedacht, und einer meiner Student sagte: “Das ist wie Dschingis Khan!”
- Kluge
- Das Interessante am Genghis ist – und Ihre Erfindung gewissermaßen ist – das Entfernen der Kognitionsbox. Bis dahin ging man davon aus, dass ein Roboter eine zentrale Steuereinheit besitzen muss. Und nun kamen Sie und sagen, es braucht keine zentrale Steuereinheit.
- Text
- Dschingis (= Genghis), der Roboter ohne “Kopf”
- Brooks
- Ja, das war in den siebziger Jahren, Anfang der achtziger Jahre, da haben die ersten Leute mobile Roboter angefangen zu bauen. Die waren noch sehr langsam, und diese Roboter schauten sich die Welt an mit so, vielleicht, zwei Fernsehkameras eingebaut, so eine Art Tiefenkarte wurde dann erstellt, und dann wurde ein internes Modell der Welt damit gebaut. Und dann wurde sich überlegt, “wie kann man dieses Modell bewegen?”, und dann später, sozusagen mit geschlossenen Augen, “ach, einen Meter vorwärts gehen”. Und dann musste man fünfzehn Minuten mehr Berechnungen anstellen über die Struktur der Welt, bevor ein weiterer Schritt getan werden konnte. Aber betrachten wir doch einmal Insekten, wie Moskitos. Die können pro Sekunde einen Meter zurücklegen, die können Beute finden wie mich oder… anderen nachrennen, und die haben vielleicht zehn-, zwanzigtausend Neuronen nur… vielleicht eigentlich sehr schnell. Die Leute, die Roboter bauen, die haben die größten Computer der Welt gebraucht, um den Computer einen Meter pro fünfzehn Minuten zurücklegen zu lassen. Ein Moskito mit zehn- oder zwanzigtausend Neuronen, der kann einen Meter pro Sekunde zurücklegen. Also war irgendwas für mich an der Organisation nicht richtig. Ich hab gesagt, “wir hatten die falsche Organisation in den Robotern”, und das kommt daher, weil die Leute sich ursprünglich immer Gedanken gemacht haben, wie wir selbst vorgehen, und dann überlegt haben, wir haben ja immer Erkenntnis, sozusagen, Kognition. Und ich hab gesagt, naja, da müssen wir das eigentlich wegnehmen; wir brauchen nur Sensoren, die hier sehr eng verbunden sind mit den Aktuatoren, das heißt, der Neuronensensor, der muss nicht in einer Reihe hintereinander angeordnet zu sein. Wir haben dann versucht, ein interaktives System zu haben, das auf die Welt reagiert, kein internes Weltmodell eingebaut hat, sondern die Welt lässt, wie sie ist. Die Welt ist das beste Modell. Das heißt, der Moskito, der bezieht sich ja immer auf die externe Welt und reagiert darauf. Auf der einfachsten Ebene bei Genghis hat man das so, dass die Verbindung zwischen dem, was die Beine fühlen, und dem, wie sie sich bewegen – wir haben hier jetzt zum Beispiel das Bein des Roboters, das geht auf ein Hindernis, wenn es das sieht, dann wird es automatisch hochgehen und über dieses Hindernis hinwegsteigen. Und das heißt, da haben wir die Basismöglichkeit, weiter zu gehen nach vorne und auch über Hindernisse zu steigen. Dazu gibt es jetzt aber diesen Infrarotsensor, der sagt, naja, vielleicht ist da vorne rechts noch jemand. Und das heißt, da werden diese Verhaltensmuster des Beines moduliert, und das rechte Bein wird kleinere Schritte machen, und damit wird dann der Roboter sich rechts hinwenden, also auf den Menschen zu, der rechts empfunden wird. Der Roboter muss… hat aber keine Repräsentation, das heißt also, “hier ist ein Wesen, hier werde ich dieses Wesen jetzt jagen”; sondern es ist eine direkte Verbindung. Hier befinden sich Infrarotsensoren, und entsprechend werden jetzt die Beinbewegungen leicht verändert, ein bisschen kürzer auf der rechten Seite, wo eben die Infrarotsensoren etwas entdeckt haben. Wenn man als Mensch den Roboter betrachtet, dann wird der Roboter ganz still sein, und wenn jemand plötzlich sich bewegt, dann wird der Roboter diesem folgen. Das heißt für denjenigen, der es nur beobachtet, sieht es aus, als hätte der Roboter eine Absicht, aber das ist nicht so. Es ist nur so gebaut. Es gibt keine explizite Absicht im Inneren, und ich glaube, genau so ist es doch bei uns Menschen auch. Wir sagen immer, jemand anders hat da Intentionen, oder wir selbst haben Intentionen, aber sehr oft sind diese Intentionen tatsächlich nicht explizit in unserem Inneren oder dem Inneren des anderen.
- Text
- Wir Menschen haben uns im Lauf der Evolution von der DIKTATUR DER GENE befreit / Das unterscheidet uns von den Goldfischen / Und es eröffnet dem menschlichen GEHIRN eine ungeahnte Zukunft / Nicht schadhafte Gene, sagt die Hirnforscherin Susan A. Greenfield, sondern eine stereotype Umgebung gefährdet unser ICH - -
- Stimme
- Das Signal ist klar. Es ist an der Zeit, sich zu entwickeln.
- Text
- DIE HIRN-FORSCHERIN
- Kluge
- Kann man ein Gehirn außerhalb des Körpers aufbewahren, und wie macht man das?
- Susan A. Greenfield [Voice-over, den englischen Originalton übersetzend]
- Ich denke das ist die Hoffnung von einigen Menschen, wenn sie sterben, dass sie eingefroren werden können.
- Text
- Prof. Susan A. Greenfield, Universität Oxford
- Greenfield
- Das Problem wäre, wenn man das Gehirn einfriert, dann ist das so ähnlich, als wenn man Erdbeeren einfriert, und wenn sie dann wieder aufgetaut werden, dann sind sie matschig. Obwohl man natürlich Muskeln einfrieren kann, wenn man zum Beispiel ein Lamm einfriert oder Rind einfriert, aber für das Gehirn bietet sich das nicht an. Wenn es also unter Null ist, dann wäre es ein Problem. Man kann das Gehirn abkühlen, und kann auf diese Weise Prozesse unterbinden. Man benutzt eine Kühlflüssigkeit, diese Kühlflüssigkeit perkoliert dann; es kommt drauf an, wie tief man das behandelt, wie kalt man das macht, wie lange das abgekühlt sein soll.
- Text
- Einfrieren von Verstorbenen in den USA
- Greenfield
- Physiologen haben gezeigt: von dem Flüstern in einem Wald bis zu dem Fällen eines Baumes, das erfordert eine lange, lange Bewegung. Alles was wir machen, jedes Lächeln, jedes Wort hängt von Muskelkontraktionen ab, mit der Ausnahme von Tränen und Sabbern.
- Text
- Animus / Sinn; Anima / Seele; Animation / = Bewegung
- Greenfield
- Es gibt da eine interessante Verbindung zwischen Bewegung und dem Gehirn. Wenn wir uns zum Beispiel “Animus” vorstellen, das ist das Bewusstsein, und dann das Wort “animiert”, das bedeutet natürlich, [dass] man in Bewegung ist, und einem Tier – Tiere bewegen sich, Pflanzen bewegen sich nicht. Tiere bewegen sich von einem Ort zum andern. Wenn man also animiert ist, was wäre die Verbindung zwischen dem Bewusstsein, “Animus”? Wir wissen, dass es ein kleines Tier gibt, das lebt in der See. In den frühen Stadien hat es ein ganz einfaches Gehirn, es schwimmt herum, es interagiert mit der Welt. Wenn es aber älter wird, dann bindet es sich an einen Felsen, und es kann dann davon leben, dass es gefiltertes Seewasser in sich aufnimmt. Es verschluckt dann sein eigenes Gehirn, es frisst dann sein eigenes Gehirn auf. Das bedeutet, dass ein Gehirn nur dann erforderlich ist, wenn man sich bewegt. Wenn man an einem Fels klebt, braucht man kein Gehirn mehr.
- Text
- Prof. Susan A. Greenfield, Universität Oxford
- Kluge
- Nun hat bis jetzt der menschliche Geist die Fähigkeit, auch an einem Ort zu verweilen; der Körper verweilt an einem Ort, wie diese Seescheide, ist es glaub ich, und der Geist geht auf Reise.
- Greenfield
- Eine der interessantesten Aspekte unserer Gehirnfunktionen ist die Tatsache, dass wir uns trennen können von unmittelbaren Umwelt. Als Erwachsene können wir einen Roman lesen, da passiert etwas ganz Spannendes: plötzlich ist man woanders. Man ist irgendwo, was so lebendig ist, was so real ist, dass es lebendiger ist als die Realität, die einen umgibt. Das ist eine erstaunliche Fähigkeit, dass man alles ausschalten kann, dass unsere Sinne ausgeschaltet werden, dass man die Fantasie einsetzt. Das ist aber eine Fähigkeit, die wir lernen müssen. Wenn wir klein sind, dann haben wir Bilderbücher, und allmählich, die Bilder, werden immer geringer. Das ist auch der Grund, warum wir immer sagen, das Buch ist besser als der Film. Ich hab noch nie gehört, dass jemand gesagt hat, der Film war besser als das Buch. Und ich denke, das hat etwas damit zu tun, dass unsere Fantasie so mächtig ist; mächtiger und kräftiger als die Fantasie eines anderen Menschen. Was in einem Gehirn passiert, dass diese innere Welt erzeugt, die so real ist, ist ja aufregend. Die Welt kann uns in eine andere Zeit versetzen, uns an einen anderen Ort versetzen.
- Text
- Übersetzung: Barbara Behrens
- Greenfield
- Unsere innere Welt, unser Geist, ist der Ort, der uns in die Lage versetzt, zu flüchten. Das macht mir auch die großen Sorgen bei Menschen, Menschen, die zum Beispiel wie Kinder sind; Menschen, die gefangen in der Gegenwart; Menschen, die nicht mehr die Fähigkeit besitzen, dass sie lesen können, die Bücher lesen können; Menschen, die ständig Zugang gehabt haben zu Computern, die die Fantasie anderer Menschen benutzen. Sie werden dann vielleicht Menschen, die Junkies werden, die Süchtige werden. Die erliegen starken Sensationen, die sind nur an die Gegenwart gebunden. Und wenn man in der Gegenwart verhangen ist, dann kann man sich schnell langweilen, weil man nicht flüchten kann in die innere Welt, in die Fantasiewelt, im Gegensatz zu den Menschen, die immer noch lesen können, die Bücher lesen können, die sich in die Vergangenheit versetzen können, die auf die innere Reise gehen können.
- Text
- George M. Whitesides von Harvard ist der Prototyp eines zwischen allen Fronten arbeitenden Wissenschaftlers / Er gehört zu den zehn weltweit am häufigsten in Fachzeitschriften zitierten Geistern / Aus der Perspektive einer künftigen World.Wide.Web- Intelligenz, sagt er, würde man Intelligenzen aus FLEISCH UND BLUT für unwahrscheinlich halten - -
- Text
- DER NANO-FORSCHER
- George M. Whitesides
- Also wenn man sich Systemen zuwendet, die zwanzig oder zehn Nanometer in der Größe sind, dann arbeitet man mit Objekten, die sind so klein wie eine [geringe] Zahl von Atomen. Und bei diesen Dimensionen gibt es Quantenphänomene, da sieht es so aus, als ob wir im Grunde genommen keine wirklichen Erfahrungen damit haben.
- Kluge
- Keine Intuition.
- Whitesides
- Nein. Ich habe auf diesem Gebiet keine Intuition. Ich hab mich daran gewöhnt, dass ich im Grunde genommen über diese Probleme nicht mehr nachdenke. Meine Intuition ist wirklich sehr unzulänglich.
- Text
- George M. Whitesides, Harvard University
- Whitesides
- Eines der Gebiete, was für die Zukunft interessant sein wird, ist das Gebiet von ganz, ganz kleinen Dingen. Eine der interessantesten Veränderungen in der Technologie, was alles im Grunde genommen beeinflusst, ist die Vorstellung, dass wir uns von Dingen weg bewegen, die wir halten und sehen können, auf Dinge, die im Grunde genommen nicht sichtbar sind; aber sie funktionieren immer noch.
- Kluge
- Und die Vernunft steckt gewissermaßen noch in diesen unsichtbaren Dingen drin?
- Whitesides
- Absolut. Darum geht es in der Wissenschaft, dass man versucht, herauszufinden, wie die Dinge funktionieren und sich bewegen.
- Text
- Verschwinden der Grenze zwischen Leben und Tod
- Kluge
- Das Interessante ist ja auch, dass, wenn wir mit Atomen, Molekülen denken, in Größenordnungen von Atomen, Molekülen, dann verschwindet ja auch die Grenze zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem.
- Whitesides
- Ja, das trifft zu. Und man sollte immer daran denken, dass, wenn man wirklich an das unterste Ende geht, auf der untersten Ebene, auf der Ebene der Moleküle, da gibt es eine Disziplin, Chemie. Und Chemie verbindet Atome [mit ungeheurer] Präzision. Das machen wir nun seit hunderten von Jahren. Und wir kennen natürlich alle Chemie, und wir wissen, in Bezug auf Lackierungen bei Autos… Oder wir kennen es als Einwickelfolie oder als Stoff. Aber was jetzt wahrscheinlich möglich ist, als eine ganz neue Veränderung, dass man diese besondere Fähigkeit überträgt, und versucht, das mit Vorstellungen in der Optik und der Elektronik zu verbinden, so dass auf diese Weise neue Systeme erfunden und erschaffen werden können, die neue Fähigkeiten besitzen.
- Whitesides
- Es ist ganz klar, dass man nicht sie Sonne aushebeln kann, aber man kann eben ein Atom aushebeln. Und eine der Leistungen in der Nanotechnik besteht darin, dass man Strukturen geschaffen hat, wo man Atome an Orte bewegen kann, wo man sie einzeln bewegen kann. Im Prinzip kann man eine Kathedrale bauen, die nur einige wenige Atome hoch ist. Das ist eine amüsante Ide…
- Kluge
- Die auch nicht gesehen werden kann, die Kathedrale…
- Whitesides
- Nein, die kann nicht gesehen werden. Von normalen Menschen kann die nicht gesehen werden. Oder von extraordinären Menschen. Aber die Vorstellung ist die, dass diese Systeme immer noch Information manipulieren können, und sie können Information speichern, und sie können gleichzeitig auch in das Innere von lebenden Zellen eindringen und sehen, was dort vor sich geht. Das wäre eventuell interessant für viele Dinge, die wir im Augenblick noch nicht absehen können, und für einige, die wir auch absehen können.
- Kluge
- Wenn Sie mir da Beispiele geben….
- Whitesides
- Von etwas, was wir…
- Kluge
- Für beide Seiten.
- Whitesides
- Ich habe Beispiele genannt von Sachen, die man sich vorstellen kann. Man kann sich vorstellen, dass Computer erfunden werden, die so klein sind, dass sie im Grunde unsichtbar sind. Wenn ich jetzt auf meine Uhr blicke und mir vorstelle, dass es dort einen Speicher gibt, und dieser Speicher basiert auf dem Äquivalent einer CD, aber die Information, die da gespeichert ist, ist in der Nanometertechnologie und nicht in der Mikrotechnologie – das bedeutet dann, dass diese Uhr vielleicht das Äquivalent von tausend CDs speichern könnte. Ich weiß nicht, wie viel ich wirklich weiß. Aber es ist im Grunde genommen kein Wissen, was tausend CDs entsprechend würde. Da besteht also die interessante Aussicht, dass wir vielleicht in der Lage sein [werden], alle die Informationen, die wir wirklich brauchen, in dieser kleinen Uhr speichern zu können. Sodass im Grunde genommen in dem Augenblick, wo ein Kind geboren wird, wird im Grunde genommen das Wissen, das es braucht, gleich gespeichert.
- Text
- Die Savannen der Information
- Whitesides
- Aber dann besteht der Trick darin, dass wir vielleicht gar nichts mehr wissen müssen; wir müssen nur in der Lage sein, Dinge zu finden. Wie jemand bereits gesagt hat, es geht zurück auf die Vorstellung wieder zum Jäger und Sammler.
- Kluge
- Ja, wir gehen wieder in den Dschungel, oder in die Steppe, in die Savanne…
- Whitesides
- Ja, es ist die Savanne, aber es ist die Informations-Savanne. Denn was wir versuchen zu jagen und zu sammeln, das ist nicht Nahrung, sondern das sind Informationen. Wenn Sie jetzt ein Beispiel haben wollten, was wir uns nicht im Augenblick unbedingt vorstellen können, etwas, was man sich vielleicht in fünfzig Jahren verwirklichen könnte, vielleicht dauert es noch hundert Jahre, das wäre die Frage: Können wir jemals unsern Computer an unser Gehirn anschließen? Das würde die Natur der Menschheit vollkommen verändern, wenn man in der Lage wäre, Geräte zu bauen, die Hybride sind von biologischen Systemen und gleichzeitig von Informationssystemen. Wir können das im Augenblick natürlich nicht. Aber die ersten Schritte, dass wir da versuchen, zu erlernen, wie eine Schnittstelle funktioniert, eine Schnittstelle zwischen einem biologischen System und einem von Menschen geschaffenen System, das ist jetzt in den Bereich des Möglichen geraten.
- Text
- Bis zu 56 Bälle lassen sich optimal verpacken in Form einer Röhre oder Wurst / Ab dem 56 Ball ändert sich die Idealform in einen Cluster, d.h. einen Haufen / Das nennt man in der Mathematik DIE WURSTKATASTROPHE / Prof. Dr. Jörg Wills über Johannes Kepler und die MAGISCHEN UMSCHLAGSPUNKTE von Zahlen - -
- Text
- DER MATHEMATIKER
- Kluge
- Das Interessante ist ja, dass Kepler dieses Problem, wenn ich das richtig verstanden hab, am Rand einer Schrift, die er einem Freund gewidmet hat, aufgeführt hat. Also da ging’s um Schneekristalle…
- Jörg Wills
- So ist es…
- Kluge
- Das hat nun mal gar nichts mit Kugeln zu tun…
- Wills
- Das war sein Arbeitgeber aber in gewisser Weise auch Freund, soweit man das sagen konnte. Ein gewisser Herr Wacker von Wackerfels, dem er es zum Neujahrsfest 1611 gewidmet hat, diese Schrift. Und da ging es tatsächlich über die sechseckige Gestalt des Schnees, und Kepler hat da visionäre Ideen entwickelt, die man nur bewundern kann. Also keine strengen Beweise – anders als man sich das vielleicht von Mathemarikern oder Physikern vorstellt. Er hat schon die Idee gehabt, dass die sechseckige Gestalt mit dem atomaren Aufbau zu tun hat, das ist vielleicht noch nicht so überraschend. Aber er hat angenommen, dass die Materie aus kleinen Kügelchen besteht, und das ist ja haargenau die Idee, die man heute noch hat, wenn man nicht in den subatomaren Bereich geht, also das Atom zerlegt in Elektronen, Neutronen, Protonen, dann darf man die Atome als Kügelchen annehmen. Und diese Idee ist experimentell ja erst durch Max von Laue Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, genauer, 1911, bewiesen worden. Praktisch dreihundert Jahre vorher hat Kepler das gesehen.
- Text
- Prof. Dr. Jörg Wills, Mathematiker
- Kluge
- Das heißt, Kepler hat einen Schneekristalle gesehen, wie wir alle das sehen können, und er hat aufgrund der Symmetrie, wenn man das einzelne Schneekristall ansieht, hat er zurückgeschlossen, dass die Form, die ursprüngliche, sozusagen das kleinste Element dieser Form auch symmetrisch sein muss.
- Wills
- Er hat diesen ganz elementaren und genialen Gedanken gehabt, alle Schneekristalle, so unterschiedlich sie sind… Keine zwei Schneekristalle sind gleich, aber alle haben diese sechseckige Basisform. Und ich will mal sagen, vor ihm, vor der Renaissance hat man gesagt, das liegt am lieben Gott und hat nicht weitergedacht. Also typisch religiöse Einstellung und auch, wenn man so will, bequeme Einstellung. Und als Renaissancemensch – später Renaissancemensch – hat Kepler weitergedacht, und hat überlegt, woran liegt das; kam dann auf diese Kugelelemente , die auch ganz vage andere vor ihm schon gehabt haben, aber Kepler hat eben weitergedacht, ohne etwas beweisen zu können, und hat dann über diese Kugelform ein Problem aufgestellt, das sogenannte Keplerproblem eben.
- Kluge
- Was mir nicht ganz klar ist, ist, wenn man also einen Schneekristall betrachtet und man hat diese sechseckige Form, wenn man das einzelne Kristall betrachtet, und man hat immer eine sechseckige Form, egal, wie die Form…
- Wills
- … die Basisform…
- Kluge
- … die Basisform ist sechseckig. Wie man von diesem Sechseck auf eine Kugel kommt.
- Wills
- Ja, man muss dann halt weiterüberlegen. Dieses Sechseckige muss ja irgendwo im Kleinsten stecken. Und dann kommt man… die Idee des Unendlichen kommt herein, die natürlich die Menschen immer fasziniert hat, aber Mathematiker und Physiker ganz besonders. Und unendlich in zweierlei Hinsicht: das unendlich Große, dann kommt man zum Kosmos, wo Kepler ja auch wesentliche Beiträge geliefert hat, und das unendlich Kleine. Und das ist ein Gedankengang, der ist so modern – der wird immer modern sein. Er ist heute noch wichtig im Zeitalter des Computers und, ja, ich brauch das nicht zu vertiefen. Und eben, Kepler hat da weitergedacht, und kam drauf, dass die kleinsten Partikelchen, die kleinsten Einheiten durch den vollkommensten aller Körper, nämlich durch die Kugel, aufgebaut sein können. Diese Vollkommenheit, dieses absolut Runde erlaubte auch die Möglichkeit, im Formenreichtum keine Grenzen zu kennen. Und im Falle des Schnees, da müsste man jetzt vertiefen, kommt man mit gewissen Überlegungen auf das Sechseckige. Weil einfach, ich sage das mal ganz simpel, man an einen Kreis – ich drücke es eben aus, sonst wird’s zu schwer – an einen Kreis genau sechs andre gleich große Kreise anlegen kann. Das kann jeder in der Kneipe mit Bierdeckeln nachvollziehen, das passt genau zusammen. Und da haben sie schon diese sechs Kreise, das Sechseck.
- Text
- Schnee
- Text
- P(B2,C3), Packungsdichte 75 %
- Text
- P(B2,C3), Packungsdichte 73,6 %
- Text
- Keplersche Kugelpackung
- Text
- Johannes Kepler, Mathematiker und Astronom
- Text
- Das Kugelpackungsproblem in höheren Dimensionen/ Kugelpackungen als Codierung
- Wills
- Also Codierungen spielen eine Rolle bei Fragen, wie krieg ich einen sauberen Fernsehempfang, zum Beispiel transozeanisch über Satelliten, ohne dass es, wie früher, knackt und rauscht. Das Gleiche gilt für Telefongespräche, und es fällt ja allen auf, zumindest wer früher schon telefoniert hat, dass transatlantische Gespräche absolut klar und sauber sind. Oder denken Sie an CDs, warum sind CDs so absolut wiedergabetreu? Und das hängt mit der sogenannten Codierungstheorie zusammen. Und eine der Codierungstheorie-Grundlagen sind Kugelpackungen. Die Mittelpunkte der Kugeln sind sozusagen die Codewörter. Das ist etwas schwierig zu erklären, aber hochinteressant, und weit interessanter, eigentlich, als die Keplerfrage. Diese Kugelmittelpunkte sind, meinetwegen, in einem achtdimensionalen Raum durch acht Koordinaten gegeben. Und diese acht Zahlen – sagen wir, null-eins, null-eins; solche Sequenzen – bilden, meinetwegen, ein Wort, und geometrisch, mathematisch gesprochen, sind das die Mittelpunkt einer Kugel. Und mehrere dieser Mittelpunkt sind mehrere verschiedene Worte und im achtdimensionalen Raum hab ich jetzt sehr viel Platz, kann also sehr viele Worte einführen. Und die Idee ist jetzt, die Worte müssen sich hinreichend gut unterscheiden, das heißt, an mehreren Stellen müssen sie unterschiedlich sein, denn wenn, beispielsweise, sagen wir, der Buchstabe A nur aus Einsen besteht und der Buchstabe B nur aus Nullen, dann unterscheiden die sich an acht Stellen, dann könnte ich, meinetwegen, ein paar Nullen durch Einsen ersetzen, das wären die Störungen, die beim, meinetwegen, Flug zum Satelliten und zurück oder über den Ozean gestört werden, und trotzdem kann ich den richtigen Buchstaben identifizieren. Und andererseits sollen diese Worte dicht zusammen liegen, weil je weiter sie auseinanderliegen, desto teurer ist es. Das ist also eine energetische und Kostenfrage. Und diese Minimierung bei gleichzeitiger Maximierung, das ist ein Kugelpackungsproblem. Also die Tatsache, dass um jeden Mittelpunkt eine Kugel ist, hält die Worte auf Abstand, und dass sie dicht gepackt sind, bringt sie dicht zusammen, minimiert also die Energie. Und das sind Codierungsprobleme, und da beschäftigen sich Generationen von Mathematikern etwa seit Mitte des vorigen Jahrhunderts damit, um solche Dinge zu optimieren.
- Text
- Prof. Dr. Jörg Wills, Mathematiker
- Kluge
- Sie sprachen jetzt von acht Dimensionen: das war beispielhaft; also das ließe sich, das geht höher…
- Wills
- … höher. Also mein Arbeitsgebiet ist überhaupt nicht der Keplerbereich, sondern höherdimensional, vierundzwanzigdimensional und höher. Da gibt’s bestimmte Dimensionen, die sind besonders dankbar. Also acht und vierundzwanzig hab ich nicht ohne Grund gewählt, achtundvierzig ist auch so eine Zahl. Das hängt tatsächlich mit reiner Mathematik zusammen, die Besonderheit ist aber, dass diese reine Mathematik tatsächlich dickes Geld bringt. Ich war vor ein paar Jahren in, ich möcht mal sagen, der Zentrale für solche Dinge. Das ist von AT&T, von der amerikanischen Telefongesellschaft, die Labs, “Laboratorien” sagt man, und da sitzt sozusagen – bei New York, in New Jersey – da sitzt sozusagen die crème de la crème in Codierungstheorie, die machen solche Kugelpackungen. Die fangen so an, suchen die raus und werden dafür fantastisch bezahlt von AT&T. Und als die Sowjetunion noch stark war, war das andere große Zentrum in der Sowjetunion, und die hatten da auch fantastische Codierer der Weltspitzenklasse. Und die waren jedenfalls wesentlich besser als, sagen wir, Deutsche oder Franzosen oder Italiener.
- Text
- Wurstvermutung & Katastrophentheorie
- Wills
- Wir kennen ja, dass Tischtennis- und Tennisbälle, also ganz gewöhnliche, in einem Sechserpack verkauft werden, die so linear angeordnet sind in einer Plastikhülle. Und tatsächlich ist dort die Verpackung insofern optimal, als die Luft, die zusätzlich drin ist, die bei einer Packung von mehr als einer Kugel immer drin sein muss, minimal, optimal… Und im Dreidimensionalen geht das gut für kleine Kugelzahlen, das ist inzwischen per Computer bewiesen, bis fünfundfünfzig Kugeln; bei sechsundfünfzig ist es das erste Mal, dass etwas anders wird. Und in höheren Dimensionen, aber der Dimension fünf, nimmt man an, dass immer diese lineare Anordnung die bestmögliche ist. Das ist eine Vermutung von einem berühmten ungarischen Mathematiker, László Fejes Tóth, und der hat dieses Problem vor fünfundzwanzig, sechsundzwanzig Jahren gestellt. Das ist berühmt, das ist die “Wurstvermutung”.
- Text
- Prof. Dr. Jörg Wills, Mathematiker
- Wills
- Und im Dreidimensionalen und im Vierdimensionalen passiert Folgendes, wenn man jetzt die Kugeln aneinander reiht, wie zum Beispiel bei Tennisbällen im Dreidimensionalen eben schön vorstellbar, dann geht das bis fünfundfünfzig Kugeln gut, und wenn man noch eine hinzu tut, macht das so einen Sprung und wird so ein Cluster. Das ist sozusagen dieser Sprung, da wär der Ausdruck Katastrophe noch übertrieben. Aber im Vierdimensionalen passiert das etwas bei einer halben Million, etwas vorher. Das heißt, Sie können bis fast zu einer halben Million Kugeln aneinanderreihen, und der wenigste leere Raum ist bis zu knapp einer halben Million, und dann tun Sie eine einzelne Kugel zu, und der beste Fall ist plötzlich so ein – “Flupp” – so ein Cluster. Und dann springt das von etwas Eindimensionalem auf was Volldimensionales. Das kann man auch beweisen; man kennt die Zahl nicht, wo das passiert, aber es liegt ungefähr bei einer halben Million, und dann springt das eben auf so etwas. Und weil in der Zeit, als das entdeckt wurde, so vor ungefähr fünfzehn Jahren, siebzehn Jahren, war die Katastrophentheorie in der Mathematik “in”, und mit einem gewissen Gespür für, wenn Sie so wollen, mathematischen Humor und auch als Werbeeffekt – es ist ja bislang ein rein mathematisches Phänomen – wurde das dann genannt “die Wurstkatastrophe”…
- Text
- Warum sind erfahrene Juni-Fliegen so schwer zu fangen? / Fliegen haben ähnlich große Nervenzellen wie Menschen / Ihre Facettenaugen zeigen verblüffende Leistungskraft, wenn es um Navigation und die rasche Wahrnehmung von Bewegungen geht / Prof. Dr. Alexander Borst, Max-Planck-Institut für Neurobiologie, berichtet –
- Text
- DER FLIEGEN-FORSCHER
- Alexander Borst
- Also zunächst mal, entgegen landläufiger Meinung sind die Nervenzellen von der Fliege gar nicht kleiner als unsere, die haben bloß weniger. Das ist also ein sehr, sehr großer Vorteil für die Analyse, weil wir dann eben kein Netzwerk von hunderten von Millionen Zellen da vor uns haben, deren Verschaltung wir letztlich verstehen müssen, sondern das sind in dem betreffenden Gehirngebiet, das uns interessiert, das eben diese bewegten Bilder auswertet, auf jeder Seite des Gehirns nur sechzig Nervenzellen. Sechzig, also sechs-null. Das ist also [eine] sehr überschaubare Menge.
- Text
- Prof. Dr. Alexander Borst, Max-Planck-Institut für Neurobiologie
- Kluge
- Das heißt, das ist die Anzahl der Nervenzellen, die gewissermaßen hinter diesen einzelnen Facetten sitzt des Fliegenauges?
- Borst
- In diesem Zentrum für Bewegungsauswertung läuft die Information von den ganzen Facetten zusammen und zwar, sozusagen, schon vorverarbeitet für Bewegungssehen, speziell.
- Kluge
- Das Fliegenauge ist ja anders konstruiert als das menschliche Auge…
- Borst
- Richtig…
- Kluge
- …ganz wesentliche Unterschiede…
- Borst
- Genau. Die Art der Bildentstehung im Fliegenauge ist ganz anders als bei uns. Wir haben eine einzelne Linse, die dann eben auf diese Netzhaut projiziert, und dann hat man da ein Abbild der Umwelt auf unserer Netzhaut. Beim Fliegenauge ist es so, dass, sozusagen, das Bild gerastert zunächst über so viele kleine Einzellinsen abgebildet wird. Aber dann ist die Information eben auf diesen Nervenzellen dann auch wieder genauso da wie bei uns. Das heißt, die Bildentstehung ist zwar anders als bei uns, aber das Endergebnis ist qualitativ ähnlich. Man hat eine Projektion der Umwelt auf ein “array” von Nervenzellen, eben Fotorezeptoren in dem Fall. Und quantitativ gibt’s natürlich sehr große Unterschiede. Also das Auflösungsvermögen der Fliege ist sehr, sehr viel gröber als unseres. Also die können sozusagen ein oder zwei Winkelgrad unterscheiden, während wir da also Faktor hundert besser sind im Foveabereich.
- Kluge
- Also ist es nicht so, dass das Fliegenauge, wie das in den Filmen aus den fünfziger Jahren ist, diesen Facetteneffekt hat…
- Borst
- Ja, also es gibt zwei solche Vorurteile, die da verbreitet sind. Das eine ist, dass die Fliege quasi in jeder einzelnen Facette ein gesamtes Bild sieht, und das heißt, dann kommt dann also irgendwie die Frau mit dem “fly swatter” irgendwie dann eintausend Mal quasi auf die Fliege zu. Das stimmt nicht. Und das andere ist auch diese Art von Rasterung, das trifft auch nicht zu, weil im Prinzip ist unser Bild, was wir sehen, eigentlich auch gerastert, nämlich gerastert mit der Feinheit, wie wir eben Fotorezeptoren da haben, aber das empfinden wir nicht als Rasterung. Das heißt, die Fliege sieht sozusagen einfach ein gröberes Bild als wir.
- Kluge
- Wieso ist es so schwierig eine Fliege zu fangen?
- Text
- Warum ist es so schwierig eine FLIEGE zu fangen?
- Borst
- Weil – das ist auch eine gute Frage – weil die Fliege sozusagen kürzere Reizleitungswege hat. Vom Auge bis zu den ausführenden Muskeln im Thorax von der Fliege, wo sie dann eben Beinmuskeln zum Start oder so…, sind es ja nur einen halben Zentimeter, wenn’s eine große Fliege ist. Das heißt dieses Signal muss dann nur diesen kurzen Weg laufen, während es bei uns, wenn wir uns hier vornehmen, eine Fliege fangen zu wollen, dann muss sozusagen das bis herunter an die Armmuskeln, das muss also irgendwie einen Meter überwinden. Und das ist der Vorteil, den die Fliege hat. Wir haben zwar eine höhere Reizleitungsgeschwindigkeit als die Fliege, weil bei uns die Nervenzellen mit so einer Myelinscheide umgeben sind, die dann Faktor 50 vielleicht höhere Reizleitungsgeschwindigkeit geben, aber dadurch, dass die Fliege nur so einen kleinen Weg überwinden muss, das Signal, ist die Fliege im Vorteil und gewinnt.
- Text
- EVOLUTION der Fliegen
- Kluge
- Die Fliege evolutionär gesehen [ist] also ein Gliederfüßler, sozusagen darüber sind wir mit ihr verwandt. Wie alt ist dieses System, wenn man so will?
- Borst
- Na so dreihundert Millionen Jahre etwa.
- Kluge
- Und der Mensch, wie alt?
- Borst
- Der Mensch hat sich ja so in den letzten zwei Millionen Jahren so entwickelt, wie wir ihn kennen.
- Kluge
- Und dieses dreihundert Millionen Jahre alte System steckt gewissermaßen, was diesen Punkt betrifft… ist sozusagen bei uns noch vorhanden. Kann man das so sagen, oder ist das zu einfach?
- Text
- Männchen und Weibchen
- Text
- Rasteraugen
- Text
- Fliegenhirn
- Borst
- Also ob das jetzt sozusagen auf einen gemeinsamen Vorfahr zurückgeht oder ob das unabhängig sich entwickelt hat, weil einfach der Selektionsdruck in derselben Richtung ist, also ob das ein adaptiver Vorgang ist in der Evolution, das weiß ich nicht. Aber ich denke mir einfach, die Anforderungen für Bewegungsauswertung sind einfach gegeben, einfach sozusagen theoretisch da, und dann wird… in der Evolution auch unabhängig ähnliche Lösungen gefunden werden. So denk ich mir das.
- Text
- Beobachtung im Fliegenhirn
- Kluge
- Für die Entwicklung von, unter Anführungszeichen, intelligenten Maschinen wäre dieses Modell, also dieses Fliegenmodell inwiefern brauchbar, oder was kann man daraus lernen?
- Borst
- Okay, da gibt’s ganz konkret einige Gruppen, eine am CalTech und eine an der ETH in Zürich, die Chips bauen nach den Erkenntnissen, die wir und andere Gruppen über das Bewegungssehen der Fliege gewonnen haben. Und die setzen die auf Roboter auf und wollen damit autonome Roboter bauen, die eben sehen können, die automatisch steuern können ohne Fernbedienung.
- Text
- VLSI-Chips / Very Large Scale Integrated Circuits
- Borst
- Und das sind sogenannte VLSI Chips, also “Very Large Scale Integrated Circuits” sind das, [die] können ja relativ billig hergestellt werden. Und das ist sozusagen auch für uns ganz befriedigend zu sehen, weil, zum Einen, das ein ganz gutes Gefühl ist, dass es sozusagen an der Stelle “für etwas gut” in Anführungsstrichen, und andererseits wir dann auch mit diesen Robotern, wenn die dann mal so weit sind, wir dann auch quasi Testobjekte zur Verfügung haben. Weil man interessiert sich natürlich immer dafür: Warum ist das denn da so bei der Fliege, diese Verschaltung da? Ist das wirklich so, dass die Fliege damit besser gradeaus fliegen kann? Und das bewegt sich oft ja auch so im spekulativen Raum. Jetzt kann man, um diesen etwas zu erhärten, natürlich Computersimulationen machen, aber dabei gibt man natürlich gewisse visuelle Umwelten vor, und das sind noch lange keine natürlichen Umweltbedingungen. Und erst wenn man wirklich so einen Roboter hier in den Raum setzt und loslaufen lässt, dann wird man sehen, hubsi, wenn der plötzlich, “ffffft”, da eine Rechtskurve macht und gegen das Tischbein dann donnert, dann hat man noch viel nicht verstanden, würde ich sagen.
- Text
- Prof. Dr. Alexander Borst, Max-Planck-Institut für Neurobiologie
- Text
- Ein Stern wird geboren, lebt und stirbt / Ob er Leben und Planeten um sich hat, hängt von der Art des Staubes ab, aus dem er entstand / Ein bestimmter Teil der Materie in den Milchstraßen besteht aus Sternenwind und Staub / Prof. Dr. Erwin Sedlmayr, Astrophysiker, berichtet –
- Text
- DER STERNEN-FORSCHER
- Kluge
- Die Nähe sozusagen zum Leben ist ja bei diesen polyaromatischen Kohlenwasserstoffen recht deutlich…
- Erwin Sedlmayr
- Die ist sehr deutlich. Und wenn Sie jetzt die Zwischenstufen anschauen in dieser Acetylen-Kette – man startet ja mit Acetylen, Diacetylen, Triacetylen –, dann entstehen natürlich nicht nur diese Ketten, sondern in dem Moment, wo ein bisschen Sauerstoff da ist noch, entstehen ja auch Alkohole, Methylalkohol, Äthylalkohol; es entsteht vor allem natürlich Formaldehyd; es entsteht Essigsäure; und es entstehen sogar, wie man heute zweifelsfrei weiß, wenn sich noch NH2 an so eine Essigsäure anlagert, indem ein Wasserstoffatom ersetzt wird durch die Aminogruppe, entsteht Glycin. Und Glycin ist die einfachste Aminosäure. Die hat man jetzt im Weltall gefunden. Ob das jetzt wirklich [eine] Vorstufe zu biologischem Material ist, ist noch offen, aber [es] ist interessant.
- Text
- Prof. Dr. Erwin Sedlmayr, Astrophysiker
- Sedlmayr
- Naja, dann wird es größer und größer und größer und krümmt sich dann, und liefert so eine Zwiebelschalen-Struktur, so wie man diese “onion-like structures” hat oder teilweise flache Sachen wie eben graphitische Strukturen, technisch gesagt sp2-Bindungen.
- Text
- Zwiebelschalen-Struktur
- Sedlmayr
- Und man kann diese sogar zum Teil durch – wenn ein bisschen Energie da ist, ein energiereiches Photon –, kann man zeigen, dass diese Bindung, sp2, die Graphitbindung, übergeführt werden kann in eine sp3-Bindung, das ist jetzt Diamant. So können Sie auch kleine Diamanten da machen.
- Text
- Fabriken des Universums
- Kluge
- Und diese Fabriken, die da sozusagen im Weltall sind, in denen diese polyaromatischen Kohlenwasserstoffe entstehen: wie kann ich mir das… das sind sternartige Gebilde?
- Sedlmayr
- Das sind Sterne.
- Kluge
- Das sind Sterne. Wie groß sind die? Haben die eine…
- Sedlmayr
- Das sind, also wenn die Sonne sich entwickelt, wird sie ja zum roten Riesen, und dann Überriesen, oder so etwas, und es sind eben genau diese ausgedienten Sterne, die sind dann an der Oberfläche nicht mehr stabil…
- Text
- Beteigeuze, Roter Riese
- Kluge
- Wie groß sind die?
- Sedlmayr
- Die sind, sagen wir, tausendmal so groß, oder hundertmal so groß, wie die Sonne, im Zentrum. Die Hüllen sind natürlich noch einmal tausendmal so groß.
- Sedlmayr
- Überhaupt ist astronomisches Beobachten im Großen immer ein Blick in die Vergangenheit. Sie sehen ja nie ein Objekt, wie es heute ist, sondern wie es damals war, als das Licht ausgesendet wurde, das heute zu uns kommt.
- Sedlmayr
- Das Olbers’sche Paradoxon, das ist ja eigentlich älter. Kepler hat schon die Frage gestellt. Sie schauen abends in den Himmel hoch. Und dann sehen Sie etwa – in einem völligen Nachthimmel mit guter Sicht, sagen wir, Sie sind in Bayern auf irgendeinem Berg und schauen – sehen Sie etwa fünf-, sechstauend Sterne, wenn Sie keinerlei sonstiges störendes Licht haben und Lichtverschmutzung oder Wolken oder so. Jetzt ist es so, dass nach den Gesetzen der Optik Sie die Sonne nehmen könnten, die Sonne in sechstausend Teile zerlegen könnten, und diese Teile wie die Sterne am Himmel anordnen könnten. Nach den Gesetzen muss das genau die gleiche Lichtsumme sein. Und da hat Kepler die Frage gestellt, ja wieso ist der Nachthimmel nicht hell? Weil am Tag ist’s ja auch hell, da ist die Sonne da; und bei der Nacht, in Wirklichkeit, hat Kepler berechnet, brauch ich ja nur dreitausend Sterne gut, dann hätt ich dieselbe Helligkeit wie die Sonne. Und das, das hat später Olbers in einem anderen Zusammenhang ein bisschen exakter formuliert, ist das Olbers’sche Paradoxon. Warum ist der Nachthimmel dunkel? Überraschenderweise ist ja die Auflösung die, dass das Licht vieler Sterne uns noch gar nicht erreicht hat. Dass, letztlich kann man auch sagen, weil der Kosmos existiert, die Energiedichte des elektromagnetischen Feldes des Lichtes so abgenommen hat und rotverschoben ist – Sie kennen ja die Drei-Grad-Kelvin-Strahlung –, dass deswegen der Nachthimmel dunkel ist. Würden Sie die Drei-Grad-Kelvin-Strahlung zusammenschieben, wer [es] natürlich ungeheuer hell.
- Text
- Das Olbers’sche Paradoxon
- Sedlmayr
- Der Erste, der das Problem gelöst hat, wenn man heute das zurückschauend anschaut, war Edgar Allan Poe.
- Text
- Edgar Allan Poe
- Kluge
- Der amerikanische Schriftsteller…
- Sedlmayr
- Ja, der Schriftsteller. Der schreibt nämlich, dass der Nachthimmel dunkel ist, weil das Licht vieler Sterne uns heute noch gar nicht erreicht hat. Was genau die richtige Antwort ist. Und weil vielleicht das Alter der Welt endlich ist, sodass uns auch das Licht noch nicht erreicht hat. Aber er schreibt dann leider weiter, kein normaler Mensch könnte so etwas annehmen. Heute weiß man natürlich durch Einstein und die Kosmologie, dass ein Stern eben auch nur eine gewisse Lebenszeit hat, dass das eigentlich die Lösung des Olbers’schen Paradoxons ist.
- Text
- Prof. Dr. Erwin Sedlmayr, Astrophysiker
- Kluge
- Also eigentlich gilt Edgar Allan Poe als fantastische… Geschichte…
- Sedlmayr
- Fantastisch, ja, in “Heureka”. In seiner Abhandlung “Heureka”.
- Kluge
- Die sich jetzt aber nicht mit… die sich mit Astronomie befasst?
- Sedlmayr
- Die hat sich mit Astronomie befasst, also es sind da glaub ich, wenn ich mich recht erinnere, fast zweihundert Seiten, die eigentlich über Sterne gehen und so Sachen. Aber er war eigentlich ein Laie, und hat vielleicht deswegen diesen kühnen Gedanken formuliert, bei dem vorher alle anderen gescheitert sind. Um 1850 ist man letztlich völlig hilflos der Frage gegenüber ge[wesen], man hat sie einfach ignoriert.
- Text
- Prof. Dr. Erwin Sedlmayr, Astrophysiker
- Kluge
- Wann wurde sie sozusagen wissenschaftlich gelöst?
- Sedlmayr
- Ja wissenschaftlich wurde sie gelöst quasi durch die kosmologischen Modelle von Einstein und die Entdeckung von Hubble der Expansion des Kosmos.
- Text
- René Descartes, Begründer des MODERNEN DENKENS / Durs Grünbein, Träger des Büchner-Preises, arbeitet an einem neuen Vers-Poem, das der Entstehung des Hauptwerks von Descartes DISCOURS DE LA METHODE gewidmet ist / Eine Dichtung über den Winter und ein Denken, das aus der Kälte kommt / Durs Grünbein über den leidenschaftlichen Rationalisten Descartes –
- Kluge
- Verspoem über Cartesius, Descartes. Wie macht man das? In Hexametern, in Jamben? In was geht das?
- Text
- DAS MURMELTIER DES GEISTES/ Neues Vers-Poem von Durs Grünbein über DESCARTES
- Durs Grünbein
- Ich hab mir sagen lassen – weil du sagst, “Cartesius” –, Descartes mochte die Latinisierung seines Namens gar nicht so sehr. Er hat ja sozusagen sein Hauptwerk dann schon im Französischen geschrieben, aber natürlich auch einige andere, “prima philosophie” und so weiter, im Lateinischen. Was mich zum Beginn des Schreibens gebracht hat, war eine Episode aus seinem Leben. Und zwar um 1619 sitzt Descartes – der junge Descartes noch – in Deutschland fest, in der Nähe von Ulm in einem kleinen Dorf an der Donau. Es ist also Winter, quasi beginnender Dreißigjähriger Krieg, und er ist unterwegs nach Holland und sitzt nun aber fest, weil so ein strenger Winter ist. Und in dieser Zeit, schreibt er später immer wieder, hatte er seine ersten Visionen, die ihn dann zu seinem berühmten Hauptwerk, dem “Discours de la méthode”, geführt haben.
- Text
- Durs Grünbein, Autor
- Text
- Discours de la méthode
- Kluge
- Wie heißt das Hauptwerk?
- Grünbein
- Der “Diskurs über die Methode”. Da ist diese zentrale Einsicht am Ende drin, das “cogito, ergo sum”.
- Kluge
- Also “cogito ergo sum” – “ich denke, also bin ich”, heißt das so?
- Text
- “cogito ergo sum”
- Grünbein
- Ja, ja.
- Kluge
- Oder “ich denke, dass ich bin”?
- Grünbein
- Oder vielmehr, er versucht sozusagen, seinen Geist zu isolieren von allen Zufälligkeiten und herauszufinden, was ist es am Ende, das in uns denkt.
- Kluge
- Das ist eigentlich Gartenbau. Er grenzt sich ab, er baut ein Grundstück. Ein Grundstück der Verständigung.
- Grünbein
- Vor allen Dingen grenzt er sich einmal ab gegen die überkommene Philosophie, das ist wichtig; gegen Aristoteles, Platon, und so weiter. Er wird damit zu so einer Art Denkpositivist, der nur noch gelten lässt, was unmittelbar zugänglich ist durch die Reflexion.
- Kluge
- Und was ist das? Also, Unterscheidungsvermögen…
- Grünbein
- Naja, also er unterscheidet zunächst mal alles, was uns rein durch Schrift überliefert ist – unter anderem, Texte der Kirchenväter, und so weiter, die Scholastik, aber auch große Teile der überkommenen traditionellen Logik – das ist für ihn erstmal unbrauchbar.
- Kluge
- Warum?
- Grünbein
- Er verwirft es. Weil es ihn sozusagen vom Grundgedanken, von der direkten Reflexion wegführt. Und dann versucht er, und das ist die zweite große Einsicht… sozusagen die Grundstruktur der Ordnung der Dinge liegt bei ihm in der “mathesis”, also in der Mathematik. Alles ist quasi mathematisierbar. Am Ende wahrscheinlich auch der Geist. Und damit steht er genau da am Beginn dieser modernen Naturwissenschaft. Also kurz vor ihm gab es Francis Bacon und um ihn herum sind Leute wie Kepler am Werk, die neue Astronomie, die neue Physik, Dioptrie, das sind alles Dinge, mit denen er sich beschäftigt.
- Kluge
- Galilei sieht vier Jupitermonde… Das ist die Zeit…
- Grünbein
- Genau. Das ist ganz genau die Zeit.
- Kluge
- Leeuwenhoek nimmt Spucke und betrachtet sie durchs Mikroskop. Plötzlich ist im winzigen Kleinen Leben. Also [er] ist eigentlich expansiv, der Mensch. Er baut Grundstücke, Grundstücke der Liebe, der Beziehungen, er räumt in seinem Inneren auf, in seinen Bindungen, und das ist jetzt der Anfang der Philosophie.
- Grünbein
- Also der modernen, wenn man so will.
- Kluge
- Planung geistiger Grundstücke…
- Grünbein
- Ja, ja.
- Kluge
- Wie sieht er aus, wie er da in Ulm sitzt im Winter… Ein Franzose, also, in der schwäbischen Provinz.
- Grünbein
- Naja, er war ja, wie gesagt, relativ jung noch. Die klassischen Porträts, die man kennt, zum Beispiel das berühmte Frans Hals Porträt, da sieht man also einen Mann mit Lockenhaar, schulterlang, leichtem Bart, später auch schon ein wenig aufgequollenes Gesicht, aber in diesen Jahren, da war er noch – ich kann’s ganz genau sagen, wie alt war er denn – er war, glaub ich, Mitte zwanzig. Und es gibt auch ein Jugendporträt etwa aus der Zeit. Er ist ja dann kurz darauf noch ins Heer eingetreten, deutsches Heer, Kaiser Friedrich, da, Friedrich von der Pfalz, er war kurz zuvor bei der Krönung; ist aber kurz danach wieder ausgetreten. Das war nur, um irgendwie… den Unterhalt…
- Text
- René Descartes (1596-1650)
- Kluge
- Als Offizier-Adlatus, oder was war er da? Weiß man nicht genau. Wahrscheinlich auch Mathematiker?
- Grünbein
- Den Dienstrang hab ich nirgendwo gefunden. Aber natürlich, Eintritt ins Heer war durchaus… also, es war alles Mögliche; es war Unterhalt, es war aber auch zugleich eine Daseinsform in der Zeit. Da kam man natürlich auch wieder mit Gerätschaft in Berührung… Ein großer Teil der Intelligenz war ja sozusagen militärische Intelligenz, obwohl Descartes selber eher ein… er hielt sich lieber vom Krieg fern, um es so zu sagen. Er mochte den Krieg nicht.
- Grünbein
- Diese Hauptschrift, diese recht schmale, ist ja angelegt wie ein kleiner Entwicklungsroman. Er spricht dann auch da von seinen verschiedenen Wendungspunkten im Leben und das ist das, was bleibt. Das sind sozusagen die Errungenschaften am Ende. Und auf diesem Fundament jetzt kann er weiterbauen. Von da aus kann er jetzt in die verschiedenen Wissenschaftsbereiche hineingehen. Das ist ja auffällig, dass er – und insofern ist er ja wirklich einer dieser Multi-Denker der Zeit – dass er nicht nur streng Philosophie betreibt, sondern auch wirklich handfeste physikalische Forschung, Mathematik. Er hat sich mit Algebra beschäftigt. Soviel ich weiß, ist zum Beispiel Descartes der, der diese heute noch gebräuchlichen Buchstaben in die Gleichungen einführt, also das “a, b, c” und so weiter, “x, y, z” und so weiter. Er formalisiert Gleichungen auf neue Weise. Es gelingen ihm Entdeckungen. Das Brechungsgesetz, da hat er einen Beweis geliefert.
- Kluge
- Hier ist dieser junge Mann, dieses Wunderkind, sozusagen, den nennt man einen Dualisten. Er hat den Dualismus in der Philosophie erfunden. Was heißt das?
- Grünbein
- Naja, von Leib-Seele. Er ist derjenige, der sozusagen zwei große getrennte Substanzen annimmt: die “res cogitans” und die “res extensa”. Eine denkende Substanz, und eine reine ausgedehnte Substanz, der wir quasi gegenüberstehen.
- Text
- Durs Grünbein, Autor
- Kluge
- Also ein Stein, beispielsweise.
- Grünbein
- Ja, oder die Welt als solche, die noch ohne Gedanken ist. Also damit gibt es sozusagen einen Spiegel. Das ist ein streng dualistisches Weltbild. Descartes macht einen Unterschied zwischen unserm Gehirn und dem Himalaya. Ja, allerdings. Er geht übrigens so weit – da zeigt sich auch noch einmal der Dualismus –, dass er… das ist für mich, in meinem langen Verspoem gibt’s da mehrfach Stellen, die darauf eingehen… für ihn sind Tiere gewissermaßen ein Problem. Also er hält Tiere für Automaten. Sie faszinieren ihn, das sind also sowas wie kleine Maschinen, die unglaublich gut laufen, aber sie sind in gewissem Sinn nicht so beseelt wir wir. Sie haben sozusagen keine eigene Steuerung. Ihnen mangelt halt die Seele, ihnen mangelt vor allem die res cogitans.
- Kluge
- Sie sind auch empfindungslos, also beim naturwissenschaftlichen Versuch darf ich die Beine abhacken, im Gehirn rumwühlen, eine Auge entnehmen, um es zu erforschen.
- Grünbein
- So ungefähr. Viel Schlimmes passiert, ja.
- Kluge
- Das ist eigentlich ein sehr harter, grenz-setzender Standpunkt.
- Grünbein
- Es ist dieser knallharte, klassische Rationalismus, dafür steht er auch. Wobei man ihm oft wiederum auch Unrecht tut. Zunächst ist er als zeitgenössische Figur eine der reichsten Figuren, die wir kennen. Wir kennen ihn aus Briefwechseln, wir kennen ihn als Liebhaber, wir wissen von Freundschaften, und so weiter, und so fort. Also, sein Rationalismus ist, sozusagen, nur die Strenge der Methode. Aber unter anderm die führt, ja, die führt zu diesem Geist, aus dem heraus heute noch Tierversuche gemacht werden.
- Kluge
- Er ist eigentlich ein Chirurg des Gedankens; kann man das so sagen? Er ist auch sowas wie ein Grundstücksverwalter, so etwas wie ein Grundbuchamt des Gedankens. Was nicht, sozusagen, im Grundbuch eingetragen ist, ist kein Gedanke.
- Text
- Ein Chirurg des GEDANKENS
- Grünbein
- Wobei es eine strenge Ethik in dem Sinne bei ihm nicht gibt. Er denkt zum Ende hin…
- Kluge
- Nein, aber Architektur. Der Gedanke hat Fenster, Türen, Viereckigkeit, ein Dach…
- Grünbein
- Ja, das genau, genau. Und er physiologisiert das Denken natürlich schon. Es gibt dann eine große Schrift über die Seele, die Affekte, da wird das einmal zunächst zusammengefasst, was die Alten darüber dachten, aber dann geht es plötzlich ganz radikal modern weiter. Also dann kommen schon erste experimentelle Einsichten hier in die Philosophie hinein.
- Kluge
- Wer ist sein Feind, sein Gegner in der Philosophie zu seiner Zeit? Was ist der Gegensatz zu ihm?
- Grünbein
- Also die Gegner sind die strengen Aristoteliker. Das sind die Scholastiker, die ganze Schule von Thomas von Acquino und eben die ganze traditionelle Logik. Alles was sozusagen nicht empirisch ist, was rein idealistisches Denken ist, was nun seit damals auch schon tausendfünfhundert Jahren nur rein tradiert wurde. Das ist eigentlich sein Feind. Und da das die Kirche, die offizielle Kirchenposition ist, muss er da auch sehr aufpassen. Er ist offenbar einmal sehr bestürzt, als er von dem Urteil über Galilei hört, und von da ab ist er auch sehr vorsichtig. Das ist sehr charakteristisch, dass er in Paris mehrere Geistliche als Briefpartner hat und mit denen immer quasi austestet, wie weit kann man gehen.
- Kluge
- Galilei ist ja, hört man inzwischen aufgrund neuerer Forschungen, nicht wegen der Bewegung der Erde um die Sonne zum Abschwören gebracht worden, sondern weil er angefangen hat, die Hostie zu zerlegen, vor der Wandlung, nach der Wandlung, und gesagt hat, physikalisch ist da kein Unterschied. Dies wurde ihm sehr übel genommen. Die Kirche ist aber klug genug, ihn nicht das abschwören zu lassen, weil ja das Abgeschworene dann ein populärer Gedanke sein würde, sondern etwas anderes abschwören zu lassen. Deswegen wurde ihm auch nicht übel genommen, dass er anschließend wieder behauptet “und sie bewegt sich doch”.
- Grünbein
- Ja, was sie schon gar nicht mochten, war überhaupt erstmal, dass Fernrohre auf das All gerichtet wurden, auf den Mond und auf die andern Planeten. Das war auch schon ein Skandal aus Kirchensicht. Man schaut sozusagen nicht so scharf in Gottes Hinterhof.
- Kluge
- Was macht nun ein Poet damit? Was für Verse schmiedest du da?
- Grünbein
- Schmieden ist ein gutes Wort… Nein, es fing also vor ein paar Jahren an, da hatte ich nur einfach diese Urszene, wie ich mir vorgestellt hab, wie er da in diesem kleinen Häuschen da in dieser kleinen Stadt im tiefsten Winter eingeschneit liegt und es beginnt eigentlich nur erstmal mit dieser Zeile: “Monsieur, wacht auf. Es hat geschneit die ganze Nacht.” Ist gar nicht klar, wer da spricht. Ist auch bis heute nicht klar, ob er da nun ganz allein war, oder ob er wenigstens einen Diener bei sich hatte. Dann beginnt für mich, und das wirklich über mehrere Kapitel, so ein Gespräch. Ein inneres Gespräch, aber auch ein Gespräch mit dem Diener, sodass es also ganz viele Dialogpassagen [gibt]. Und da geht es so nach und nach um die Themen dieser Zeit. Also es geht über das Sehen, was ist Gewissheit, dann – das ist noch eine Formulierung von ihm – man “liest im Buch der Welt”. Eines Tages schlug er das große Buch der Welt auf, sagt er selber. Dann gibt es eine längere Passage über Traumdeutung, so hab ich es genannt. In Wirklichkeit ist es so, der Descartes – das ist übrigens eine merkwürdige Sache für einen Rationalisten – es gibt… in diesem Jahr hat er, wenn man so will, drei Visionen. In einer träumt er am Ende von einer Melone. Wieder wach geworden, fragt er sich, was hat das nun zu bedeuten? Und die Melone, zum Beispiel, ist für ihn dann ein Zeichen dafür, dass er sehr einsam sein wird; dass aber in dieser Einsamkeit eine Vollkommenheit ist, dass man praktisch seinem einsamen Weg folgen muss. Und von dem Moment an, sagt er, wusste er auch sehr genau, was er zu tun hätte. Also von jetzt ab konnte er sein Leben ‘nutzanwenden’. Bis dahin hatte er viel nach dahin und dorthin gef[orscht]…
- Kluge
- Was hat die Melone mit Einsamkeit zu tun oder mit Denken zu tun?
- Grünbein
- Ich weiß es auch nicht, wir müssen Freud fragen.
- Kluge
- Die Melone des Gedankens?
- Grünbein
- Ich weiß es auch nicht…
- Kluge
- Es ist eine südländische Frucht, im nordischen Winter bei Ulm…
- Grünbein
- Ich weiß nur, dass Becket das später mal aufgegriffen hat, und dass, meines Erachtens, so eine Figur wie Malone daher kommt. Das ist ein Wortspiel aus “alone” und “Melone”. Aber das geht nur im Englischen…
- Grünbein
- Unter dem Eis:
Dezembernacht. Der Himmel sternenklar glänzt poliert
Vom frischen Winterwind der mit der rauen Feile
Den Schnee zerraspelt hat zu scharfem Eiskrokant.
Verharscht die Felder wo sich Maus und Dachs beeilen
Die Pfote blutig, auf der Flucht vor einem Schatten.
Im Schlamm gefroren, bewachen Pfützen leere Weiden
Mit grauen Argusaugen. Der Polarstern glänzt
Wie im Theatrum anatomicum das freigelegte Herz.
Wie aufgeblasen dehnt das All sich, kolossal und grob
Die Erde schrumpft wie ein Planet vorm Teleskop.
Ein Stumpen schwelt. Der Rost im Ofen liegt blitzblank
Wie nach dem Mahl der Brustkorb des gebratenen Ochsen.
Im Umhang des Gelehrten sammelt sich die Winterkälte.
Kriecht in den Schnallenschuh, den weißen Spitzenkragen
Und malt Rosetten auf das Glas der Butzenscheiben.
Frostluft verstärkt im Dunkel die Konturen,
Spitzt Kinn und Nase, färbt die Lippen morgens blau.
Im Winter gleicht der Mensch dem eigenen Kadaver.
Steif liegt er da, wie aufgebahrt – das Bett ein Sarkophag.
Ein Schauder weckt ihn. Draußen schneits. Ein neuer Tag.
Descartes liegt wach. Auf seiner Stirn steht kalter Schweiß.
- Er hat geträumt
- von Amsterdam. Dort saß er nachts
Nackt auf den Pflastersteinen an vereister Gracht,
Umringt von Bettlern, zum Gespött der feinen Leute.
- Und einer rief
- Seht nur den Schlaukopf aus Paris.
Er angelt Linsen aus dem Eis und Spiegelglas. Er glaubt
Der Mensch sei transparent. Und ein bebrillter Zwerg
Kam im Galopp herbeigesprengt auf einer Knochensäge.
Der streute Salz in seine Augen, gell, das beißt.
Dann ließ er los, und pissgelb färbte sich das Eis.
- Text
- Kapitel 7: UNTER DEM EIS
- Text
- Ausschnitt aus dem neuen Vers-Poem von Durs Grünbein über Descartes
- Text
- Grundriss der Aufklärung im 17. Jh.
- Kluge
- Das ist aber interessant, dass du dich sosehr interessierst fürs siebzehnte Jahrhundert. Wenn ich irgendwie bestimmen könnte über die Zeit, dann würde ich ja versuchen, unser neues einundzwanzigstes Jahrhundert, wenn’s ein Wagon wäre, anzukoppeln an das sechzehnte Jahrhundert, als das ganze Denken die Fähigkeit, Eigentum zu bilden, die Fähigkeit, sich im Leben zu orientieren, die Welt zu erobern, an sich zu nehmen, als Europa noch jung ist… Kalt und jung…
- Text
- Linsenschleifmaschine von Descartes
- Grünbein
- Und die Zwischenzeit würdest du annullieren am liebsten?
- Kluge
- Da finde ich, das achtzehnte Jahrhundert ist mir einfach zu rhetorisch. Und das neunzehnte ist ein Verbrauch von Zeit, ein Elendsjahrhundert, das den Ersten Weltkrieg vorbereitet. Und ich würde gerne Abschied nehmen, und diese Wagons auskuppeln, und noch einmal anfangen. Da war die Welt jung - -
- Text
- Poesie des Fortschritts/ H.M. Enzensberger über sein Buch “Elixiere der Wissenschaft”
- Text
- RODNEY BROOKS ROBOTER OHNE KOPF
- Text
- DIE HIRN-FORSCHERIN / Mit Prof. Dr. Susan A. Greenfield (Oxford)
- Text
- DER NANO-FORSCHER / Mit Prof. Dr. George M. Whitesides (Harvard)
- Text
- DER MATHEMATIKER / Keplers Kugelpackungen und die Wurstkatastrophe
- Text
- Der FLIEGEN-FORSCHER / Warum ist es so schwer eine Fliege zu fangen?
- Text
- Der STERNEN-FORSCHER / Prof. Dr. Erwin Sedlmayr: Warum ist der Nachthimmel nicht heller als die Sonne?
- Text
- DAS MURMELTIER DES GEISTES / Durs Grünbein über DESCARTES
- Text
- u. a.
- Text
- DIE ORDNUNG DER DINGE / Wie poetisch ist die Wissenschaft?
- Die Ordnung der Dinge. Wie poetisch ist die Wissenschaft? Text
- Poesie des Fortschritts/ H.M. Enzensberger über sein Buch “Elixiere der Wissenschaft” Text: Rodney Brooks, Roboter ohne Kopf Text: DIE HIRN-FORSCHERIN / Mit Prof. Dr. Susan A. Greenfield (Oxford) Text: DER NANO-FORSCHER / Mit Prof. Dr. George M. Whitesides (Harvard) Text: DER MATHEMATIKER / Keplers Kugelpackungen und die Wurstkatastrophe Text: Der FLIEGEN-FORSCHER / Warum ist es so schwer eine Fliege zu fangen? Text: Der STERNEN-FORSCHER / Prof. Dr. Erwin Sedlmayr: Warum ist der Nachthimmel nicht heller als die Sonne? Text: DAS MURMELTIER DES GEISTES / Durs Grünbein über DESCARTES Text: u. a. Text: DIE ORDNUNG DER DINGE / Wie poetisch ist die Wissenschaft? Text: Hans Magnus Enzensbergers SIEBENUNDDREISSIG BALLADEN AUS DER GESCHICHTE DES FORTSCHRITTS sind legendär / Jetzt hat Enzensberger sein neues Buch DIE ELIXIERE DER WISSENSCHAFT herausgebracht / Die Poesie, sagt Enzensberger, ist seit einiger Zeit aus der Dichtkunst in die Wissenschaft ausgewandert / Ein SEITENBLICK auf die PRAKTIKEN DES MENSCHLICHEN GEISTES - - Alexander Kluge: Herr Enzensberger, “Die Elixiere der Wissenschaft: Seitenblicke in Poesie und Prosa” - Seitenblicke, was ist das? Text: POESIE DES FORT-SCHRITTS / Hans Magnus Enzensberger DIE ELIXIERE DER WISSENSCHAFT Hans Magnus Enzensberger: Ja, das ist keine frontale Operation, wo man sagt, ich bin jetzt der, der alles über die Wissenschaften weiß und Breitwand bildet, sondern ich bin ja auch nur ein Dilettant, sozusagen, fasziniert von den Wissenschaften, aber kein Ordinarius - ich beanspruche nicht eine Kompetenzkompetenz, sozusagen, und deswegen seh ich die Dinge auch auf ein… von der Kulisse, gewissermaßen aus, und manchmal sieht man ja aus der Kulisse etwas anderes, als wenn man im Publikum, im Parkett sitzt. Das ist ein anderer Blick, selbst auf dem Theater ist das so; es sieht ja ganz anders aus, wenn sie von der Seite reinschauen. Und man kann dann etwas vielleicht entziffern, gewisse Gesten, gewisse Bewegungen, kann man auf diese Weise besser sehen, einfach. Text: Hans Magnus Enzensberger, Autor Kluge: Sie fahren ja auch wirklich hin, also zum Beispiel Sie sprechen hier von Kathedralen der Moderne, unterirdische Kathedralen, und sie korrelieren das, was in Genf unterirdisch gebaut wird, was Sie wirklich gesehen haben… Text: CERN - European Organisation for Nuclear Research / Genf Enzensberger: Ja natürlich, man muss schon hingehen. Also das ist… der Blick aus der Kulisse heißt nicht der abstrakte Blick, sondern ist es ist schon… ohne eine sinnliche Anschauung wird das auch nichts, selbst bei den abstraktesten Sachen. Sehen Sie, sogar, wenn Sie sogar in ein mathematisches Institut gehen - das ist ja nun die abstrakteste Form der Wissenschaft - ist eine Atmosphäre… herrscht dort, die ist anders, und die muss man auch schmecken, wie die Leute dort sind. Zum Beispiel die totale Vernachlässigung der Äußerlichkeiten. Das ist sehr interessant, dass diese Leute, die ja manche von ihnen weltberühmte Leute sind, mit den schäbigsten Büros… das macht ihnen gar nichts aus. Was sie anhaben, das interessiert sie nicht, weil sie in ihrer Arbeit eine andere… einen anderen Glanz. Das ist ein andrer Glanz. Kluge: Mehr Sein als Schein…. Enzensberger: Das auch. Es gibt da sowas wie einen Höhenrausch in der Spitzenforschung, und da hat man keine Zeit übrig, sich um Statusfragen, zum Beispiel, zu kümmern; wer den größeren Dienstwagen hat, wie in der Wirtschaft oder der Politik, das gibt es dort gar nicht, das ist sehr interessant, natürlich. Und dann der Ton, der Ton der Gespräche - so dass man beim Mittagessen auf eine Serviette kritzelt… Kluge: Was man gefunden hat… Enzensberger: Ja, man kann ihnen auch schlechtes Essen vorsetzen, das merken die gar nicht, weil sie so hypnotisiert sind von den Problemen. Das ist doch sehr spannend! Das ist auch schon etwas; von außen gesehen, aber doch, man errät, was da vorgeht. Kluge: Was macht ein Mathematiker anders als normale Menschen? Sie schreiben hier: “Zugbrücke außer Betrieb”. Das ist die Zugbrücke zwischen Gesellschaft und Mathematik, die scheint irgendwie hochgezogen zu sein. Enzensberger: Naja, die Mathematik ist der Extremfall, sagen wir. Es gibt ja einen gewissen wissenschaftlichen Analphabetismus auch bei den sogenannten gebildeten Leuten, die traditionell mit ihren Humanwissenschaften, was man da halt so Geisteswissenschaften nennt, da gibt es ja natürlich traditionell… Das pflanzt sich dann in der Gesellschaft fort, bis in andere Leute, die auch nicht unbedingt studiert haben, die sagen dann: “Um Gottes willen! Damit bin ich in der Schule geplagt worden, davon will ich nichts mehr hören, und so weiter. Das ist jedenfalls der Zustand, der bis vor kurzem geherrscht hat. Ich bin allerdings in dieser Hinsicht optimistisch, weil sich in den letzten zehn Jahren da sehr viel geändert hat. Von den angelsächsischen Kulturen ausgehend gibt es eben doch eine breite Alphabetisierung in wissenschaftlichen Dingen, und ich glaube auch bei uns kann man feststellen, also es gibt jetzt Tageszeitungen, die jeden Tag über Wissenschaft berichten. Sowas war ja vor fünfzehn Jahren undenkbar. Das gab es gar nicht. Text: MATHEMATIK Kluge: Was ist das? Kluge: Mathematik: was ist das? Also in der Antike zeichnet so etwas… wie ein Ritter sich auszeichnen kann, kann einer, der Mathematik versteht, einen Ritter übertrumpfen. Das ist etwas Wirkliches. Enzensberger: Ja, das Wort heißt ja, “mathesis” heißt ja Lehre schlechthin. Die Griechen waren wahrscheinlich die Ersten, die das zu einer Leitwissenschaft gemacht haben, aufgrund von der man eben die ganze Natur verstehen kann. Das war ja wohl eines der Motive bei der ganzen Sache. Und natürlich gibt es die platonische Version der Mathematik, das heißt, die mathematischen Gegenstände haben sozusagen in der platonischen Sicht eine Existenz abgesehen von uns. Die existieren, präexistieren; wir entdecken sie nur. Und dann gibt es eine andere Version von mathematischem Denken, und das heißt, wir entdecken die Dinge nicht, wir erfinden sie, wie bauen sie, wir konstruieren sie; Konstruktivismus und so weiter. Egal wie man sich da philosophisch entscheiden will, ich glaube, die Frage lässt sich gar nicht so mit “ja” und “nein” beantworten… Ich sage, das hat auch etwas von einer Kathedrale. Wenn Sie eine Kathedrale aus Begriffen bauen mit atemberaubenden Höhen, sie kommen da sehr weit, und die Konstruktion also solche hat ja eine gewisse Schönheit. Also da gibt es einen gewissen ästhetischen Aspekt in der Mathematik, der auch sehr verführerisch ist, möcht ich mal sagen. Kluge: Das sind Poeten, auf ihre Weise. Enzensberger: Ja, und wissen Sie, die Leute verwechseln eben immer die Mathematik mit Rechnen, und Rechnen ist ja eine etwas langweilige Tätigkeit. Jedes Kind sagt mit einem gewissen Recht: gut, ein bisschen Kopfrechnen kann nicht schaden, aber im Übrigen, große Multiplikation, das kann doch ein Taschenrechner besser als ich; wozu muss ich mich da quälen? Darum geht’s aber in der Mathematik gar nicht. Das ist etwas ganz anderes, und viele große Mathematiker waren sehr schlechte Kopfrechner. Das hat sie auch gar nicht interessiert, das ist ja banal. Kluge: Aber wenn Sie mir mal solche Menschen beschreiben. Sie holen ja Ihre Lieblinge, wenn Sie so wollen, die sie poetisch dann auch mit Gedichten versehen, holen Sie aus dem sechzehnten, siebzehnten, achtzehnten Jahrhundert, nicht? Also das siebzehnte ganz besonders gern. Nehmen Sie mal Leibniz, beispielsweise, den Sie ja sehr liebevoll beschreiben. Sehr eigenartig, wie einen Außerirdischen. Text: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) Enzensberger: Ja, er hat etwas Monströses, natürlich, durch die extreme Konzentration auf diese intellektuelle Arbeit. Kluge: Er hat äußerlich eine Perücke auf, ist gepudert… ein Mann seiner Zeit. Enzensberger: Äußerlich wirkte er vollkommen angepasst eigentlich. Ein Hofmann, ein Rat, wie man damals sagte, ein geheimer, konsistorialer – nicht konsistorialer, aber so geheimer Rat. Kluge: Räumt Geld ab bei den Fürsthöfen… Enzensberger: Ja, und war eben auch, das ist für uns heute nicht mehr vorstellbar, der war nun auf tausend Feldern kompetent. Ich mein, er hat sich auch in [der] Praxis… war kein reiner Theoretiker, er war auch anwendungsorientiert und dadurch auch sehr nützlich. Er hat sich mit Bergwerken beschäftigt, zum Beispiel, er hat sich mit Geldoperationen beschäftigt, aber das alles auf der Basis einer, was er nannte, “mathesis universalis” – das heißt, er wollte einen Schlüssen finden, wie man in verschiedene Bereiche des Lebens eingreifen kann. Kluge: Weil nach seiner Meinung alles gewissermaßen durchmathematisiert ist. Enzensberger: Ja, er sagte ja auch: “Das ist das Denken des lieben Gottes, die Mathematik” – so ähnlich hat er das ausgedrückt. Text: Hans Magnus Enzensberger, Autor Enzensberger: Und von daher, natürlich, in der Anfangsphase einer Wissenschaft, wenn sie ihre großen Fortschritte macht, neigt jede Wissenschaft ein bisschen, sagen wir zur… ich möchte nicht sagen zum Größenwahn, aber es kommt der Sache nahe. Also die Vorstellung, dass man die ganze Realität packen, erfassen kann, das ist in der okzidentalen Wissenschaft sehr früh aufgetaucht. Dieses Motiv, dass man sozusagen den Generalschlüssel für die Welt in die Hände bekommen kann. Das war in der Physik sehr früh der Fall. Interessanterweise, in der Biologie ist das viel später passiert. Die Biologie ist ja im Vergleich zur Physik eine junge Wissenschaft. Da gibt es, da brauch ich meinen Spickzettel… das ist auch interessant; Newton, Galilei, Kopernikus, das ist ja lange her… Enzensberger: 1604, 1616… Enzensberger: Ja, während die großen Schritte in der Biologie, die sind relativ jung. Also Mendel, 1865; Darwin, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Text: Gregor Mendel (1800-1899) Text: Charles Darwin (1809-1882) Enzensberger: Und dann die Sache, dass, zum Beispiel, um ein Lebewesen zu erzeugen, Ei und Samenzelle verschmelzen müssen: 1875 entdeckt, von Oskar Hertwig. Mendelsche Gesetze: 1865. Kernteilung – die Verdoppelung beim Wachstumsprozess –: 1880 von Fleming. Und dann unser großer, halb vergessener Theodor Boveri, vor genau hundert Jahren, 1902, die Chromosomentheorie. Text: Theodor Boveri (1862-1915) Enzensberger: Das ist eine ganz junge Wissenschaft, und deshalb hat sie auch noch dieses… Kluge: …etwas Alchimistisches.. Enzensberger: … ja, und auch den Machtanspruch, das grenzt dann an Übermut, das ist dann die Hybris, die daraus entstehen kann. Und wir haben ja heute… die Lebenswissenschaften fühlen sich als Leitwissenschaften, haben die Eierschalen der Reduktion, den Reduktionismus noch; also philosophisch sagen wir auch in einem naiven Studium; naive Erkenntnistheorie – “wir werden das alles in den Griff kriegen”; Allmachtsphantasien, manische Phase… Text: HYBRIS DER LEBENS-WISSENSCHAFTEN/Allmachtsphantasie von Gen-Biologen Enzensberger: Ich hab mal einen Essay geschrieben, der ist auch da drin, der heißt: “Putschisten im Labor”, und da komm ich darauf zu sprechen, dass diese Wissenschaft sozusagen in ihrer Sturm & Drang-Phase ist, also die Vorstellung hat, sie können alle Probleme lösen, sie können alles reduzieren, sie können alles ableiten. Also auch hier die Idee des Generalschlüssels, zum Leben, hier in diesem Fall. Lassen sich nichts sagen; Gesetze, die die einschränken würden, empören sie. Text: Putschisten der Wissenschaft Enzensberger: Das ist schon ein merkwürdiges Verhältnis, das da vorliegt, und meine Erklärung dafür ist auch, dass die Utopie, die in unserer Geschichte sehr lange politische Utopie war… ist gewissermaßen in die Wissenschaft abgewandert. Das heißt die großen Menschheitsversprechen, die früher, sagen wir beispielsweise, der Kommunismus dargeboten hat… Kluge: …der sozialistische Mensch, der veränderte Mensch, der neue Mensch… Enzensberger: …der neue Mensch ist heute ein biologisches Produkt. Also in der ideologischen Seite, es ist ja interessant. Und auch die Versprechungen, die Heilsversprechungen, bis zu Unsterblichkeitsversprechungen, werden von gewissen Wissenschaftlern vorgebracht. Es gibt natürlich Wissenschaftler, die das sehen, die nicht diese… Außerdem kommt noch etwas anderes dazu, weil das Ganze ja natürlich eine riesige Industrie ist. Das heißt, es kommt auch noch ein Motiv dazu, ein Druck, ein ökonomischer Druck, der dazu führt: um an der Börse zu reüssieren, muss ich Versprechungen machen. Also da ist eine ideologische und eine ökonomische Seite, und viele Wissenschaftler haben Schwierigkeiten, die beiden zu unterscheiden. Die merken gar nicht, was mit ihnen getrieben wird. Text: Genealogie des Omnipotenz-gefühls/Projektmacher in der Wissenschaft Kluge: Sie fangen ja an mit Spalanzani, beispielsweise, also Projektemachern. Enzensberger: Projektemachern, die eigentlich ohne die technischen Mitteln zu haben doch schon in einer Art intuitiven Wissenschaft die Möglichkeiten vorhergesehen haben. Übrigens gibt’s auch einen Text von Diderot, der sehr interessant ist in der Beziehung, der auch spricht, dass das alles aus einem Ei kommt. Das konnte er wissenschaftlich gar nicht beweisen; die Wissenschaft war gar nicht auf diesem Stand. Und es ist sehr interessant, es gab ja eben gerade um diese Wende des achtzehnten Jahrhunderts eine Explosion von Ahnungen, möcht ich mal sagen, wo die theoretische Intelligenz ihre Fühler ausgestreckt hat, sehr weit, das ist ja sehr merkwürdig. Und wir haben in Deutschland ja auch einen Herd dieses Phänomens. Man könnte fast sagen, dass damals eine neue – das ist ein großes Wort – eine neue Form von Intelligenz auf die Welt gekommen ist. Es ist ja nicht so, dass… Kluge: Wann war das? Enzensberger: Ja, ich denke so in dieser Zeit: Aufklärungszeit und dann bis in die [Zeit], was man dann Romantik so nennt, also mit Epochenbegriffen bei mir… Kluge: An der Nahtstelle… Enzensberger: An dieser Nahtstelle, ja. Und das ist ja auch nicht nur, natürlich, ein deutsches Phänomen. Ich mein, in Frankreich ist ja auch notorisch, was da alles passiert ist. Jedenfalls war das eine ungeheure… eigentlich beneidet man die manchmal ein bisschen, diese Zeit, weil die hatte natürlich auch diese Frische und Unbefangenheit und fast Frechheit des Denkens. Also eine Intelligenz, die Grenzen sprengt. Kluge: Beschreiben Sie das nochmal näher: da haben Sie gleichzeitig die Gewerbefreiheit… Enzensberger: Ja, das hat sich auch zu… Kluge: … also nicht mehr nach Zünften, wie die Meistersinger arbeiten, sondern man ist sozusagen freigesetzt. Jeder darf, eigentlich, alles was nicht verboten ist. So wie 1989 in der DDR bricht sozusagen eine ständische Gesellschaft auf. Enzensberger: Ja, nicht kampflos, das war gar nicht so einfach, weil die ökonomischen Verhältnisse natürlich auch sehr drückend waren für viele dieser Gelehrten – besonders in Deutschland, wegen der Kleinstaaterei. Und ich erkläre mir das auch ein bisschen so, wenn man sich da reindenkt in diese Situation: man wächst irgendwo auf dem Land auf, und dann kriegt man ein Stipendium, dann muss man behaupten, dass man Theologie studiert, damit man überhaupt rauskommt aus dem Elend… Kluge: Da wird man aber gefördert… Enzensberger: Wird man gefördert, und dann lässt man die Theologie weg, und dann fängt man an… Das ist auch, wissen Sie, wenn Sie sich in einer Gesellschaft nicht seitlich bewegen können, in der gesellschaftlichen Mobilität in Statusfragen, dann liegt es nahe, nach oben zu gehen. Sehr typisch für die deutsche Geistesgeschichte ist ja diese Flucht nach oben, nenn ich das. Das heißt mir es bleibt mir gar nichts übrig, weil in diesem Kuhdorf… Kluge: Die Flucht in die Karriere… Die Flucht in die Selbstverfertigung… Enzensberger: … in diesem Kuhdorf, wo die Gänse über die Straße gehen – Weimar – zu einem Weltphänomen zu werden, gibt es nur einen Weg, und der führt hierüber [deutet auf seinen Kopf]. Das ist ja ganz klar. Und da gibt es sehr viele, manche sind steckengeblieben, nicht alle haben es geschafft, aber jedenfalls ist das was die Produktion betrifft ja ziemlich einmalig. Kluge: Und gleichzeitig expandiert diese Art von Menschheit, von mitteleuropäischer Menschheit, über die ganze Welt. Alexander von Humboldt in Südamerika… Enzensberger: Gut, einen Schritt weiter, wenn dann natürlich die ganze Kolonisierung der Welt eintritt, die ersten Keime eines Weltmarkts entstehen, dann gibt es auch sowas… Heute sind wir ja voll in einem intellektuellen Weltmarkt. Denn ich meine, jemand, der heute in Tokio irgendetwas entdeckt, da ist die Email in Sekundenschnelle überall auf der Welt da. Die Kommunikationsmittel sind auch anders. Obwohl man sagen muss, gerade jemand wie Leibniz hatte ja eine riesige Korrespondenz, da gab es auch schon eine Vernetzung jedenfalls innerhalb Europas, wo diese Leute einander zugearbeitet, einander bekämpft – es gab Konkurrenzkämpfe, Prioritätenkämpfe, die berühmte Sache da zwischen Newton und Leibniz, die sich da in die Haare kriegten, wer zuerst die Differenzialrechnung… Kluge: Aber beide hatten sie sie… Enzensberger: Beide hatten sie natürlich, auch gleichzeitig. Auch interessant. Enzensberger: Der Begriff homo sapiens ist ja etwas hochgegriffen, wenn man das Benehmen dieser Spezies betrachtet. Kluge: … die sind nicht weise … Enzensberger: So weise kann man das eigentlich nicht nennen. Kluge: Sagt man auch “savant”? Nein, ist nicht die Übersetzung? Wie könnte man’s übersetzen in eine andere Sprache? Enzensberger: Ja, zwischen weise und wissend. Die philosophische Weisheit ist nicht unbedingt gemeint. Und es ist ja etwas richtig dran; daher kommt ja die Wissenschaft auch, weil das eine Spezies ist, die das treibt, aus Gründen, die wahrscheinlich, wie Sie sagen… aus Notwendigkeit, aus Realitätsdruck.. Kluge: Was wär der Gegenpol? Homo barbarus, wär das ein Gegenpol? Enzensberger: Ich weiß nicht. Ich hab schon ein bisschen Schwierigkeiten mit den Barbaren, denn das, was die Griechen Barbaren nannten, waren ja eigentlich nur [die], die nicht Griechisch sprachen. Text: Hans Magnus Enzensberger, Autor Enzensberger: Und das ist ja kein sehr gutes Kriterium. Kluge: Die man gut ausrauben kann. Enzensberger: Natürlich muss man sagen, das ist die eine Seite, diese sogenannte Intelligenz, wobei wir nicht genau wissen wie wir die definieren sollen. Es gibt ja auch diese ganzen IQs, diese ganzen Tests, sind ja völlig kindisch, sind ja absurd. Intelligenz ist in diesem Sinne ja gar nicht messbar. Kluge: Diesen Menschen, den Sie sehr mögen, zwischen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, meinetwegen Brentano: den nennt man auch “homo compensator”, der etwas Neues lernt, nämlich im Verhältnis zum Menschen auszugleichen. Ein Gleichgewichtsmensch. Enzensberger: Ja, die These vom Mängelwesen auch, dieses Mängelwesen, dieses irgendwie wehrlose… Kluge: Und produziert jetzt nicht nur Wissenschaft sondern Gleichgewichtsverhältnisse. Das wär was Neues gewesen. Enzensberger: Ja, da muss man dann auch die Künste sehen in Relation zur Wissenschaft. Das ist ja auch kein stabiles Verhältnis, sondern es gibt Phasen, in denen sicherlich die Kunst, die Künste – also die Literatur, die Musik, die Dichtung – irgendwo die produktivere Seite darstellen… Kluge: Die kooperativere auch… Enzensberger: Könnte man vielleicht vom Mittelalter sagen. Und dann gibt es Phasen, in denen diese Intelligenz sich irgendwie verlagert, und die Produktivität eher auf eine andere Seite… Ich denke wir – mir macht das gar nichts aus, ich bin ja selbst ein Schriftsteller, aber mir macht es gar nichts aus zu behaupten, das heute ein Teil dieser imaginativen Produktion auf die Seite der Wissenschaft abgewandert ist. Und wenn man so sieht, wo die glänzendsten Arbeiten, die glänzendsten Produktionen entstanden sind… Ich behaupte zum Beispiel, dass wir in einem goldenen Zeitalter der Mathematik leben. Das merken die Leute gar nicht so. Kluge: Da gibt es einen Mann, den Dirac, und der entwickelt eine mathematische Formel in den zwanziger Jahren, die fordert allerdings, dass es eine Spiegelwelt gibt. Die ist auf der Höhe von “Alice im Wunderland”. Text: Paul A. M. Dirac Enzensberger: Ja das ist ganz richtig, überhaupt gibt es ja… Kluge: Zehn Jahre lang lachen alle darüber und dann erweist sich, dass in der Natur das vorfindbar ist. Text: Materie und Antimaterie im Zusammenstoß Enzensberger: Natürlich, da ist die ganze Quantenmechanik gar nicht auflösbar ohne diese Mittel, die der Mann da sich, ja… die ihm eingefallen sind, sagen wir einmal ganz bescheiden. Kluge: Aus Schönheit. Er hat gedichtet. Das würden Sie sagen, das ist mein Kollege. Das ist sozusagen vom Seitenblick her… Enzensberger: Naja das ist etwas hochgegriffen, aber ich meine, es ist auch sehr interessant: Wissenschaft ist ja auch nicht möglich ohne eine Art von Erzählung. Ich meine, natürlich, wenn Sie so eine Formel sehen, dann denken Sie, das ist keine Erzählung. Aber was die Formel bedeutet, ist nur darstellbar, wenn ich eine Geschichte dazu habe. Text: Erst das Wort, dann die Empfindung Enzensberger: Gab es in Deutschland die Empfindsamkeit, gab es empfindsame Menschen? Die gab es erst, seitdem Herr Lessing das Wort “empfindsam” erfunden hat. Kluge: Und jetzt bemerkt jeder an sich Empfindsamkeit. Enzensberger: Empfindsamkeit, ja. Und so ist unser Weltverständnis jetzt auch charakterisiert durch die Sprache der Wissenschaft, die äußerst erfinderisch ist, und sehr produktiv. Die erfinden ja die tollsten Sachen, da brauch ich wieder meinen Spickzettel hier. Ich hab mir da mal so eine Liste aufgeschrieben, das ist ja irre, da gibt es also in der Kosmologie, in der Physik, gibt es “Fackeln”, “Sonnenwinde”, “Tierkreislicht”, “galaktisches Rauschen”; da gibt es die “Dunkelwolken”, “verbotene Linien” gibt es, dann gibt es “Wurmlöcher”; “schwarze Strahlung” gibt es da… Kluge: …“dunkle Materie”… Enzensberger: …“gekrümmten Raum”; das muss man sich alles mal auf der Zunge zergehen lassen; den “Quantentunnel”, und in der Mathematik – man kann da ewig weiter – da gibt’s den “Cantorstaub” und “wilde Knoten”. In der Mathematik gibt’s “wilde Knoten”! Kluge: “Entartete Materie” ist auch ein Ausdruck. Enzensberger: Ja. Und da kann man eigentlich die nur beneiden um ihre Prägekraft. Das würde man manchem Dichter eigentlich wünschen, dass er in der Lage wäre, solche großartigen Metaphern zu finden. Kluge: Sie zitieren ja da einmal die Benennung der momentan für elementar gehaltenen “starken Wechselwirkung”. Das sind drei Kräfte: “Three Quarks for Muster Mark” heißt es bei Joyce. Das ist ein verballhorntes… Enzensberger: Ja, das hat der direkt von “Finnegans Wake” genommen. Kluge: … drei Viertel Bier, Dubliner Bier, aus Finnegans Wake. Enzensberger: Da gibt’s Schnittflächen. Ich würde heute behaupten, es muss… Kluge: Da kommt der Ausdruck “Quark” her. Enzensberger: …zwischen der wissenschaftlichen Intelligenz und künstlerischen Intelligenz gibt es Schnittflächen, und es gibt sogar, ich möchte es sagen, es gibt ein gemeinsames ästhetisches Verlangen, wenn man das so nennen kann. Denn auch ein Mathematiker oder ein Wissenschaftler möchte, dass seine Theorie nicht nur stimmt, stringent ist, sondern er möchte auch, dass sie elegant ist, er möchte eine elegante Lösung. Und was bedeutet das? Das bedeutet natürlich, es ist ein ästhetisches Kriterium. Text: Carl Friedrich Gauss (1777-1855) Kluge: Wenn Sie Gauß mir mal beschreiben. Ein Mann, der am russischen Hofe sehr viel Vollmachten hatte. Der durfte, sozusagen, auf elegante Weise geometrische Figuren in sibirische Wälder kilometerweit einritzen, damit fremde Intelligenzen, die uns mit Fernrohren beobachten, sehen, wer hier sitzt… Enzensberger: …sehen, da denkt jemand; hier, auf diesem Planeten, denkt jemand. Kluge: Also Unternehmer und Denker. Enzensberger: Ja, und dann eben natürlich fantastisch an diesem Gauß, das gefällt mir auch sehr, dass der ja nie aufgehört hat. Der hat nicht nachgelassen, das ist auch etwas Merkwürdiges. Ich glaube, dass das auch etwas Vital-Belebendes hat; diese Art zu produzieren hat etwas, was… Der geht ja nicht in die Rente. Das Gehirn, es ist nicht pensionierbar. Kluge: Einem Außerirdischen, einem Besucher vom Sirius gegenüber: wie würden Sie dieses Menschenhirn beschreiben? Enzensberger: Naja, das ist ja irgendwie ein ziemlich rätselhaftes Organ. Heute ist die Hirnforschung auch eine extrem wichtige Wissenschaft geworden, Disziplin geworden, und man hat ja alle möglichen Methoden erfunden, das sichtbar zu machen, was im Gehirn vorgeht, und ist ja alles sehr faszinierend und sehr spannend. Nur an die eigentliche Frage kommt man mit diesen Mitteln ja nicht ran. Es gibt ja nach wie vor das: was ist Bewusstsein? Diese Frage kann die Hirnforschung ja eigentlich nicht beantworten. Kluge: Und offenkundig ist es nicht nur im Kopf, in dieser geschützten Zone, durch Knochen geschützt, sondern offenkundig überall vorhanden. Das ist ein Gemeinwesen. Enzensberger: Ja, nein, das Nervensystem, Zentralnervensystem, das Rückenmark, das denkt ja alles. Und es gibt einen amerikanischen Forscher – das ist auch sehr interessant – der hat von einem zweiten Gehirn gesprochen, und das sitzt hier. Das ist das Gehirn, das kontrolliert… Kluge: … wo der solar plexus ist, oberhalb des Magens, sozusagen, so das nervöse Zentrum ist. Wo wir behaupten, da läge das Herz. Enzensberger: Ja, früher nannte man das das Herz; er hat es etwas weiter nach unten verlagert. Aber das ist ja bis zu einem gewissen Grad autonom von diesem Gehirn [deutet auf seinen Kopf], von dem Großhirn; das operiert ja auch, ohne dass wir es wissen. Kluge: Wenn es aber unruhig ist, dann kann auch die ganze Strahlfähigkeit des Gehirns nicht nützen. Enzensberger: Dann kommt alles durcheinander. Nein nein, das muss schon funktionieren, und das hat auch eine gewisse Homeostase. Das heißt, durch komplizierte Ausgleichsmechanismen schafft es Balancen her [sic]. Und da hat der ein ganzes Buch geschrieben, das heißt “The Second Brain”. Das ist sehr interessant, natürlich. Kluge: Sehr interessant. Enzensberger: Ja, aber die Bewusstseinsfrage ist nach wie vor die härteste Nuss, die zwischen Philosophen, Informatikern und eben Hirnforschern, Physiologen sehr umstritten [ist]. Da gibt es auch sehr interessante Diskussionen darüber, das ist ja ganz klar. Nur diesem Außerirdischen, dem wird man das nur dann halbwegs verständlich machen können, wenn er selbst ein Organ entwickelt hat, das ähnliche Komplexitätsgrade hat. Sonst würde er ja nicht eintreffen, wenn er das nicht hätte. Dann könnten wir nicht mit ihm Verbindung aufnehmen. Text: DIE POESIE DER WISSENSCHAFT Kluge: Wenn Sie hier in Ihrem Kapitel “Die Poesie der Wissenschaft” schreiben, gehen Sie ja erstmal sehr weit, indem Sie sagen, möglicherweise weiß die Menschheit im Moment gar nicht, wo ihre poetische Qualität sich verwirklicht. Sie glaubt es noch, dass das in der Literatur geschähe, oder in der Vergangenheit liegt. In Wirklichkeit sind die Wissenschaften dabei, eine neue Poesie, ein Netzwerk… Enzensberger: Das ist eine starke These, aber man kann einiges zu ihren Gunsten anführen. Zum Beispiel, das betrifft ja die avanciertesten Wissenschaften am meisten – wie gesagt, die Biologie ist eine relative junge Wissenschaft, die ist noch lange nicht auf dem Stand… Kluge: Unreif, pubertierend. Enzensberger: Unreif, gewissermaßen. Während in der Physik: die Physik hat einen Zustand erreicht, in der, sagen wir, der Vulgärmaterialismus, das heißt: “Wir können alles erklären” – wie der Laplacesche Dämon – also “wenn ich die genauen Daten habe, kann ich alles vorhersehen”… Kluge: Was doch die Sache selbst erledigt und variiert [unverständlich]… Enzensberger: Diese deterministische Vorstellung, von der hat sich die Physik ja längst verabschiedet. Und was die Kosmologie, Astrophysik und die Partikelphysik, die Teilchenphysik, was die uns heute erzählen, könnte man auch bezeichnen als Mythen. Die spielen eine ähnliche Rolle, das hat eine ähnliche Funktion. Es ist nicht identisch mit einem griechischen Mythos, aber es hat für unser Bewusstsein eine ähnliche Funktion. Das heißt das sind Bilder, die uns die Welt verständlicher machen, so wie die alten Mythologien, die haben ja dem gleichen Zweck gedient. Ich konnte mich orientieren in der Welt, weil ich wusste: Venus ist die Liebe, Zeus ist der Donner, und da konnte man sich alles Mögliche erklären dadurch. Jedenfalls erklären in dem Sinn, dass man es glaubt, verstanden zu haben; dass man nicht mehr fremd in dieser Welt ist, sondern ein Verständnis von ihr gewinnt. Und so ist das ja heute auch, dieses Universum, das da beschrieben wird in den Wissenschaften. Und das ist, wie gesagt, anhand von Erzählungen. Die Geschichte des Urknalls und die Entfaltung des Universums aus diesem Ereignis, wie wird der im Einzelnen beschrieben: die Expansion, die Rotverschiebung, und so weiter, diese ganzen Sachen – das ist ja auch ein Mythos, also, analog zu einem Mythos. Das ist auch eine sehr starke Produktion, denn es ist nichts Leichtes, es ist nichts Simples. Nicht jeden Tag wird ein Mythos gebildet. Das ist doch stark. Text: Hans Magnus Enzensberger, Autor Kluge: Wenn ich da mal Ihre Aufmerksamkeit drauf lenken darf: da gab es einen Kongress in der DDR zu Zeiten, als diese Republik noch sehr viel Selbstbewusstsein entfaltete. Und die sagten, eigentlich verschwenden Sterne durch den Sternenwind – blaue Riesen, junge Sterne – ihre Materie. Sie gehen nicht sparsam vor. In einer Planwirtschaft ganz unmöglich: wir müssen sie umbauen. Text: Blauer Riese/Verschwendung durch Sternenwind Enzensberger [lacht]: Kurios. Kluge: Aber das wäre doch sozusagen eine Begegnung zweier mythischer Bewegungen. Enzensberger: Jaja, wobei die eine ängstlicher ist; die ist ängstlicher… Kluge: Die Sparsamkeit… Enzensberger: … die Sparsamkeit, ja. Kluge: Und die Verschwendungssucht… Enzensberger: … und die Verschwendungssucht des Universums… Kluge: … vorherrschend des Universums… Enzensberger: Auch in der Biologie: man braucht ja nur irgendeinen Befruchtungsprozess [herzunehmen], Millionen von Samenzellen werden da ausgeschüttet. Das ist eine unglaubliche Explosion von Energie. Und da knüpft sich da bei manchen Kosmologen auch die Frage an: Wie endlich ist das Universum? Text: Die WINDSBRAUT DES GEISTES Kluge: Hier gibt es den Ausdruck “Vernunft” bei Ihnen. Der kommt in Ihren Dichtungen öfter vor. Und einmal heißt es hier: “Ihr Haar”, das der Vernunft, “die Windsbraut”, “die Windsbraut des Geistes – ich weiß nicht, was das ist, das kann man ja einem Gedicht nicht immer entnehmen – Text: “Ihr Haar ist dunkel wie die Vernunft”/ Enzensberger: … nicht sagen, ja… Kluge: “Sie wirft dir Sand in die Augen, die Windsbraut, ihr Haar ist dunkel wie die Vernunft.” Enzensberger: Mhm. Kluge: “Dunkel wie die Vernunft”: man sagt doch sonst immer “hell”? Enzensberger: Ja, aber die Vernunft ist sich selbst ja nicht durchsichtig. Das ist ja auch etwas Rätselhaftes an dieser Möglichkeit. An dieser Fähigkeit ist etwas, das hat mit dem ganzen Gödel-Problem ein bisschen was zu tun. Das heißt, die Möglichkeit der Selbsterkenntnis ist immer begrenzt. Wir sind ja immer etwas anderes noch als das, was wir in uns sehen. Kluge: Was ist das Gödel-Problem? Enzensberger: Naja, das ist, das man ein System innerhalb eines Systems niemals vollständig beschreiben kann. Kluge: Man muss immer einen Punkt außerhalb einnehmen. Enzensberger: Ja, es gibt aber keine Vernunft, von der aus wir die Vernunft total aufklären können. Da bleibt immer ein Rest. Gödel hat ja das anhand der mathematischen Systeme bewiesen. Die Unentscheidbarkeitstheoreme von Gödel, die gehen ja darauf hinaus – gut, um es etwas einfacher zusagen, ich hab das mit dem Münchhausen-Phänomen verglichen, ein etwas kühner Vergleich, der streng genommen vielleicht nicht ganz stichhaltig ist… Kluge: Sumpf und der Zopf… Enzensberger: Das Problem, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, das hat ja etwas Vergleichbares. Kluge: Und da sagt Gödel, das gibt es aber. Enzensberger: Er sagt, wir können die Mathematik nicht lückenlos aus der Mathematik beweisen. Das ist nicht möglich, da bleibt immer ein Rest von Unentscheidbarkeit. Die Systeme sind nie ganz vollständig; man nennt das auch das Unvollständigkeitstheorem. Und das hat er aber nicht nur einfach so behauptet, so wie ich da daher rede, sondern er hat es stringent bewiesen, mathematisch bewiesen, dass die Mathematik kein lückenlos geschlossenes vollständiges System sein kann. Und wenn das für die Mathematik gilt, was sollten wir dann erst von unsern anderen Systemen sagen, die ja viel anfälliger sind, viel weniger stringent. Kluge: Also eine Unruhe der Materie… Enzensberger: Ja, das könnte man vielleicht sagen… Kluge: … am absoluten Kältepol gibt es noch lebhafteste Bewegung. Es gibt immer diese Ausnahme… Enzensberger: Ja, es gibt immer das, so wie man zum Beispiel… Die Linguisten haben ja ein ähnliches Problem. Die Sprache ist durch die Linguistik nicht vollständig beschreibbar. Text: Tausendjährigen Flechten/ der Erde langsamstes Telegramm Kluge: Jetzt gibt es sehr viele Metaphern in ihren Gedichten, also, zum Beispiel, “Flechtenkunde”, in der Sie immer wieder Intelligenz, Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Vernetzung, und so weiter, woanders entdecken, als man sie vermutet. Also nicht im Internet entwickeln Sie, oder in der Telephonie, oder beim Marconi, die Verknüpfungsfähigkeit, sondern bei einem älteren Element, den Flechten, und von denen sagen Sie: “Sie ist der Erde langsamstes Telegramm”. Die Flechte. Enzensberger: Ja, die hat ganz andere Zeitformen, natürlich, denn die können ja… Es ist auch eine Frage der Lebensdauer. Eine Flechte kann ja unendlich alt werden. Die kann hunderte von Jahren alt werden, ohne sich groß zu verändern. Die hat also ein anderes Verhältnis; ein anderes Zeitverhältnis. Trotzdem ist da auch Evolution; trotzdem ist da auch Erfindung, sozusagen… Kluge: … und Vertrauenswürdigkeit. Enzensberger: Ja, sicher… Kluge: “Der Fuß Barbarossas hat auf eine Flechte getreten, und es machte ihr nichts aus. Sie ist noch heute da. Barbarossa ist tot.” Enzensberger: Ja. Überlebt. Und ist auch, natürlich, eine große Erfindung der Biologie, diese Symbiose, die da stattfindet zwischen Alge und Pilz ist eine geniale Idee, sozusagen. Sogar die unbelebte Materie, könnte man sagen – das wäre fast eine romantische These – dass sie auch eine Art Intelligenz [hat]; dass da ein intelligenter Prozess inhärent ist. Wir kennen das Subjekt nicht. Spinoza hat gesagt: “deus sive natura”. Kluge: Das heißt… Enzensberger: Also “Gott oder die Natur”. Er hat die gleichgesetzt. Für ihn war ja die Natur… Und heute gibt es diese ganzen Geia-Hypothesen, das anthropische Prinzip, und so weiter. Das sind alles solche Vorstellungen, dass die Intelligenz nicht jetzt nur mit uns in die Welt getreten ist… Kluge: Wir haben sie usurpiert, wir haben sie organisiert… Enzensberger: Wir haben sie organisiert, haben von ihr Gebrauch gemacht, einen anderen Gebrauch als die Natur, aber die Prozesse, die Entstehung von Komplexität, kann man sagen, die ist ja längst vor uns da gewesen. Kluge: Da gibt es manches Meereswesen, wenn wir verschwänden könnte aus dem Meer eine Intelligenz entstehen. Enzensberger: Ja gut, das tierische Leben ist ja aus dem Meer auch gekommen. Kluge: Ob die Gebirge nicht eine sehr langsame Form von Intelligenz enthalten, weiß man nicht. Enzensberger: Weiß man nicht. Kluge: Die Ozeane könnten komplexe, intelligente Lebensformen sein. Enzensberger: Jedenfalls existieren komplexe Strukturen überall, auch längst vor dem Menschen. Das ist ja auch der schönere Teil der Evolutionstheorie. Es ist ja ein bisschen plump und nicht sehr erhellend, wenn man sagt, wie die Vulgärdarwinisten, “wir stammen von den Affen ab”. Was soll denn das heißen? Das ist ja im Übrigen auch eine schreckliche Verkürzung von Darwins Gedankengängen. Sondern in dieser Evolution… Da braucht man keine Affen dazu, sondern das war schon immer da. Diese Kosmologie, das ist ein kosmologisches Prinzip, das aus einfachen Dingen komplexe entstehen. Bei uns heißt’s dann Selbstorganisation und so weiter. Kluge: Sie geben ja hier sehr liebevolle, poetische Attribute. Also zum Beispiel die Farbe eine bestimmtem Flechtenart auf Spitzbergen beschreiben Sie – die Sie offenkundig gesehen haben: “Safran, korallen, orange, persio, scharlach, orseille”. Was ist orseille, wie sieht das aus? Text: “Safran, korallen, orange, persio, scharlach, orseille” Enzensberger: “Orseille” ist auch eine Farbe, eine rötliche Farbe mit Brauntönen drin. Und deswegen wurde ja auch, in der alten Welt… wurden ja Flechten sehr zum Färben verwendet. Es war eine der ersten Quellen der Farbe, bevor es die synthetischen Farben gab. Die Menschheit wollte immer Farben haben. Ist auch sehr schön. Unser Auge möchte Farbe haben. Es ist äußerst empfindlich. Die Differenzierungsfähigkeit des Auges ist auch so ein Wunder; dass wir bis zu fünfzigtausend Nuancen unterscheiden können, das ist schon enorm. Es gibt eine ganze Geschichte der Farben, natürlich; eine ganze Ökonomie der Farben, dass man gesucht hat, Chemie… Man hat aus Läusen, zum Beispiel, dieses Rot, dieses Krapprot aus zerdrückten Läusen, oder aus der Purpurschnecke, das ist ja schon sehr alt. Und die Kunst des Färbens, da gibt’s eine ganze Geschichte der Farben, bis zu unseren heutigen petrochemischen Methoden, Farben. Oder denken Sie an die Flüssigkristalle, die wir heute haben. das sind ja wunderbare Dinge. Da gibt’s also eine Geschichte der Farben, und die beginnt vielleicht mit den Flechten. Text: Hans Magnus Enzensberger, Autor Kluge: Wenn ich jetzt verstehe, was Sie unter Intelligenz verstehen, und was Sie so entzückt, dann ist das auf der einen Seite Generosität, Verschwendung: dass ich etwas tue, etwas [wozu] nicht nur der Nutzen mich heißt, sondern dass ich da ein “surplus” habe. Enzensberger: Ja, sicher. Kluge: Das zweite ist, dass ich neugierig bleibe. Das ist ja eine Triebfähigkeit. Text: Sündenfälle der Neugier / Catilinarische Tugend Enzensberger: Ja, ja, sehr lustbetont, auch. Kluge: Catilinarisch auch. Enzensberger: Ja, auch, natürlich; das ist auch rücksichtslos. Natürlich, die Neugier ist ja auch etwas Rücksichtloses. Und da gibt es dann auch die ganzen Sündenfälle, natürlich, der Neugier. Kluge: … etwas aneignen… Enzensberger: Auch sehr interessant, dass, zum Beispiel, die Physik ihren Sündenfall hinter sich hat mit der Atombombe, während die Biologie ihren Sündenfall noch vor sich hat. Also da steht uns ja noch einiges bevor, da müssen wir drauf gefasst sein. Das wird nicht nur gut gehen, was da im Gange ist; da wird es auch Monster geben, da wird es Katastrophen geben, da bin ich ziemlich davon überzeugt. Text: Menschenrechte für Klone? Kluge: Nehmen Sie mal an, einen reichen Mann, also etwa in der Vermögenslage des Sultans von Brunei, [der] hält sich, gewissermaßen, Klone, die die Reserve, wenn ihm mal was fehlt, wenn seine Niere… Enzensberger: Jaja, Ersatzteil… Kluge: …Ersatzteile, ja… Enzensberger: … ein Ersatzteillager. Kluge: Er hat also in Form von Sklaven ein Ersatzteillager, um sich herum. Was ja für Faust bei Goethe durchaus ein angemessener Gedanke wäre… Text: Homunculus in Goethes FAUST, 2. Teil Enzensberger: Ja, sicher. Nur ich meine, nicht umsonst ist es eine Tragödie, Faust. Also da wird man sehen. Und die heutigen Grundversuche zeigen schon… Die Besonneneren unter den Biologen warnen ja auch. Selbst der Dolly-Mann, der dieses Schaf da geklont hat, der warnt heute vor dem Klonen. Also der sagt… Kluge: … der sagt, der Alterungsprozess nimmt gar nicht ab. Enzensberger: … nimmt gar nicht ab; es entstehen Pathogene, unkontrollierbare… Kluge: Ich habe ein neunundachtzig Jahre altes Baby erzeugt, beispielsweise. Das ginge doch. Enzensberger: Gut, da sind auch sehr unheimliche Dinge im Gang, das ist ja ganz klar. Und wie das in den politischen Prozessen verarbeitet werden kann, wissen wir auch noch nicht. Kluge: “Ein Hase im Rechenzentrum”: das ist ein Gedicht von Ihnen. Da sprechen Sie bewundernd von diesen Lebewesen. “Aus dem Eozän hoppelt er an uns vorbei in eine Zukunft, reich an Feinden, doch nahrhaft und geil wie der Löwenzahn.” Da gehört doch mit zu dem, das Sie sagen, immanent. Enzensberger: Ja, sicherlich. Man muss auch das Prekäre sehen. Natürlich sind die Ameisen wahrscheinlich katastrophenresistenter als wir. Das heißt, wir sind eben weich und empfindlich. Die Ameisen dagegen sind sehr überlebensfähig. Die sind ja auch viel älter als der Mensch, und ich glaube man übertreibt nicht, wenn man sagt, die werden uns auch überleben. Kluge: Die haben ein Hirn so groß wie ein Salzkorn. Enzensberger: Fantastisch. Und trotzdem sind sie in ihrer Organisation… Kluge: Ein exaktes Unterscheidungsvermögen… Enzensberger: Ja, aber in ihrer Organisation, was die leisten mit diesem nicht mal stecknadelgroßen Gehirn… sind die Leistungen durch die Zusammenschaltungen. Das ist auch eine Metapher, wenn man sagt, “der Ameisenstaat”. Entomologen können da sehr interessante Dinge drüber [sagen]; die haben diese Mechanismen ja gut erforscht, wie das zu Stande kommt. Die Kommunikation, die gegenseitige Abstimmung, wie so ein Ameisenhaufen dann funktioniert, das ist sehr interessant: wie komplexe Leistungen entstehen aufgrund von sehr einfachen Bestandteilen. Das hat mit der Theorie der zellulären Automaten etwas zu tun. Kluge: Automaten haben Sie ja zeitlebens gefesselt. Das ist wieder bei Leibniz, der ja ein ganz großer Automatenforscher ist. Enzensberger: Sicher, da beginnt das, ja. In der Antike gab es sehr primitive Automaten… Interessant auch der Zusammenhang mit dem Priestertrug, denn schon in Ägypten gab es “Simulacra”, nannte man das. Also da gab es Statuen, die sich bewegen. Und die haben die Leute eingeschüchtert. Die Gläubigen standen vor einem Rätsel, vor einem Wunder. Das ist in der Geschichte des sogenannten “Priestertrugs” eine der ältesten Erscheinungen. Es gibt eine Verbindung zwischen der Glaubenspropaganda und dem Automatenwesen. Kluge: Also wenn sozusagen ein Stock zu einer Schlange wird, so etwas ist… Enzensberger: Ja, ja, ja. Eine der Wurzeln des Automaten ist gar nicht so sehr praktisch, sondern die haben auch eine ideologische Funktion. Text: Ahnvater Lukrez (95 - 55 v.Chr.) Kluge: Lukrez kommt öfter vor bei Ihnen. Was hat der gemacht? Enzensberger: Naja, das war eben noch ein Dichter von wirklichem Format. Denn damals war es so, dass die Dichter und die Wissenschaftler eigentlich einander sehr nahe waren. Das ist in der Antike mal geschehen und dann wieder in der Renaissance. Ein Dichter konnte sich gar nicht blicken lassen, wenn er ein wissenschaftlicher Analphabet war. Und umgekehrt, ein Wissenschaftler konnte sich gar nicht blicken lassen, wenn er.. Kluge: … sich nicht ausdrücken konnte… Enzensberger: … wenn er sich nicht ausdrücken konnte, wenn er nicht auf dem Niveau der künstlerischen Produktion war. Das hing sehr zusammen. Und Lukrez war eben der Mann, der das Projekt gefasst hat, in einem großen Lehrgedicht den gesamten Kenntnisstand der damaligen Wissenschaft darzustellen. “Über die Natur der Dinge” ist sein großes Gedicht, und da ist wirklich die ganze Atomtheorie der Zeit drin enthalten, und so weiter. Und auch in einer wunderbaren Formulierungskraft… Ich verdächtige den Begriff der Originalität in der Kunst. Es gab so eine Zeit, das ist eigentlich auch erst zwei-, dreihundert Jahre her, wo der Geniekult aufkam, und wo jeder die Illusion hatte, er fängt von vorne an. Also “jetzt komme ich”, und die andern weg, und jetzt fang ich… Kluge: “Die Welt war nicht, bevor ich sie erschuf”… Enzensberger: Ja, und das ist natürlich ein ganz großer Irrtum. Bis in die Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts hinein hat man diese Illusion gehätschelt des Originalgenies. Und das ist natürlich eigentlich Unsinn; wir schreiben ja immer an einem Text weiter. Text: POESIE DES FORT-SCHRITTS/ Hans Magnus Enzensbergers DIE ELIXIERE DER WISSENSCHAFT Enzensberger: Der Text ist ja schon da, ein paar tausend Jahre lang, und an diesem Text, an dem schreiben wir weiter. Wir verändern ihn auch rückwirkend. Die Tradition wird ja immer neu erfunden, ist ja auch kein fester Vorrat, an dem man sich nur bedienen kann, sondern die wird ja immer wieder umstrukturiert durch unsre Tätigkeit. Aber die Vorstellung, dass das alles von mir stammt, die ist ja völlig abwegig… Text: Panorama-Roboterauge Text: Rodney Brooks ist freier Unternehmer und zugleich Direktor des ARTIFICIAL INTELLIGENCE LAB am Massachusetts Institute of Technology (MIT)/ Wie kann man es vermeiden, fragt er, daß wir unsere Vorurteile in die künstlichen Intelligenzwesen einbauen ? / Wir vermeiden wir Menschen es, DIGITALE CHAUVINISTEN zu werden - - ? Text: ROBOTER OHNE KOPF/ Rodney Brooks über den ROBOTER GENGHIS Rodney Brooks [Voice-over, den englischen Originalton übersetzend]: Unsere Grundidee war, dass damals in den achtziger Jahren die NASA ja geplant hat, einen riesigen Roboter auf den Mars zu senden, und die Kosten wären zwölf Milliarden Dollar gewesen. Text: NASA-Marsroboter Brooks: Das heißt, wir haben dann einen Roboter mit sechs Beinen gebaut, den wir “Genghis” genannt haben, der nur einen Kilogramm wiegt, und [der] hatte die gleichen Fähigkeiten wie dieser große Roboter, den die NASA plante zu bauen. Text: GENGHIS Text: Prof. Rodney Brooks, Artificial Intelligence Lab am MIT Brooks: Das heißt wir waren der Ansicht, wenn man, sagen wir, hundert dieser nur ein Kilogramm schweren Roboter ausschicken würde statt dieses riesigen, eintausend Kilo schweren, dann wäre die ganze Mission preiswerter. Denn natürlich wäre die Masse, die man dann in den Orbit schicken würde, sehr viel geringer, und damit wird das Ganze billiger. Wir haben auch gedacht, dass, wenn wir einen kleinen Roboter bauen – und wir hatten ja schon in nur zwölf Wochen den ersten Prototypen fertig –, dass wir auf dieser Basis dann auch schneller die Roboter entwickeln könnten. Das heißt, es würde alles eine sehr viel schnellere Art und Weise sein, auf andere Planeten zu kommen. Und dann haben wir gedacht, wenn wir also diese Roboter sozusagen auch autonom sich auf der Planetenoberfläche [des] Mars [hin- und] herbewegen [lassen] könnten, ohne dass da irgendwie Fernkontrolle von Menschen erfolgen müsste, dann würde das Ganze preiswerter sein. Und wir haben statt autonom einfach “außer Kontrolle” gesagt, deshalb also “schnell, billig, und außer Kontrolle”, das ist vielleicht ein bisschen komisch formuliert, aber irgendwann hat diese NASA diesen Slogan tatsächlich angenommen, aber etwas umgeändert. Die haben gesagt, “schneller, billiger, besser”, denn dieses “außer Kontrolle”, das war ihnen zu radikal. Text: Wie kam GENGHIS zu seinem Namen? Kluge: “Genghis” – wie kommt es überhaupt zum Namen? Brooks: Das war ein sechsfüßiger Roboter, der konnte über alles steigen, was im Weg lag. Er musste nicht einen Umweg machen, sondern konnte einfach darüber steigen. Wir haben furchtbar viele Namen uns ausgedacht, und einer meiner Student sagte: “Das ist wie Dschingis Khan!” Kluge: Das Interessante am Genghis ist – und Ihre Erfindung gewissermaßen ist – das Entfernen der Kognitionsbox. Bis dahin ging man davon aus, dass ein Roboter eine zentrale Steuereinheit besitzen muss. Und nun kamen Sie und sagen, es braucht keine zentrale Steuereinheit. Text: Dschingis (= Genghis), der Roboter ohne “Kopf” Brooks: Ja, das war in den siebziger Jahren, Anfang der achtziger Jahre, da haben die ersten Leute mobile Roboter angefangen zu bauen. Die waren noch sehr langsam, und diese Roboter schauten sich die Welt an mit so, vielleicht, zwei Fernsehkameras eingebaut, so eine Art Tiefenkarte wurde dann erstellt, und dann wurde ein internes Modell der Welt damit gebaut. Und dann wurde sich überlegt, “wie kann man dieses Modell bewegen?”, und dann später, sozusagen mit geschlossenen Augen, “ach, einen Meter vorwärts gehen”. Und dann musste man fünfzehn Minuten mehr Berechnungen anstellen über die Struktur der Welt, bevor ein weiterer Schritt getan werden konnte. Aber betrachten wir doch einmal Insekten, wie Moskitos. Die können pro Sekunde einen Meter zurücklegen, die können Beute finden wie mich oder… anderen nachrennen, und die haben vielleicht zehn-, zwanzigtausend Neuronen nur… vielleicht eigentlich sehr schnell. Die Leute, die Roboter bauen, die haben die größten Computer der Welt gebraucht, um den Computer einen Meter pro fünfzehn Minuten zurücklegen zu lassen. Ein Moskito mit zehn- oder zwanzigtausend Neuronen, der kann einen Meter pro Sekunde zurücklegen. Also war irgendwas für mich an der Organisation nicht richtig. Ich hab gesagt, “wir hatten die falsche Organisation in den Robotern”, und das kommt daher, weil die Leute sich ursprünglich immer Gedanken gemacht haben, wie wir selbst vorgehen, und dann überlegt haben, wir haben ja immer Erkenntnis, sozusagen, Kognition. Und ich hab gesagt, naja, da müssen wir das eigentlich wegnehmen; wir brauchen nur Sensoren, die hier sehr eng verbunden sind mit den Aktuatoren, das heißt, der Neuronensensor, der muss nicht in einer Reihe hintereinander angeordnet zu sein. Wir haben dann versucht, ein interaktives System zu haben, das auf die Welt reagiert, kein internes Weltmodell eingebaut hat, sondern die Welt lässt, wie sie ist. Die Welt ist das beste Modell. Das heißt, der Moskito, der bezieht sich ja immer auf die externe Welt und reagiert darauf. Auf der einfachsten Ebene bei Genghis hat man das so, dass die Verbindung zwischen dem, was die Beine fühlen, und dem, wie sie sich bewegen – wir haben hier jetzt zum Beispiel das Bein des Roboters, das geht auf ein Hindernis, wenn es das sieht, dann wird es automatisch hochgehen und über dieses Hindernis hinwegsteigen. Und das heißt, da haben wir die Basismöglichkeit, weiter zu gehen nach vorne und auch über Hindernisse zu steigen. Dazu gibt es jetzt aber diesen Infrarotsensor, der sagt, naja, vielleicht ist da vorne rechts noch jemand. Und das heißt, da werden diese Verhaltensmuster des Beines moduliert, und das rechte Bein wird kleinere Schritte machen, und damit wird dann der Roboter sich rechts hinwenden, also auf den Menschen zu, der rechts empfunden wird. Der Roboter muss… hat aber keine Repräsentation, das heißt also, “hier ist ein Wesen, hier werde ich dieses Wesen jetzt jagen”; sondern es ist eine direkte Verbindung. Hier befinden sich Infrarotsensoren, und entsprechend werden jetzt die Beinbewegungen leicht verändert, ein bisschen kürzer auf der rechten Seite, wo eben die Infrarotsensoren etwas entdeckt haben. Wenn man als Mensch den Roboter betrachtet, dann wird der Roboter ganz still sein, und wenn jemand plötzlich sich bewegt, dann wird der Roboter diesem folgen. Das heißt für denjenigen, der es nur beobachtet, sieht es aus, als hätte der Roboter eine Absicht, aber das ist nicht so. Es ist nur so gebaut. Es gibt keine explizite Absicht im Inneren, und ich glaube, genau so ist es doch bei uns Menschen auch. Wir sagen immer, jemand anders hat da Intentionen, oder wir selbst haben Intentionen, aber sehr oft sind diese Intentionen tatsächlich nicht explizit in unserem Inneren oder dem Inneren des anderen. Text: Wir Menschen haben uns im Lauf der Evolution von der DIKTATUR DER GENE befreit / Das unterscheidet uns von den Goldfischen / Und es eröffnet dem menschlichen GEHIRN eine ungeahnte Zukunft / Nicht schadhafte Gene, sagt die Hirnforscherin Susan A. Greenfield, sondern eine stereotype Umgebung gefährdet unser ICH - - Stimme: Das Signal ist klar. Es ist an der Zeit, sich zu entwickeln. Text: DIE HIRN-FORSCHERIN Kluge: Kann man ein Gehirn außerhalb des Körpers aufbewahren, und wie macht man das? Susan A. Greenfield [Voice-over, den englischen Originalton übersetzend]: Ich denke das ist die Hoffnung von einigen Menschen, wenn sie sterben, dass sie eingefroren werden können. Text: Prof. Susan A. Greenfield, Universität Oxford Greenfield: Das Problem wäre, wenn man das Gehirn einfriert, dann ist das so ähnlich, als wenn man Erdbeeren einfriert, und wenn sie dann wieder aufgetaut werden, dann sind sie matschig. Obwohl man natürlich Muskeln einfrieren kann, wenn man zum Beispiel ein Lamm einfriert oder Rind einfriert, aber für das Gehirn bietet sich das nicht an. Wenn es also unter Null ist, dann wäre es ein Problem. Man kann das Gehirn abkühlen, und kann auf diese Weise Prozesse unterbinden. Man benutzt eine Kühlflüssigkeit, diese Kühlflüssigkeit perkoliert dann; es kommt drauf an, wie tief man das behandelt, wie kalt man das macht, wie lange das abgekühlt sein soll. Text: Einfrieren von Verstorbenen in den USA Greenfield: Physiologen haben gezeigt: von dem Flüstern in einem Wald bis zu dem Fällen eines Baumes, das erfordert eine lange, lange Bewegung. Alles was wir machen, jedes Lächeln, jedes Wort hängt von Muskelkontraktionen ab, mit der Ausnahme von Tränen und Sabbern. Text: Animus / Sinn; Anima / Seele; Animation / = Bewegung Greenfield: Es gibt da eine interessante Verbindung zwischen Bewegung und dem Gehirn. Wenn wir uns zum Beispiel “Animus” vorstellen, das ist das Bewusstsein, und dann das Wort “animiert”, das bedeutet natürlich, [dass] man in Bewegung ist, und einem Tier – Tiere bewegen sich, Pflanzen bewegen sich nicht. Tiere bewegen sich von einem Ort zum andern. Wenn man also animiert ist, was wäre die Verbindung zwischen dem Bewusstsein, “Animus”? Wir wissen, dass es ein kleines Tier gibt, das lebt in der See. In den frühen Stadien hat es ein ganz einfaches Gehirn, es schwimmt herum, es interagiert mit der Welt. Wenn es aber älter wird, dann bindet es sich an einen Felsen, und es kann dann davon leben, dass es gefiltertes Seewasser in sich aufnimmt. Es verschluckt dann sein eigenes Gehirn, es frisst dann sein eigenes Gehirn auf. Das bedeutet, dass ein Gehirn nur dann erforderlich ist, wenn man sich bewegt. Wenn man an einem Fels klebt, braucht man kein Gehirn mehr. Text: Prof. Susan A. Greenfield, Universität Oxford Kluge: Nun hat bis jetzt der menschliche Geist die Fähigkeit, auch an einem Ort zu verweilen; der Körper verweilt an einem Ort, wie diese Seescheide, ist es glaub ich, und der Geist geht auf Reise. Greenfield: Eine der interessantesten Aspekte unserer Gehirnfunktionen ist die Tatsache, dass wir uns trennen können von unmittelbaren Umwelt. Als Erwachsene können wir einen Roman lesen, da passiert etwas ganz Spannendes: plötzlich ist man woanders. Man ist irgendwo, was so lebendig ist, was so real ist, dass es lebendiger ist als die Realität, die einen umgibt. Das ist eine erstaunliche Fähigkeit, dass man alles ausschalten kann, dass unsere Sinne ausgeschaltet werden, dass man die Fantasie einsetzt. Das ist aber eine Fähigkeit, die wir lernen müssen. Wenn wir klein sind, dann haben wir Bilderbücher, und allmählich, die Bilder, werden immer geringer. Das ist auch der Grund, warum wir immer sagen, das Buch ist besser als der Film. Ich hab noch nie gehört, dass jemand gesagt hat, der Film war besser als das Buch. Und ich denke, das hat etwas damit zu tun, dass unsere Fantasie so mächtig ist; mächtiger und kräftiger als die Fantasie eines anderen Menschen. Was in einem Gehirn passiert, dass diese innere Welt erzeugt, die so real ist, ist ja aufregend. Die Welt kann uns in eine andere Zeit versetzen, uns an einen anderen Ort versetzen. Text: Übersetzung: Barbara Behrens Greenfield: Unsere innere Welt, unser Geist, ist der Ort, der uns in die Lage versetzt, zu flüchten. Das macht mir auch die großen Sorgen bei Menschen, Menschen, die zum Beispiel wie Kinder sind; Menschen, die gefangen in der Gegenwart; Menschen, die nicht mehr die Fähigkeit besitzen, dass sie lesen können, die Bücher lesen können; Menschen, die ständig Zugang gehabt haben zu Computern, die die Fantasie anderer Menschen benutzen. Sie werden dann vielleicht Menschen, die Junkies werden, die Süchtige werden. Die erliegen starken Sensationen, die sind nur an die Gegenwart gebunden. Und wenn man in der Gegenwart verhangen ist, dann kann man sich schnell langweilen, weil man nicht flüchten kann in die innere Welt, in die Fantasiewelt, im Gegensatz zu den Menschen, die immer noch lesen können, die Bücher lesen können, die sich in die Vergangenheit versetzen können, die auf die innere Reise gehen können. Text: George M. Whitesides von Harvard ist der Prototyp eines zwischen allen Fronten arbeitenden Wissenschaftlers / Er gehört zu den zehn weltweit am häufigsten in Fachzeitschriften zitierten Geistern / Aus der Perspektive einer künftigen World.Wide.Web- Intelligenz, sagt er, würde man Intelligenzen aus FLEISCH UND BLUT für unwahrscheinlich halten - - Text: DER NANO-FORSCHER George M. Whitesides: Also wenn man sich Systemen zuwendet, die zwanzig oder zehn Nanometer in der Größe sind, dann arbeitet man mit Objekten, die sind so klein wie eine [geringe] Zahl von Atomen. Und bei diesen Dimensionen gibt es Quantenphänomene, da sieht es so aus, als ob wir im Grunde genommen keine wirklichen Erfahrungen damit haben. Kluge: Keine Intuition. Whitesides: Nein. Ich habe auf diesem Gebiet keine Intuition. Ich hab mich daran gewöhnt, dass ich im Grunde genommen über diese Probleme nicht mehr nachdenke. Meine Intuition ist wirklich sehr unzulänglich. Text: George M. Whitesides, Harvard University Whitesides: Eines der Gebiete, was für die Zukunft interessant sein wird, ist das Gebiet von ganz, ganz kleinen Dingen. Eine der interessantesten Veränderungen in der Technologie, was alles im Grunde genommen beeinflusst, ist die Vorstellung, dass wir uns von Dingen weg bewegen, die wir halten und sehen können, auf Dinge, die im Grunde genommen nicht sichtbar sind; aber sie funktionieren immer noch. Kluge: Und die Vernunft steckt gewissermaßen noch in diesen unsichtbaren Dingen drin? Whitesides: Absolut. Darum geht es in der Wissenschaft, dass man versucht, herauszufinden, wie die Dinge funktionieren und sich bewegen. Text: Verschwinden der Grenze zwischen Leben und Tod Kluge: Das Interessante ist ja auch, dass, wenn wir mit Atomen, Molekülen denken, in Größenordnungen von Atomen, Molekülen, dann verschwindet ja auch die Grenze zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem. Whitesides: Ja, das trifft zu. Und man sollte immer daran denken, dass, wenn man wirklich an das unterste Ende geht, auf der untersten Ebene, auf der Ebene der Moleküle, da gibt es eine Disziplin, Chemie. Und Chemie verbindet Atome [mit ungeheurer] Präzision. Das machen wir nun seit hunderten von Jahren. Und wir kennen natürlich alle Chemie, und wir wissen, in Bezug auf Lackierungen bei Autos… Oder wir kennen es als Einwickelfolie oder als Stoff. Aber was jetzt wahrscheinlich möglich ist, als eine ganz neue Veränderung, dass man diese besondere Fähigkeit überträgt, und versucht, das mit Vorstellungen in der Optik und der Elektronik zu verbinden, so dass auf diese Weise neue Systeme erfunden und erschaffen werden können, die neue Fähigkeiten besitzen. Whitesides: Es ist ganz klar, dass man nicht sie Sonne aushebeln kann, aber man kann eben ein Atom aushebeln. Und eine der Leistungen in der Nanotechnik besteht darin, dass man Strukturen geschaffen hat, wo man Atome an Orte bewegen kann, wo man sie einzeln bewegen kann. Im Prinzip kann man eine Kathedrale bauen, die nur einige wenige Atome hoch ist. Das ist eine amüsante Ide… Kluge: Die auch nicht gesehen werden kann, die Kathedrale… Whitesides: Nein, die kann nicht gesehen werden. Von normalen Menschen kann die nicht gesehen werden. Oder von extraordinären Menschen. Aber die Vorstellung ist die, dass diese Systeme immer noch Information manipulieren können, und sie können Information speichern, und sie können gleichzeitig auch in das Innere von lebenden Zellen eindringen und sehen, was dort vor sich geht. Das wäre eventuell interessant für viele Dinge, die wir im Augenblick noch nicht absehen können, und für einige, die wir auch absehen können. Kluge: Wenn Sie mir da Beispiele geben…. Whitesides: Von etwas, was wir… Kluge: Für beide Seiten. Whitesides: Ich habe Beispiele genannt von Sachen, die man sich vorstellen kann. Man kann sich vorstellen, dass Computer erfunden werden, die so klein sind, dass sie im Grunde unsichtbar sind. Wenn ich jetzt auf meine Uhr blicke und mir vorstelle, dass es dort einen Speicher gibt, und dieser Speicher basiert auf dem Äquivalent einer CD, aber die Information, die da gespeichert ist, ist in der Nanometertechnologie und nicht in der Mikrotechnologie – das bedeutet dann, dass diese Uhr vielleicht das Äquivalent von tausend CDs speichern könnte. Ich weiß nicht, wie viel ich wirklich weiß. Aber es ist im Grunde genommen kein Wissen, was tausend CDs entsprechend würde. Da besteht also die interessante Aussicht, dass wir vielleicht in der Lage sein [werden], alle die Informationen, die wir wirklich brauchen, in dieser kleinen Uhr speichern zu können. Sodass im Grunde genommen in dem Augenblick, wo ein Kind geboren wird, wird im Grunde genommen das Wissen, das es braucht, gleich gespeichert. Text: Die Savannen der Information Whitesides: Aber dann besteht der Trick darin, dass wir vielleicht gar nichts mehr wissen müssen; wir müssen nur in der Lage sein, Dinge zu finden. Wie jemand bereits gesagt hat, es geht zurück auf die Vorstellung wieder zum Jäger und Sammler. Kluge: Ja, wir gehen wieder in den Dschungel, oder in die Steppe, in die Savanne… Whitesides: Ja, es ist die Savanne, aber es ist die Informations-Savanne. Denn was wir versuchen zu jagen und zu sammeln, das ist nicht Nahrung, sondern das sind Informationen. Wenn Sie jetzt ein Beispiel haben wollten, was wir uns nicht im Augenblick unbedingt vorstellen können, etwas, was man sich vielleicht in fünfzig Jahren verwirklichen könnte, vielleicht dauert es noch hundert Jahre, das wäre die Frage: Können wir jemals unsern Computer an unser Gehirn anschließen? Das würde die Natur der Menschheit vollkommen verändern, wenn man in der Lage wäre, Geräte zu bauen, die Hybride sind von biologischen Systemen und gleichzeitig von Informationssystemen. Wir können das im Augenblick natürlich nicht. Aber die ersten Schritte, dass wir da versuchen, zu erlernen, wie eine Schnittstelle funktioniert, eine Schnittstelle zwischen einem biologischen System und einem von Menschen geschaffenen System, das ist jetzt in den Bereich des Möglichen geraten. Text: Bis zu 56 Bälle lassen sich optimal verpacken in Form einer Röhre oder Wurst / Ab dem 56 Ball ändert sich die Idealform in einen Cluster, d.h. einen Haufen / Das nennt man in der Mathematik DIE WURSTKATASTROPHE / Prof. Dr. Jörg Wills über Johannes Kepler und die MAGISCHEN UMSCHLAGSPUNKTE von Zahlen - - Text: DER MATHEMATIKER Kluge: Das Interessante ist ja, dass Kepler dieses Problem, wenn ich das richtig verstanden hab, am Rand einer Schrift, die er einem Freund gewidmet hat, aufgeführt hat. Also da ging’s um Schneekristalle… Jörg Wills: So ist es… Kluge: Das hat nun mal gar nichts mit Kugeln zu tun… Wills: Das war sein Arbeitgeber aber in gewisser Weise auch Freund, soweit man das sagen konnte. Ein gewisser Herr Wacker von Wackerfels, dem er es zum Neujahrsfest 1611 gewidmet hat, diese Schrift. Und da ging es tatsächlich über die sechseckige Gestalt des Schnees, und Kepler hat da visionäre Ideen entwickelt, die man nur bewundern kann. Also keine strengen Beweise – anders als man sich das vielleicht von Mathemarikern oder Physikern vorstellt. Er hat schon die Idee gehabt, dass die sechseckige Gestalt mit dem atomaren Aufbau zu tun hat, das ist vielleicht noch nicht so überraschend. Aber er hat angenommen, dass die Materie aus kleinen Kügelchen besteht, und das ist ja haargenau die Idee, die man heute noch hat, wenn man nicht in den subatomaren Bereich geht, also das Atom zerlegt in Elektronen, Neutronen, Protonen, dann darf man die Atome als Kügelchen annehmen. Und diese Idee ist experimentell ja erst durch Max von Laue Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, genauer, 1911, bewiesen worden. Praktisch dreihundert Jahre vorher hat Kepler das gesehen. Text: Prof. Dr. Jörg Wills, Mathematiker Kluge: Das heißt, Kepler hat einen Schneekristalle gesehen, wie wir alle das sehen können, und er hat aufgrund der Symmetrie, wenn man das einzelne Schneekristall ansieht, hat er zurückgeschlossen, dass die Form, die ursprüngliche, sozusagen das kleinste Element dieser Form auch symmetrisch sein muss. Wills: Er hat diesen ganz elementaren und genialen Gedanken gehabt, alle Schneekristalle, so unterschiedlich sie sind… Keine zwei Schneekristalle sind gleich, aber alle haben diese sechseckige Basisform. Und ich will mal sagen, vor ihm, vor der Renaissance hat man gesagt, das liegt am lieben Gott und hat nicht weitergedacht. Also typisch religiöse Einstellung und auch, wenn man so will, bequeme Einstellung. Und als Renaissancemensch – später Renaissancemensch – hat Kepler weitergedacht, und hat überlegt, woran liegt das; kam dann auf diese Kugelelemente , die auch ganz vage andere vor ihm schon gehabt haben, aber Kepler hat eben weitergedacht, ohne etwas beweisen zu können, und hat dann über diese Kugelform ein Problem aufgestellt, das sogenannte Keplerproblem eben. Kluge: Was mir nicht ganz klar ist, ist, wenn man also einen Schneekristall betrachtet und man hat diese sechseckige Form, wenn man das einzelne Kristall betrachtet, und man hat immer eine sechseckige Form, egal, wie die Form… Wills: … die Basisform… Kluge: … die Basisform ist sechseckig. Wie man von diesem Sechseck auf eine Kugel kommt. Wills: Ja, man muss dann halt weiterüberlegen. Dieses Sechseckige muss ja irgendwo im Kleinsten stecken. Und dann kommt man… die Idee des Unendlichen kommt herein, die natürlich die Menschen immer fasziniert hat, aber Mathematiker und Physiker ganz besonders. Und unendlich in zweierlei Hinsicht: das unendlich Große, dann kommt man zum Kosmos, wo Kepler ja auch wesentliche Beiträge geliefert hat, und das unendlich Kleine. Und das ist ein Gedankengang, der ist so modern – der wird immer modern sein. Er ist heute noch wichtig im Zeitalter des Computers und, ja, ich brauch das nicht zu vertiefen. Und eben, Kepler hat da weitergedacht, und kam drauf, dass die kleinsten Partikelchen, die kleinsten Einheiten durch den vollkommensten aller Körper, nämlich durch die Kugel, aufgebaut sein können. Diese Vollkommenheit, dieses absolut Runde erlaubte auch die Möglichkeit, im Formenreichtum keine Grenzen zu kennen. Und im Falle des Schnees, da müsste man jetzt vertiefen, kommt man mit gewissen Überlegungen auf das Sechseckige. Weil einfach, ich sage das mal ganz simpel, man an einen Kreis – ich drücke es eben aus, sonst wird’s zu schwer – an einen Kreis genau sechs andre gleich große Kreise anlegen kann. Das kann jeder in der Kneipe mit Bierdeckeln nachvollziehen, das passt genau zusammen. Und da haben sie schon diese sechs Kreise, das Sechseck. Text: Schnee Text: P(B2,C3), Packungsdichte 75 % Text: P(B2,C3), Packungsdichte 73,6 % Text: Keplersche Kugelpackung Text: Johannes Kepler, Mathematiker und Astronom Text: Das Kugelpackungsproblem in höheren Dimensionen/ Kugelpackungen als Codierung Wills: Also Codierungen spielen eine Rolle bei Fragen, wie krieg ich einen sauberen Fernsehempfang, zum Beispiel transozeanisch über Satelliten, ohne dass es, wie früher, knackt und rauscht. Das Gleiche gilt für Telefongespräche, und es fällt ja allen auf, zumindest wer früher schon telefoniert hat, dass transatlantische Gespräche absolut klar und sauber sind. Oder denken Sie an CDs, warum sind CDs so absolut wiedergabetreu? Und das hängt mit der sogenannten Codierungstheorie zusammen. Und eine der Codierungstheorie-Grundlagen sind Kugelpackungen. Die Mittelpunkte der Kugeln sind sozusagen die Codewörter. Das ist etwas schwierig zu erklären, aber hochinteressant, und weit interessanter, eigentlich, als die Keplerfrage. Diese Kugelmittelpunkte sind, meinetwegen, in einem achtdimensionalen Raum durch acht Koordinaten gegeben. Und diese acht Zahlen – sagen wir, null-eins, null-eins; solche Sequenzen – bilden, meinetwegen, ein Wort, und geometrisch, mathematisch gesprochen, sind das die Mittelpunkt einer Kugel. Und mehrere dieser Mittelpunkt sind mehrere verschiedene Worte und im achtdimensionalen Raum hab ich jetzt sehr viel Platz, kann also sehr viele Worte einführen. Und die Idee ist jetzt, die Worte müssen sich hinreichend gut unterscheiden, das heißt, an mehreren Stellen müssen sie unterschiedlich sein, denn wenn, beispielsweise, sagen wir, der Buchstabe A nur aus Einsen besteht und der Buchstabe B nur aus Nullen, dann unterscheiden die sich an acht Stellen, dann könnte ich, meinetwegen, ein paar Nullen durch Einsen ersetzen, das wären die Störungen, die beim, meinetwegen, Flug zum Satelliten und zurück oder über den Ozean gestört werden, und trotzdem kann ich den richtigen Buchstaben identifizieren. Und andererseits sollen diese Worte dicht zusammen liegen, weil je weiter sie auseinanderliegen, desto teurer ist es. Das ist also eine energetische und Kostenfrage. Und diese Minimierung bei gleichzeitiger Maximierung, das ist ein Kugelpackungsproblem. Also die Tatsache, dass um jeden Mittelpunkt eine Kugel ist, hält die Worte auf Abstand, und dass sie dicht gepackt sind, bringt sie dicht zusammen, minimiert also die Energie. Und das sind Codierungsprobleme, und da beschäftigen sich Generationen von Mathematikern etwa seit Mitte des vorigen Jahrhunderts damit, um solche Dinge zu optimieren. Text: Prof. Dr. Jörg Wills, Mathematiker Kluge: Sie sprachen jetzt von acht Dimensionen: das war beispielhaft; also das ließe sich, das geht höher… Wills: … höher. Also mein Arbeitsgebiet ist überhaupt nicht der Keplerbereich, sondern höherdimensional, vierundzwanzigdimensional und höher. Da gibt’s bestimmte Dimensionen, die sind besonders dankbar. Also acht und vierundzwanzig hab ich nicht ohne Grund gewählt, achtundvierzig ist auch so eine Zahl. Das hängt tatsächlich mit reiner Mathematik zusammen, die Besonderheit ist aber, dass diese reine Mathematik tatsächlich dickes Geld bringt. Ich war vor ein paar Jahren in, ich möcht mal sagen, der Zentrale für solche Dinge. Das ist von AT&T, von der amerikanischen Telefongesellschaft, die Labs, “Laboratorien” sagt man, und da sitzt sozusagen – bei New York, in New Jersey – da sitzt sozusagen die crème de la crème in Codierungstheorie, die machen solche Kugelpackungen. Die fangen so an, suchen die raus und werden dafür fantastisch bezahlt von AT&T. Und als die Sowjetunion noch stark war, war das andere große Zentrum in der Sowjetunion, und die hatten da auch fantastische Codierer der Weltspitzenklasse. Und die waren jedenfalls wesentlich besser als, sagen wir, Deutsche oder Franzosen oder Italiener. Text: Wurstvermutung & Katastrophentheorie Wills: Wir kennen ja, dass Tischtennis- und Tennisbälle, also ganz gewöhnliche, in einem Sechserpack verkauft werden, die so linear angeordnet sind in einer Plastikhülle. Und tatsächlich ist dort die Verpackung insofern optimal, als die Luft, die zusätzlich drin ist, die bei einer Packung von mehr als einer Kugel immer drin sein muss, minimal, optimal… Und im Dreidimensionalen geht das gut für kleine Kugelzahlen, das ist inzwischen per Computer bewiesen, bis fünfundfünfzig Kugeln; bei sechsundfünfzig ist es das erste Mal, dass etwas anders wird. Und in höheren Dimensionen, aber der Dimension fünf, nimmt man an, dass immer diese lineare Anordnung die bestmögliche ist. Das ist eine Vermutung von einem berühmten ungarischen Mathematiker, László Fejes Tóth, und der hat dieses Problem vor fünfundzwanzig, sechsundzwanzig Jahren gestellt. Das ist berühmt, das ist die “Wurstvermutung”. Text: Prof. Dr. Jörg Wills, Mathematiker Wills: Und im Dreidimensionalen und im Vierdimensionalen passiert Folgendes, wenn man jetzt die Kugeln aneinander reiht, wie zum Beispiel bei Tennisbällen im Dreidimensionalen eben schön vorstellbar, dann geht das bis fünfundfünfzig Kugeln gut, und wenn man noch eine hinzu tut, macht das so einen Sprung und wird so ein Cluster. Das ist sozusagen dieser Sprung, da wär der Ausdruck Katastrophe noch übertrieben. Aber im Vierdimensionalen passiert das etwas bei einer halben Million, etwas vorher. Das heißt, Sie können bis fast zu einer halben Million Kugeln aneinanderreihen, und der wenigste leere Raum ist bis zu knapp einer halben Million, und dann tun Sie eine einzelne Kugel zu, und der beste Fall ist plötzlich so ein – “Flupp” – so ein Cluster. Und dann springt das von etwas Eindimensionalem auf was Volldimensionales. Das kann man auch beweisen; man kennt die Zahl nicht, wo das passiert, aber es liegt ungefähr bei einer halben Million, und dann springt das eben auf so etwas. Und weil in der Zeit, als das entdeckt wurde, so vor ungefähr fünfzehn Jahren, siebzehn Jahren, war die Katastrophentheorie in der Mathematik “in”, und mit einem gewissen Gespür für, wenn Sie so wollen, mathematischen Humor und auch als Werbeeffekt – es ist ja bislang ein rein mathematisches Phänomen – wurde das dann genannt “die Wurstkatastrophe”… Text: Warum sind erfahrene Juni-Fliegen so schwer zu fangen? / Fliegen haben ähnlich große Nervenzellen wie Menschen / Ihre Facettenaugen zeigen verblüffende Leistungskraft, wenn es um Navigation und die rasche Wahrnehmung von Bewegungen geht / Prof. Dr. Alexander Borst, Max-Planck-Institut für Neurobiologie, berichtet – Text: DER FLIEGEN-FORSCHER Alexander Borst: Also zunächst mal, entgegen landläufiger Meinung sind die Nervenzellen von der Fliege gar nicht kleiner als unsere, die haben bloß weniger. Das ist also ein sehr, sehr großer Vorteil für die Analyse, weil wir dann eben kein Netzwerk von hunderten von Millionen Zellen da vor uns haben, deren Verschaltung wir letztlich verstehen müssen, sondern das sind in dem betreffenden Gehirngebiet, das uns interessiert, das eben diese bewegten Bilder auswertet, auf jeder Seite des Gehirns nur sechzig Nervenzellen. Sechzig, also sechs-null. Das ist also [eine] sehr überschaubare Menge. Text: Prof. Dr. Alexander Borst, Max-Planck-Institut für Neurobiologie Kluge: Das heißt, das ist die Anzahl der Nervenzellen, die gewissermaßen hinter diesen einzelnen Facetten sitzt des Fliegenauges? Borst: In diesem Zentrum für Bewegungsauswertung läuft die Information von den ganzen Facetten zusammen und zwar, sozusagen, schon vorverarbeitet für Bewegungssehen, speziell. Kluge: Das Fliegenauge ist ja anders konstruiert als das menschliche Auge… Borst: Richtig… Kluge: …ganz wesentliche Unterschiede… Borst: Genau. Die Art der Bildentstehung im Fliegenauge ist ganz anders als bei uns. Wir haben eine einzelne Linse, die dann eben auf diese Netzhaut projiziert, und dann hat man da ein Abbild der Umwelt auf unserer Netzhaut. Beim Fliegenauge ist es so, dass, sozusagen, das Bild gerastert zunächst über so viele kleine Einzellinsen abgebildet wird. Aber dann ist die Information eben auf diesen Nervenzellen dann auch wieder genauso da wie bei uns. Das heißt, die Bildentstehung ist zwar anders als bei uns, aber das Endergebnis ist qualitativ ähnlich. Man hat eine Projektion der Umwelt auf ein “array” von Nervenzellen, eben Fotorezeptoren in dem Fall. Und quantitativ gibt’s natürlich sehr große Unterschiede. Also das Auflösungsvermögen der Fliege ist sehr, sehr viel gröber als unseres. Also die können sozusagen ein oder zwei Winkelgrad unterscheiden, während wir da also Faktor hundert besser sind im Foveabereich. Kluge: Also ist es nicht so, dass das Fliegenauge, wie das in den Filmen aus den fünfziger Jahren ist, diesen Facetteneffekt hat… Borst: Ja, also es gibt zwei solche Vorurteile, die da verbreitet sind. Das eine ist, dass die Fliege quasi in jeder einzelnen Facette ein gesamtes Bild sieht, und das heißt, dann kommt dann also irgendwie die Frau mit dem “fly swatter” irgendwie dann eintausend Mal quasi auf die Fliege zu. Das stimmt nicht. Und das andere ist auch diese Art von Rasterung, das trifft auch nicht zu, weil im Prinzip ist unser Bild, was wir sehen, eigentlich auch gerastert, nämlich gerastert mit der Feinheit, wie wir eben Fotorezeptoren da haben, aber das empfinden wir nicht als Rasterung. Das heißt, die Fliege sieht sozusagen einfach ein gröberes Bild als wir. Kluge: Wieso ist es so schwierig eine Fliege zu fangen? Text: Warum ist es so schwierig eine FLIEGE zu fangen? Borst: Weil – das ist auch eine gute Frage – weil die Fliege sozusagen kürzere Reizleitungswege hat. Vom Auge bis zu den ausführenden Muskeln im Thorax von der Fliege, wo sie dann eben Beinmuskeln zum Start oder so…, sind es ja nur einen halben Zentimeter, wenn’s eine große Fliege ist. Das heißt dieses Signal muss dann nur diesen kurzen Weg laufen, während es bei uns, wenn wir uns hier vornehmen, eine Fliege fangen zu wollen, dann muss sozusagen das bis herunter an die Armmuskeln, das muss also irgendwie einen Meter überwinden. Und das ist der Vorteil, den die Fliege hat. Wir haben zwar eine höhere Reizleitungsgeschwindigkeit als die Fliege, weil bei uns die Nervenzellen mit so einer Myelinscheide umgeben sind, die dann Faktor 50 vielleicht höhere Reizleitungsgeschwindigkeit geben, aber dadurch, dass die Fliege nur so einen kleinen Weg überwinden muss, das Signal, ist die Fliege im Vorteil und gewinnt. Text: EVOLUTION der Fliegen Kluge: Die Fliege evolutionär gesehen [ist] also ein Gliederfüßler, sozusagen darüber sind wir mit ihr verwandt. Wie alt ist dieses System, wenn man so will? Borst: Na so dreihundert Millionen Jahre etwa. Kluge: Und der Mensch, wie alt? Borst: Der Mensch hat sich ja so in den letzten zwei Millionen Jahren so entwickelt, wie wir ihn kennen. Kluge: Und dieses dreihundert Millionen Jahre alte System steckt gewissermaßen, was diesen Punkt betrifft… ist sozusagen bei uns noch vorhanden. Kann man das so sagen, oder ist das zu einfach? Text: Männchen und Weibchen Text: Rasteraugen Text: Fliegenhirn Borst: Also ob das jetzt sozusagen auf einen gemeinsamen Vorfahr zurückgeht oder ob das unabhängig sich entwickelt hat, weil einfach der Selektionsdruck in derselben Richtung ist, also ob das ein adaptiver Vorgang ist in der Evolution, das weiß ich nicht. Aber ich denke mir einfach, die Anforderungen für Bewegungsauswertung sind einfach gegeben, einfach sozusagen theoretisch da, und dann wird… in der Evolution auch unabhängig ähnliche Lösungen gefunden werden. So denk ich mir das. Text: Beobachtung im Fliegenhirn Kluge: Für die Entwicklung von, unter Anführungszeichen, intelligenten Maschinen wäre dieses Modell, also dieses Fliegenmodell inwiefern brauchbar, oder was kann man daraus lernen? Borst: Okay, da gibt’s ganz konkret einige Gruppen, eine am CalTech und eine an der ETH in Zürich, die Chips bauen nach den Erkenntnissen, die wir und andere Gruppen über das Bewegungssehen der Fliege gewonnen haben. Und die setzen die auf Roboter auf und wollen damit autonome Roboter bauen, die eben sehen können, die automatisch steuern können ohne Fernbedienung. Text: VLSI-Chips / Very Large Scale Integrated Circuits Borst: Und das sind sogenannte VLSI Chips, also “Very Large Scale Integrated Circuits” sind das, [die] können ja relativ billig hergestellt werden. Und das ist sozusagen auch für uns ganz befriedigend zu sehen, weil, zum Einen, das ein ganz gutes Gefühl ist, dass es sozusagen an der Stelle “für etwas gut” in Anführungsstrichen, und andererseits wir dann auch mit diesen Robotern, wenn die dann mal so weit sind, wir dann auch quasi Testobjekte zur Verfügung haben. Weil man interessiert sich natürlich immer dafür: Warum ist das denn da so bei der Fliege, diese Verschaltung da? Ist das wirklich so, dass die Fliege damit besser gradeaus fliegen kann? Und das bewegt sich oft ja auch so im spekulativen Raum. Jetzt kann man, um diesen etwas zu erhärten, natürlich Computersimulationen machen, aber dabei gibt man natürlich gewisse visuelle Umwelten vor, und das sind noch lange keine natürlichen Umweltbedingungen. Und erst wenn man wirklich so einen Roboter hier in den Raum setzt und loslaufen lässt, dann wird man sehen, hubsi, wenn der plötzlich, “ffffft”, da eine Rechtskurve macht und gegen das Tischbein dann donnert, dann hat man noch viel nicht verstanden, würde ich sagen. Text: Prof. Dr. Alexander Borst, Max-Planck-Institut für Neurobiologie Text: Ein Stern wird geboren, lebt und stirbt / Ob er Leben und Planeten um sich hat, hängt von der Art des Staubes ab, aus dem er entstand / Ein bestimmter Teil der Materie in den Milchstraßen besteht aus Sternenwind und Staub / Prof. Dr. Erwin Sedlmayr, Astrophysiker, berichtet – Text: DER STERNEN-FORSCHER Kluge: Die Nähe sozusagen zum Leben ist ja bei diesen polyaromatischen Kohlenwasserstoffen recht deutlich… Erwin Sedlmayr: Die ist sehr deutlich. Und wenn Sie jetzt die Zwischenstufen anschauen in dieser Acetylen-Kette – man startet ja mit Acetylen, Diacetylen, Triacetylen –, dann entstehen natürlich nicht nur diese Ketten, sondern in dem Moment, wo ein bisschen Sauerstoff da ist noch, entstehen ja auch Alkohole, Methylalkohol, Äthylalkohol; es entsteht vor allem natürlich Formaldehyd; es entsteht Essigsäure; und es entstehen sogar, wie man heute zweifelsfrei weiß, wenn sich noch NH2 an so eine Essigsäure anlagert, indem ein Wasserstoffatom ersetzt wird durch die Aminogruppe, entsteht Glycin. Und Glycin ist die einfachste Aminosäure. Die hat man jetzt im Weltall gefunden. Ob das jetzt wirklich [eine] Vorstufe zu biologischem Material ist, ist noch offen, aber [es] ist interessant. Text: Prof. Dr. Erwin Sedlmayr, Astrophysiker Sedlmayr: Naja, dann wird es größer und größer und größer und krümmt sich dann, und liefert so eine Zwiebelschalen-Struktur, so wie man diese “onion-like structures” hat oder teilweise flache Sachen wie eben graphitische Strukturen, technisch gesagt sp2-Bindungen. Text: Zwiebelschalen-Struktur Sedlmayr: Und man kann diese sogar zum Teil durch – wenn ein bisschen Energie da ist, ein energiereiches Photon –, kann man zeigen, dass diese Bindung, sp2, die Graphitbindung, übergeführt werden kann in eine sp3-Bindung, das ist jetzt Diamant. So können Sie auch kleine Diamanten da machen. Text: Fabriken des Universums Kluge: Und diese Fabriken, die da sozusagen im Weltall sind, in denen diese polyaromatischen Kohlenwasserstoffe entstehen: wie kann ich mir das… das sind sternartige Gebilde? Sedlmayr: Das sind Sterne. Kluge: Das sind Sterne. Wie groß sind die? Haben die eine… Sedlmayr: Das sind, also wenn die Sonne sich entwickelt, wird sie ja zum roten Riesen, und dann Überriesen, oder so etwas, und es sind eben genau diese ausgedienten Sterne, die sind dann an der Oberfläche nicht mehr stabil… Text: Beteigeuze, Roter Riese Kluge: Wie groß sind die? Sedlmayr: Die sind, sagen wir, tausendmal so groß, oder hundertmal so groß, wie die Sonne, im Zentrum. Die Hüllen sind natürlich noch einmal tausendmal so groß. Sedlmayr: Überhaupt ist astronomisches Beobachten im Großen immer ein Blick in die Vergangenheit. Sie sehen ja nie ein Objekt, wie es heute ist, sondern wie es damals war, als das Licht ausgesendet wurde, das heute zu uns kommt. Sedlmayr: Das Olbers’sche Paradoxon, das ist ja eigentlich älter. Kepler hat schon die Frage gestellt. Sie schauen abends in den Himmel hoch. Und dann sehen Sie etwa – in einem völligen Nachthimmel mit guter Sicht, sagen wir, Sie sind in Bayern auf irgendeinem Berg und schauen – sehen Sie etwa fünf-, sechstauend Sterne, wenn Sie keinerlei sonstiges störendes Licht haben und Lichtverschmutzung oder Wolken oder so. Jetzt ist es so, dass nach den Gesetzen der Optik Sie die Sonne nehmen könnten, die Sonne in sechstausend Teile zerlegen könnten, und diese Teile wie die Sterne am Himmel anordnen könnten. Nach den Gesetzen muss das genau die gleiche Lichtsumme sein. Und da hat Kepler die Frage gestellt, ja wieso ist der Nachthimmel nicht hell? Weil am Tag ist’s ja auch hell, da ist die Sonne da; und bei der Nacht, in Wirklichkeit, hat Kepler berechnet, brauch ich ja nur dreitausend Sterne gut, dann hätt ich dieselbe Helligkeit wie die Sonne. Und das, das hat später Olbers in einem anderen Zusammenhang ein bisschen exakter formuliert, ist das Olbers’sche Paradoxon. Warum ist der Nachthimmel dunkel? Überraschenderweise ist ja die Auflösung die, dass das Licht vieler Sterne uns noch gar nicht erreicht hat. Dass, letztlich kann man auch sagen, weil der Kosmos existiert, die Energiedichte des elektromagnetischen Feldes des Lichtes so abgenommen hat und rotverschoben ist – Sie kennen ja die Drei-Grad-Kelvin-Strahlung –, dass deswegen der Nachthimmel dunkel ist. Würden Sie die Drei-Grad-Kelvin-Strahlung zusammenschieben, wer [es] natürlich ungeheuer hell. Text: Das Olbers’sche Paradoxon Sedlmayr: Der Erste, der das Problem gelöst hat, wenn man heute das zurückschauend anschaut, war Edgar Allan Poe. Text: Edgar Allan Poe Kluge: Der amerikanische Schriftsteller… Sedlmayr: Ja, der Schriftsteller. Der schreibt nämlich, dass der Nachthimmel dunkel ist, weil das Licht vieler Sterne uns heute noch gar nicht erreicht hat. Was genau die richtige Antwort ist. Und weil vielleicht das Alter der Welt endlich ist, sodass uns auch das Licht noch nicht erreicht hat. Aber er schreibt dann leider weiter, kein normaler Mensch könnte so etwas annehmen. Heute weiß man natürlich durch Einstein und die Kosmologie, dass ein Stern eben auch nur eine gewisse Lebenszeit hat, dass das eigentlich die Lösung des Olbers’schen Paradoxons ist. Text: Prof. Dr. Erwin Sedlmayr, Astrophysiker Kluge: Also eigentlich gilt Edgar Allan Poe als fantastische… Geschichte… Sedlmayr: Fantastisch, ja, in “Heureka”. In seiner Abhandlung “Heureka”. Kluge: Die sich jetzt aber nicht mit… die sich mit Astronomie befasst? Sedlmayr: Die hat sich mit Astronomie befasst, also es sind da glaub ich, wenn ich mich recht erinnere, fast zweihundert Seiten, die eigentlich über Sterne gehen und so Sachen. Aber er war eigentlich ein Laie, und hat vielleicht deswegen diesen kühnen Gedanken formuliert, bei dem vorher alle anderen gescheitert sind. Um 1850 ist man letztlich völlig hilflos der Frage gegenüber ge[wesen], man hat sie einfach ignoriert. Text: Prof. Dr. Erwin Sedlmayr, Astrophysiker Kluge: Wann wurde sie sozusagen wissenschaftlich gelöst? Sedlmayr: Ja wissenschaftlich wurde sie gelöst quasi durch die kosmologischen Modelle von Einstein und die Entdeckung von Hubble der Expansion des Kosmos. Text: René Descartes, Begründer des MODERNEN DENKENS / Durs Grünbein, Träger des Büchner-Preises, arbeitet an einem neuen Vers-Poem, das der Entstehung des Hauptwerks von Descartes DISCOURS DE LA METHODE gewidmet ist / Eine Dichtung über den Winter und ein Denken, das aus der Kälte kommt / Durs Grünbein über den leidenschaftlichen Rationalisten Descartes – Kluge: Verspoem über Cartesius, Descartes. Wie macht man das? In Hexametern, in Jamben? In was geht das? Text: DAS MURMELTIER DES GEISTES/ Neues Vers-Poem von Durs Grünbein über DESCARTES Durs Grünbein: Ich hab mir sagen lassen – weil du sagst, “Cartesius” –, Descartes mochte die Latinisierung seines Namens gar nicht so sehr. Er hat ja sozusagen sein Hauptwerk dann schon im Französischen geschrieben, aber natürlich auch einige andere, “prima philosophie” und so weiter, im Lateinischen. Was mich zum Beginn des Schreibens gebracht hat, war eine Episode aus seinem Leben. Und zwar um 1619 sitzt Descartes – der junge Descartes noch – in Deutschland fest, in der Nähe von Ulm in einem kleinen Dorf an der Donau. Es ist also Winter, quasi beginnender Dreißigjähriger Krieg, und er ist unterwegs nach Holland und sitzt nun aber fest, weil so ein strenger Winter ist. Und in dieser Zeit, schreibt er später immer wieder, hatte er seine ersten Visionen, die ihn dann zu seinem berühmten Hauptwerk, dem “Discours de la méthode”, geführt haben. Text: Durs Grünbein, Autor Text: Discours de la méthode Kluge: Wie heißt das Hauptwerk? Grünbein: Der “Diskurs über die Methode”. Da ist diese zentrale Einsicht am Ende drin, das “cogito, ergo sum”. Kluge: Also “cogito ergo sum” – “ich denke, also bin ich”, heißt das so? Text: “cogito ergo sum” Grünbein: Ja, ja. Kluge: Oder “ich denke, dass ich bin”? Grünbein: Oder vielmehr, er versucht sozusagen, seinen Geist zu isolieren von allen Zufälligkeiten und herauszufinden, was ist es am Ende, das in uns denkt. Kluge: Das ist eigentlich Gartenbau. Er grenzt sich ab, er baut ein Grundstück. Ein Grundstück der Verständigung. Grünbein: Vor allen Dingen grenzt er sich einmal ab gegen die überkommene Philosophie, das ist wichtig; gegen Aristoteles, Platon, und so weiter. Er wird damit zu so einer Art Denkpositivist, der nur noch gelten lässt, was unmittelbar zugänglich ist durch die Reflexion. Kluge: Und was ist das? Also, Unterscheidungsvermögen… Grünbein: Naja, also er unterscheidet zunächst mal alles, was uns rein durch Schrift überliefert ist – unter anderem, Texte der Kirchenväter, und so weiter, die Scholastik, aber auch große Teile der überkommenen traditionellen Logik – das ist für ihn erstmal unbrauchbar. Kluge: Warum? Grünbein: Er verwirft es. Weil es ihn sozusagen vom Grundgedanken, von der direkten Reflexion wegführt. Und dann versucht er, und das ist die zweite große Einsicht… sozusagen die Grundstruktur der Ordnung der Dinge liegt bei ihm in der “mathesis”, also in der Mathematik. Alles ist quasi mathematisierbar. Am Ende wahrscheinlich auch der Geist. Und damit steht er genau da am Beginn dieser modernen Naturwissenschaft. Also kurz vor ihm gab es Francis Bacon und um ihn herum sind Leute wie Kepler am Werk, die neue Astronomie, die neue Physik, Dioptrie, das sind alles Dinge, mit denen er sich beschäftigt. Kluge: Galilei sieht vier Jupitermonde… Das ist die Zeit… Grünbein: Genau. Das ist ganz genau die Zeit. Kluge: Leeuwenhoek nimmt Spucke und betrachtet sie durchs Mikroskop. Plötzlich ist im winzigen Kleinen Leben. Also [er] ist eigentlich expansiv, der Mensch. Er baut Grundstücke, Grundstücke der Liebe, der Beziehungen, er räumt in seinem Inneren auf, in seinen Bindungen, und das ist jetzt der Anfang der Philosophie. Grünbein: Also der modernen, wenn man so will. Kluge: Planung geistiger Grundstücke… Grünbein: Ja, ja. Kluge: Wie sieht er aus, wie er da in Ulm sitzt im Winter… Ein Franzose, also, in der schwäbischen Provinz. Grünbein: Naja, er war ja, wie gesagt, relativ jung noch. Die klassischen Porträts, die man kennt, zum Beispiel das berühmte Frans Hals Porträt, da sieht man also einen Mann mit Lockenhaar, schulterlang, leichtem Bart, später auch schon ein wenig aufgequollenes Gesicht, aber in diesen Jahren, da war er noch – ich kann’s ganz genau sagen, wie alt war er denn – er war, glaub ich, Mitte zwanzig. Und es gibt auch ein Jugendporträt etwa aus der Zeit. Er ist ja dann kurz darauf noch ins Heer eingetreten, deutsches Heer, Kaiser Friedrich, da, Friedrich von der Pfalz, er war kurz zuvor bei der Krönung; ist aber kurz danach wieder ausgetreten. Das war nur, um irgendwie… den Unterhalt… Text: René Descartes (1596-1650) Kluge: Als Offizier-Adlatus, oder was war er da? Weiß man nicht genau. Wahrscheinlich auch Mathematiker? Grünbein: Den Dienstrang hab ich nirgendwo gefunden. Aber natürlich, Eintritt ins Heer war durchaus… also, es war alles Mögliche; es war Unterhalt, es war aber auch zugleich eine Daseinsform in der Zeit. Da kam man natürlich auch wieder mit Gerätschaft in Berührung… Ein großer Teil der Intelligenz war ja sozusagen militärische Intelligenz, obwohl Descartes selber eher ein… er hielt sich lieber vom Krieg fern, um es so zu sagen. Er mochte den Krieg nicht. Grünbein: Diese Hauptschrift, diese recht schmale, ist ja angelegt wie ein kleiner Entwicklungsroman. Er spricht dann auch da von seinen verschiedenen Wendungspunkten im Leben und das ist das, was bleibt. Das sind sozusagen die Errungenschaften am Ende. Und auf diesem Fundament jetzt kann er weiterbauen. Von da aus kann er jetzt in die verschiedenen Wissenschaftsbereiche hineingehen. Das ist ja auffällig, dass er – und insofern ist er ja wirklich einer dieser Multi-Denker der Zeit – dass er nicht nur streng Philosophie betreibt, sondern auch wirklich handfeste physikalische Forschung, Mathematik. Er hat sich mit Algebra beschäftigt. Soviel ich weiß, ist zum Beispiel Descartes der, der diese heute noch gebräuchlichen Buchstaben in die Gleichungen einführt, also das “a, b, c” und so weiter, “x, y, z” und so weiter. Er formalisiert Gleichungen auf neue Weise. Es gelingen ihm Entdeckungen. Das Brechungsgesetz, da hat er einen Beweis geliefert. Kluge: Hier ist dieser junge Mann, dieses Wunderkind, sozusagen, den nennt man einen Dualisten. Er hat den Dualismus in der Philosophie erfunden. Was heißt das? Grünbein: Naja, von Leib-Seele. Er ist derjenige, der sozusagen zwei große getrennte Substanzen annimmt: die “res cogitans” und die “res extensa”. Eine denkende Substanz, und eine reine ausgedehnte Substanz, der wir quasi gegenüberstehen. Text: Durs Grünbein, Autor Kluge: Also ein Stein, beispielsweise. Grünbein: Ja, oder die Welt als solche, die noch ohne Gedanken ist. Also damit gibt es sozusagen einen Spiegel. Das ist ein streng dualistisches Weltbild. Descartes macht einen Unterschied zwischen unserm Gehirn und dem Himalaya. Ja, allerdings. Er geht übrigens so weit – da zeigt sich auch noch einmal der Dualismus –, dass er… das ist für mich, in meinem langen Verspoem gibt’s da mehrfach Stellen, die darauf eingehen… für ihn sind Tiere gewissermaßen ein Problem. Also er hält Tiere für Automaten. Sie faszinieren ihn, das sind also sowas wie kleine Maschinen, die unglaublich gut laufen, aber sie sind in gewissem Sinn nicht so beseelt wir wir. Sie haben sozusagen keine eigene Steuerung. Ihnen mangelt halt die Seele, ihnen mangelt vor allem die res cogitans. Kluge: Sie sind auch empfindungslos, also beim naturwissenschaftlichen Versuch darf ich die Beine abhacken, im Gehirn rumwühlen, eine Auge entnehmen, um es zu erforschen. Grünbein: So ungefähr. Viel Schlimmes passiert, ja. Kluge: Das ist eigentlich ein sehr harter, grenz-setzender Standpunkt. Grünbein: Es ist dieser knallharte, klassische Rationalismus, dafür steht er auch. Wobei man ihm oft wiederum auch Unrecht tut. Zunächst ist er als zeitgenössische Figur eine der reichsten Figuren, die wir kennen. Wir kennen ihn aus Briefwechseln, wir kennen ihn als Liebhaber, wir wissen von Freundschaften, und so weiter, und so fort. Also, sein Rationalismus ist, sozusagen, nur die Strenge der Methode. Aber unter anderm die führt, ja, die führt zu diesem Geist, aus dem heraus heute noch Tierversuche gemacht werden. Kluge: Er ist eigentlich ein Chirurg des Gedankens; kann man das so sagen? Er ist auch sowas wie ein Grundstücksverwalter, so etwas wie ein Grundbuchamt des Gedankens. Was nicht, sozusagen, im Grundbuch eingetragen ist, ist kein Gedanke. Text: Ein Chirurg des GEDANKENS Grünbein: Wobei es eine strenge Ethik in dem Sinne bei ihm nicht gibt. Er denkt zum Ende hin… Kluge: Nein, aber Architektur. Der Gedanke hat Fenster, Türen, Viereckigkeit, ein Dach… Grünbein: Ja, das genau, genau. Und er physiologisiert das Denken natürlich schon. Es gibt dann eine große Schrift über die Seele, die Affekte, da wird das einmal zunächst zusammengefasst, was die Alten darüber dachten, aber dann geht es plötzlich ganz radikal modern weiter. Also dann kommen schon erste experimentelle Einsichten hier in die Philosophie hinein. Kluge: Wer ist sein Feind, sein Gegner in der Philosophie zu seiner Zeit? Was ist der Gegensatz zu ihm? Grünbein: Also die Gegner sind die strengen Aristoteliker. Das sind die Scholastiker, die ganze Schule von Thomas von Acquino und eben die ganze traditionelle Logik. Alles was sozusagen nicht empirisch ist, was rein idealistisches Denken ist, was nun seit damals auch schon tausendfünfhundert Jahren nur rein tradiert wurde. Das ist eigentlich sein Feind. Und da das die Kirche, die offizielle Kirchenposition ist, muss er da auch sehr aufpassen. Er ist offenbar einmal sehr bestürzt, als er von dem Urteil über Galilei hört, und von da ab ist er auch sehr vorsichtig. Das ist sehr charakteristisch, dass er in Paris mehrere Geistliche als Briefpartner hat und mit denen immer quasi austestet, wie weit kann man gehen. Kluge: Galilei ist ja, hört man inzwischen aufgrund neuerer Forschungen, nicht wegen der Bewegung der Erde um die Sonne zum Abschwören gebracht worden, sondern weil er angefangen hat, die Hostie zu zerlegen, vor der Wandlung, nach der Wandlung, und gesagt hat, physikalisch ist da kein Unterschied. Dies wurde ihm sehr übel genommen. Die Kirche ist aber klug genug, ihn nicht das abschwören zu lassen, weil ja das Abgeschworene dann ein populärer Gedanke sein würde, sondern etwas anderes abschwören zu lassen. Deswegen wurde ihm auch nicht übel genommen, dass er anschließend wieder behauptet “und sie bewegt sich doch”. Grünbein: Ja, was sie schon gar nicht mochten, war überhaupt erstmal, dass Fernrohre auf das All gerichtet wurden, auf den Mond und auf die andern Planeten. Das war auch schon ein Skandal aus Kirchensicht. Man schaut sozusagen nicht so scharf in Gottes Hinterhof. Kluge: Was macht nun ein Poet damit? Was für Verse schmiedest du da? Grünbein: Schmieden ist ein gutes Wort… Nein, es fing also vor ein paar Jahren an, da hatte ich nur einfach diese Urszene, wie ich mir vorgestellt hab, wie er da in diesem kleinen Häuschen da in dieser kleinen Stadt im tiefsten Winter eingeschneit liegt und es beginnt eigentlich nur erstmal mit dieser Zeile: “Monsieur, wacht auf. Es hat geschneit die ganze Nacht.” Ist gar nicht klar, wer da spricht. Ist auch bis heute nicht klar, ob er da nun ganz allein war, oder ob er wenigstens einen Diener bei sich hatte. Dann beginnt für mich, und das wirklich über mehrere Kapitel, so ein Gespräch. Ein inneres Gespräch, aber auch ein Gespräch mit dem Diener, sodass es also ganz viele Dialogpassagen [gibt]. Und da geht es so nach und nach um die Themen dieser Zeit. Also es geht über das Sehen, was ist Gewissheit, dann – das ist noch eine Formulierung von ihm – man “liest im Buch der Welt”. Eines Tages schlug er das große Buch der Welt auf, sagt er selber. Dann gibt es eine längere Passage über Traumdeutung, so hab ich es genannt. In Wirklichkeit ist es so, der Descartes – das ist übrigens eine merkwürdige Sache für einen Rationalisten – es gibt… in diesem Jahr hat er, wenn man so will, drei Visionen. In einer träumt er am Ende von einer Melone. Wieder wach geworden, fragt er sich, was hat das nun zu bedeuten? Und die Melone, zum Beispiel, ist für ihn dann ein Zeichen dafür, dass er sehr einsam sein wird; dass aber in dieser Einsamkeit eine Vollkommenheit ist, dass man praktisch seinem einsamen Weg folgen muss. Und von dem Moment an, sagt er, wusste er auch sehr genau, was er zu tun hätte. Also von jetzt ab konnte er sein Leben ‘nutzanwenden’. Bis dahin hatte er viel nach dahin und dorthin gef[orscht]… Kluge: Was hat die Melone mit Einsamkeit zu tun oder mit Denken zu tun? Grünbein: Ich weiß es auch nicht, wir müssen Freud fragen. Kluge: Die Melone des Gedankens? Grünbein: Ich weiß es auch nicht… Kluge: Es ist eine südländische Frucht, im nordischen Winter bei Ulm… Grünbein: Ich weiß nur, dass Becket das später mal aufgegriffen hat, und dass, meines Erachtens, so eine Figur wie Malone daher kommt. Das ist ein Wortspiel aus “alone” und “Melone”. Aber das geht nur im Englischen… Grünbein: Unter dem Eis: Dezembernacht. Der Himmel sternenklar glänzt poliert Vom frischen Winterwind der mit der rauen Feile Den Schnee zerraspelt hat zu scharfem Eiskrokant. Verharscht die Felder wo sich Maus und Dachs beeilen Die Pfote blutig, auf der Flucht vor einem Schatten. Im Schlamm gefroren, bewachen Pfützen leere Weiden Mit grauen Argusaugen. Der Polarstern glänzt Wie im Theatrum anatomicum das freigelegte Herz. Wie aufgeblasen dehnt das All sich, kolossal und grob Die Erde schrumpft wie ein Planet vorm Teleskop. Ein Stumpen schwelt. Der Rost im Ofen liegt blitzblank Wie nach dem Mahl der Brustkorb des gebratenen Ochsen. Im Umhang des Gelehrten sammelt sich die Winterkälte. Kriecht in den Schnallenschuh, den weißen Spitzenkragen Und malt Rosetten auf das Glas der Butzenscheiben. Frostluft verstärkt im Dunkel die Konturen, Spitzt Kinn und Nase, färbt die Lippen morgens blau. Im Winter gleicht der Mensch dem eigenen Kadaver. Steif liegt er da, wie aufgebahrt – das Bett ein Sarkophag. Ein Schauder weckt ihn. Draußen schneits. Ein neuer Tag. Descartes liegt wach. Auf seiner Stirn steht kalter Schweiß. Er hat geträumt: von Amsterdam. Dort saß er nachts Nackt auf den Pflastersteinen an vereister Gracht, Umringt von Bettlern, zum Gespött der feinen Leute. Und einer rief: Seht nur den Schlaukopf aus Paris. Er angelt Linsen aus dem Eis und Spiegelglas. Er glaubt Der Mensch sei transparent. Und ein bebrillter Zwerg Kam im Galopp herbeigesprengt auf einer Knochensäge. Der streute Salz in seine Augen, gell, das beißt. Dann ließ er los, und pissgelb färbte sich das Eis. Text: Kapitel 7: UNTER DEM EIS Text: Ausschnitt aus dem neuen Vers-Poem von Durs Grünbein über Descartes Text: Grundriss der Aufklärung im 17. Jh. Kluge: Das ist aber interessant, dass du dich sosehr interessierst fürs siebzehnte Jahrhundert. Wenn ich irgendwie bestimmen könnte über die Zeit, dann würde ich ja versuchen, unser neues einundzwanzigstes Jahrhundert, wenn’s ein Wagon wäre, anzukoppeln an das sechzehnte Jahrhundert, als das ganze Denken die Fähigkeit, Eigentum zu bilden, die Fähigkeit, sich im Leben zu orientieren, die Welt zu erobern, an sich zu nehmen, als Europa noch jung ist… Kalt und jung… Text: Linsenschleifmaschine von Descartes Grünbein: Und die Zwischenzeit würdest du annullieren am liebsten? Kluge: Da finde ich, das achtzehnte Jahrhundert ist mir einfach zu rhetorisch. Und das neunzehnte ist ein Verbrauch von Zeit, ein Elendsjahrhundert, das den Ersten Weltkrieg vorbereitet. Und ich würde gerne Abschied nehmen, und diese Wagons auskuppeln, und noch einmal anfangen. Da war die Welt jung - - Text: Poesie des Fortschritts/ H.M. Enzensberger über sein Buch “Elixiere der Wissenschaft” Text: RODNEY BROOKS ROBOTER OHNE KOPF Text: DIE HIRN-FORSCHERIN / Mit Prof. Dr. Susan A. Greenfield (Oxford) Text: DER NANO-FORSCHER / Mit Prof. Dr. George M. Whitesides (Harvard) Text: DER MATHEMATIKER / Keplers Kugelpackungen und die Wurstkatastrophe Text: Der FLIEGEN-FORSCHER / Warum ist es so schwer eine Fliege zu fangen? Text: Der STERNEN-FORSCHER / Prof. Dr. Erwin Sedlmayr: Warum ist der Nachthimmel nicht heller als die Sonne? Text: DAS MURMELTIER DES GEISTES / Durs Grünbein über DESCARTES Text: u. a. Text: DIE ORDNUNG DER DINGE / Wie poetisch ist die Wissenschaft?