Das Jahr 1929
Transkript: Das Jahr 1929
- Das Jahr 1929. Hans Magnus Enzensberger
- Wie erzählt man von ferner Zeit?
- Text
- Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger ist 1929 geboren / Es ist das Jahr des Schwarzen Freitags und umfasst, wie jedes Jahr, einige Milliarden lebendiger Augenblicke / Welches Gewicht haben Tatsachen? / Was empfinden Menschen von heute, wenn sie an dieses ferne Jahr denken? –
- Text
- H.M. Enzensberger
- Text
- Trauerzug für Gustav Stresemann
- Text
- Das Jahr 1929 / Hans Magnus Enzensberger: Wie erzählt man von ferner Zeit?
- Hans Magnus Enzensberger
- Eigentlich ist 1929 der ganze Erinnerungshorizont verdeckt von der Weltwirtschaftskrise…
- Alexander Kluge
- Schwarzer Freitag.
- Enzensberger
- … das ist also die definierende Sache für 1929. Und dabei vergisst man natürlich sehr, sehr viele andere Dinge die passiert sind. Also da gab es Kolonialkriege, es gab Bürgerkriege - interessanterweise in Afghanistan, in Palästina, es gab die Hungersnot in der Ukraine, die von Stalin produziert worden ist, das sind alles Riesenereignisse. China, ein Riesenland, vollkommen in Auflösung eigentlich begriffen und eine ganze Reihe von anderen Großereignissen, die hinter diesem Paravent der Weltwirtschaftskrise eigentlich verschwunden sind. Und dann gab es natürlich die üblichen kleinen, also viele kleine Ereignissen, die auch nicht folgenlos blieben. Aber man kann so eine Gleichzeitigkeit gar nicht im Ganzen erfassen. Das ist auch gar nicht möglich, sich das alles zu vergegenwärtigen. Und deswegen ist die Vereinfachung unvermeidlich.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Kluge
- Umgekehrt, die Aktualität gehört eigentlich von der menschlichen Gleichgültigkeit gerettet. Das heißt also, wenn man einfach nur die Tatsachen nebeneinander stellt, die Gewicht haben und die kein Gewicht haben, dann entsteht ja eine Gleichgültigkeit. Und die Menschen selber im Jahr 1929, die erleben ja bis Oktober keine Weltwirtschaftskrise.
- Enzensberger
- Nein, natürlich nicht.
- Kluge
- Sondern einen bitteren Winter, einen sehr starken Sommer wie 1914. Also alles mögliche andere und werden überrascht.
- Enzensberger
- Ja, ja. Niemand hat das vorhergesehen. Das ist ja auch…, auch diese ganzen Ökonomen, diese ganzen Experten, in den USA besonders: die Federal Reserve Bank, Treasury… Die ganzen Akteure waren eben von dieser Spekulationswelle so mitgerissen, das war wie eine Flut, wie soll…
- Kluge
- Das ist eigentlich wie beim Untergang der Titanic, also wie von Ihnen ja schon mal besungen.
- Enzensberger
- Ja, ja, natürlich.
- Kluge
- Ein Prachtschiff, das da als ganze Gesellschaft fährt.
- Enzensberger
- Das Größte, das Schnellste, das Unbesiegbarste usw.
- Kluge
- Mit Salons und allen Unterbauten…
- Enzensberger
- Ja, ja. Merkwürdige Situation und …
- Kluge
- Nun ist das Schiff jetzt die ganze Gesellschaft, die eigentlich schon vernetzt ist. Also das heißt, eine deutsche Gesellschaft, eine europäische könnte sich von der amerikanischen in diesem Krisenfall gar nicht mehr abkoppeln.
- Enzensberger
- Ja, nein natürlich nicht. Es ging ja da auch um die Folgen von Versailles, zum Beispiel der Dawes-Plan, also die ganzen riesigen Reparationslasten, da wurde ja dauernd verhandelt und die wurden dann auch gedämpft, weil man… So viel haben die Politiker dann doch verstanden: in Deutschland die internen Widersprüche auf die Spitze zu treiben wäre auch für den Rest der Welt… Es gab also schon Interdependenz.
- Kluge
- Man macht sich einen kaufkräftigen Kunden kaputt.
- Enzensberger
- Ja, natürlich, das war klug, daß man das… Aber es war zu spät, es war zu spät, aber…
- Text
- Paris, 7. Juni: Unterzeichnung des Young-Plans
- Kluge
- Und das ist jetzt hier… Am 7. Juni wird in Paris der Young-Plan unterzeichnet. Der Young, das ist ein großer Bankier, also ein Privatmann, ein 1-Dollar-Mann, der für einen Dollar hier als Berater, hier in Europa Frieden stiftet, ein zweiter Hülsen.
- Text
- Owen Young
- Enzensberger
- Ja. Das ist auch sehr interessant von einer anderen Seite her, nämlich Amerika als Image, Amerika als Kult war ja damals schon, Ende der 20er Jahre, eine Manie. Man hat amerikanische Tänze getanzt, amerikanische Schlager, amerikanische Musik, Jazz, Swing, alle diese Sachen gab es ja schon. Und auf dem Theater hat Amerika auch eine Rolle… Mahagonny
- Kluge
- … “Madame Butterfly”, “Mahagonny”, im weiten Weltall fühlt sich Jackie heimisch…
- Enzensberger
- Also Amerika war nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine Utopie dieser Art, eine kulturelle Utopie…
- Kluge
- Da sind die Mäntel auch schön, die Stoffe, das heißt, es kommen von dort her nicht nur Schallplatten, eine neue Musik…
- Enzensberger
- Ja, …, der Film.
- Kluge
- Das heißt, es hat etwas Reiches. Und es ist ja eigentlich ganz sensationell, wie schnell die aufsteigen. Das ist ja 150, 200 Jahre nur.
- Enzensberger
- Ja. Und das ist natürlich auch ein Grund für diese optimistische Grundstruktur, die dann ihre eigenen Risiken mit sich bringt, denn es ist ganz klar: die ganze Krise hat in Amerika begonnen, nicht in Europa.
- Kluge
- Und das Gezerre jetzt zwischen den Franzosen, die Deutschland sozusagen auch mit Hilfe dieser Reparationszahlungen niederhält und die Engländer, die eine eigentümliche Neutralität bewahren.
- Enzensberger
- Ja, sie mussten an ihr Empire denken natürlich…
- Kluge
- Auch desinteressiert, Gleichgültigkeit tötet. Und jetzt kommen Amerikaner, Philanthropen wenn man so will und die wollen, damit hier Kaufkraft nicht entsteht und nicht das ganze Geld verschwendet wird gewissermaßen in französische Staatsausgaben, da wird jetzt geschlichtet und er schafft Folgendes, daß zum ersten Mal die Schulden des Deutschen Reiches nach Versailles beziffert werden. Das waren ja sonst 2,5 Milliarden Mark auf ewige Zeiten… und jetzt wird begrenzt.
- Enzensberger
- Das ist sehr klug. Jeder kluge Bankier muss ja so denken, er muss umschulden, wenn da nichts zu holen ist.
- Kluge
- Und da wird jetzt umgeschuldet und gleichzeitig aber bankmäßig abgesichert, das ist erstmals.
- Enzensberger
- Ja und die Rolle dieser Privatkapitalisten, im Gegensatz zu einem Schatzkanzler oder einem Finanzminister ist ja auffallend stark. Das ist ja auch ungewöhnlich - normalerweise heute sind es die Notenbanken, wo man denkt, sie hätten das Heft in der Hand oder der Währungsfonds oder so etwas. Aber dort waren es tatsächlich private Personen: Mellon, Young, alle diese Leute, die dann auch in der Krise natürlich eine entscheidende Rolle spielten.
- Text
- Restschuld des Reiches wird abgezahlt bis Juli 1988
- Kluge
- Und die sichern jetzt die Restschuld des Reiches, die hoch genug ist, ab, bis zum Jahr 1988. Und unsere fleißigen Finanzbeamten - da gibt es eine extra Abteilung im Finanzministerium - haben bis 1988, also bis kurz vor der Wende, hier diesen Young-Plan abgezahlt. 1945 erlosch da keine Schuld.
- Enzensberger
- Sehr korrekte Buchhaltung.
- Kluge
- Sehr korrekte Buchhaltung und lange Kausalität. So daß also für 1918 noch 1988 bezahlt wird.
- Enzensberger
- Das ist natürlich auch die Frage, wie lange solche Ereignisse…, nehmen wir das Jahr 1929, wie lange die tragen. Das heißt, es gibt auch Eintagsfliegen. Aber schon so ein nicht so wahnsinnig wichtiges Ereignis wie das Konkordat in Italien hat ja Langzeitwirkungen bis heute, denn vorher war ja der Vatikan kein souveräner Staat. Der wurde ja von Napoleon damals schon zugrunde gerichtet.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Kluge
- Und dann bei der italienischen Einigung einfach enteignet, konfisziert. 1871 Dauerkrise. Und Mussolini ist es, der jetzt hier einen Frieden schafft.
- Enzensberger
- Ja. Und das ist keine…, es sieht nicht aus wie eine weltbewegende Sache, hat aber Folgen bis heute, während andere Sachen, wie ein Bankraub, ein sensationeller Bankraub, also all das, was…
- Kluge
- … aber ein interessanter.
- Enzensberger
- Ja, aber was auf der ersten Seite der Zeitungen die Schlagzeile ist, ist oft später folgenlos, hat ja nichts mehr zu besagen, dann kommt der nächste Bankraub usw. Es gibt immer Bankräuber.
- Kluge
- Aber hier ist jetzt mit besonderer Geschicklichkeit von zwei Leuten aus dem Scheunenviertel in Berlin ein Tunnel gegraben worden, direkt in den Tresorraum und dort werden 137 Safes geplündert und in einem ist die Partitur von „Tristan und Isolde“ von Wagner, womit die Diebe jetzt gar nichts anfangen können. Denn das kann man schwer verkaufen. Es ist ja viel Wert, hat Ewigkeitswert.
- Enzensberger
- Ja, ja. Man kann natürlich auch aus einem faits diverse, aus den vermischten Nachrichten, kann man auch etwas deuten, die sind auch manchmal Indikatoren für irgend etwas, das ist ja durchaus möglich. Nur ich meine, die Größenordnungen muss man schon im Auge behalten, denn sonst entsteht ein Mosaik von diesem Jahr, zum Beispiel 1929, das total unübersichtlich ist.
- Text
- Das “Gewicht” von Tatsachen
- Kluge
- Wenn wir beim Jüngsten Gericht gewogen werden, wenn unsere Schuld gewogen wird und unsere Tugenden, dann gibt es ja sehr verschiedene Gewichtungen und das gibt es ja auch hier bei den Ereignissen. Was ist eine leichte Tatsache und was ist eine schwere Tatsache in diesem Jahr 1929?
- Enzensberger
- Ich glaube schon, daß diese Bürgerkriege auch in Asien, die so im Hintergrund unserer Wahrnehmungen damals blieben, Kolonialkriege aller Art - und ich meine, es ist ja auch sehr sonderbar, daß ein Land wie Afghanistan damals schon in einer Situation war, die gar nicht so sehr…
- Kluge
- … am zerbrechen ist …
- Enzensberger
- … die gar nicht so sehr verschieden ist von der heutigen. Oder in Palästina: da gab es blutige Massaker, da gab es also wirklich kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Juden, unter der Hoheit der Engländer, die…
- Kluge
- …wie ein Schiedsrichter…
- Enzensberger
- … die Schiedsrichter waren und von beiden bekämpft wurden. Das sind auch so Dinge, die nicht verschwunden sind, das ist ja klar.
- Kluge
- Das sind also sozusagen Kausalketten, die getrennt marschieren und ganz plötzlich vereint zuschlagen können. Also zum Beispiel der Tempelberg wird noch nach den Regeln der Briten verwaltet. Das heißt, jede Reparatur wird durch eine Palästinenserbehörde überwacht. Da hört die Herrschaft Israels plötzlich einen Moment auf, aus so einem alten Grund. Das ist ja eigentlich unglaublich, also wenn ich mich hineinversetze in so einen Briten, der da sozusagen Palästina verwaltet wie ein Rugby-Spiel und die sportlichen Normen einführen will.
- Text
- Briten in Palästina
- Enzensberger
- Ja, wobei die Engländer damals natürlich auch das Selbstbewusstsein noch hatten als Weltmacht, als Empire, auch Erfahrungen, das heißt sie waren nicht in dem eher hilflosen Selbstverständnis von heute, die waren groß. Auch Churchill - ich meine, die Sache mit dem Goldstandard, alle solche Sachen, was Churchill noch durchsetzen konnte damals.
- Kluge
- Ehrlich gesagt: sie sind unheimlich loyal, das heißt ihnen gehört Dubai zu diesem Zeitpunkt, sie haben die volle Herrschaft über alles Öl dort und sie haben es abgegeben, sie haben es eigentlich wie Treuhänder [gemacht], gezwungen manchmal und manchmal auch ohne Zwang.
- Enzensberger
- Ja, ich glaube das war der Zweite Weltkrieg, der diesem Empire das Genick gebrochen hat. Und da hat Hitler etwas erreicht, was gar nicht seine Absicht war, denn Hitler hat ja die Engländer bewundert, der hat das Empire bewundert, also es war nicht seine primäre Absicht, dieses Empire zu liquidieren, aber das sind die unabsichtlichen Nebenwirkungen einer Aggression, einer politischen Handlung.
- Text
- Politische Geologie / Landkarten verborgener Gefahren
- Kluge
- Aber diese politische Geologie, daß man also diese Strähnen der Kausalketten studiert und kenntlich hält, das ist etwas ganz Wichtiges. Das ist jetzt noch keine Entscheidung, aber daß man sie überhaupt kartographiert, wie man ein Minengelände, das jetzt gar nicht genutzt wird, kartographieren muss, damit nicht andere…, also Kinder dort spielen oder neue Kriege…
- Enzensberger
- Ja, das sind Blindgänger. Da lauert ein Blindgänger irgendwo, aus der Vergangenheit…
- Kluge
- Davon ist die Welt voll. Und das Jahr 1929 ist gewissermaßen eine Brutstätte von Blindgängern.
- Text
- Echos über lange Zeiten hinweg –
- Enzensberger
- Ja, ja sicher. Und dann gibt es eben auch so was wie Echos, also das heißt, einer der Gründe, warum man sich für 1929 interessiert sind gewisse Echos, die sich einstellen. Ich lese gerade ein Buch von Galbraith über den großen Krach von 1929 und es ist ganz auffallend, welche Echos das hervorruft. Er spricht von Formen der Spekulation, auch technisch…
- Kluge
- … das ist der große Wirtschaftswissenschaftler?
- Enzensberger
- Ja, es gab also schon die Investmentfonds, Pensionsfonds, Investmentfonds, das heißt Derivate. Er beschreibt zum Beispiel die Entstehung von Derivaten, was heute eine riesige Rolle spielt in der ganzen Finanzwelt als die Abstraktionen, die Holdinggesellschaften, die eigentlich gar nichts besitzen. Und das interessiert ja jeden, der heute die Wirtschaftsteile der Zeitungen liest, das ist ganz klar. Die Schlüsse allerdings, die man aus diesen Parallelen ziehen kann, die sind ja nicht so klar, weil die Instrumente haben sich auch verändert, mit denen man solchen Krisen begegnet. Denn damals gab es natürlich nicht… Die Notenbanken der Welt waren nicht in ständigem Kontakt, selbst in den USA…
- Kluge
- Es gibt keinen Keynes, der sagt, antizyklisch, der Staat muss Geld ausgeben… Nein, unser Brüning hat gespart.
- Enzensberger
- Es gab 18 Federal Reserve-Banken damals in Amerika, das heißt, die in Washington hatte nicht allein das Sagen… Und es entstanden Koordinationsprobleme, die konnten denen gar nicht so begegnen, weil es gab keinen Währungsfonds gab. Es gab alle diese Einrichtungen nicht, die man erfunden hat als Notnagel.
- Text
- “Die Niederlage der Einen sind die Chancen der Anderen–”
- Enzensberger
- Wissen Sie, ich glaube, bei Krisen dieser Größenordnung kann es ja nicht nur…, das ist einfach nicht möglich, daß es nur Verlierer gibt, sondern das führt auch zu Konsolidierungen, zu einer Steigerung der Kapitalkonzentration…
- Kluge
- Wie bei der Evolution, wenn eine Spezies ausstirbt, entsteht Freigelände und da dringen andere ein.
- Enzensberger
- Ja. Und die breiten sich dann aus und erreichen… Das ist auch interessant, wenn man die Monopolgesetzgebung der amerikanischen Regierungen betrachtet: die war ja sehr spät dran… Was wir heute eine Monopol…, ein Kartellamt und so was, das hat sich ja erst langsam als Reaktion auf die Konsolidierung entwickelt, auf die Machtkonzentration, auf die Monopolbildung… Politisch auch bis heute nicht besonders schlagkräftige Institutionen, die das versuchen zu kontrollieren.
- Kluge
- Jetzt gibt es hier zum Beispiel die “Weltbühne”. Die deckt hier quasi investigativjournalistisch etwas auf, daß nämlich die Lufthansa zwei Abteilungen hat, …
- Text
- “Verrat illegaler Staatsgeheimnisse”
- Kluge
- …Die lesen die Bilanzen, sie sehen da sind zwei Abteilungen und die haben gar nichts mit Flugzeug und Flugverkehr zu tun. Das eine ist die Seeanstalt Seevera, …Seeversuchsanstalt…
- Text
- Carl von Ossietzky
- Kluge
- Da werden Torpedos gebaut und erprobt, was man nach Versailles nicht darf. Und die eine Abteilung M, die macht auch irgendetwas, was gar nichts mit Flugzeugen zu tun hat und das veröffentlichen sie. Das ist sozusagen hier…
- Enzensberger
- Ja, ja, … das wurde eben dann als Landesverrat natürlich bezeichnet, weil diese ganzen Abmachungen… Es gab ja immer diese Kooperation mit der Roten Armee…
- Kluge
- Carl von Ossietzky wird ja dann verhaftet wegen einer ähnlichen Frage und umgebracht.
- Enzensberger
- Natürlich, die ganze Sache mit der Zusammenarbeit der Reichswehr mit der Roten Armee, das ist ja eine ganz lange Geschichte.
- Kluge
- Der Giftgasfall, der findet hier auch irgendwo statt. Daß Hafenarbeiter an Giftgas sterben, weil gerade eine große Portion im Ersten Weltkrieg produzierten Giftgases…
- Enzensberger
- … wird undicht…
- Kluge
- … ja, und beim Transport wird es undicht. Und die Rote Armee kauft das noch, die glaubt noch an den Ersten Weltkrieg.
- Enzensberger
- Ja, die glaubt auch noch an die Überlegenheit der deutschen Erfinder. Es ist ja eine deutsche Erfindung, ich meine Haber, der Nobelpreisträger Haber, dieser…
- Kluge
- …hat das Giftgas erfunden.
- Enzensberger
- …jüdischer Wissenschaftler, der das Giftgas erfunden hat, im industriellen Maßstab.
- Kluge
- Und hier gibt es eine ganze Welt des Geheimdienstlichen. Sie haben ja in Ihrem Buch das verfolgt, bei dem Roth und Scholem und bei der internationalen Abteilung, der Kommunisten Partei, ist das richtig bezeichnet?
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Enzensberger
- Ja, der Komintern und dann ihre deutschen Ableger, sicher. Ja gut, aber… ich glaube, das hat auch noch eine größere Dimension… Ich meine, es gab diese ganzen Apparate, die ja nicht ausgestorben sind, die gibt es ja heute noch. Nur ich glaube, daß von der subjektiven Seite her, war das auch… Ende der 20er Jahre waren Leute immer mehr gezwungen, etwas wie ein Doppelleben zu führen und dieses Doppelleben geht über den Apparat ja hinaus weil, man musste… in der Zuspitzung der ökonomischen und politischen Verhältnisse entstand eine Situation, wo man mit sich selbst eigentlich gar nicht mehr identisch sein konnte.
- Kluge
- Und früher ging man in die Kolonien dann oder wanderte in die USA aus und jetzt geht man in den Untergrund.
- Enzensberger
- Ja. Jetzt geht man in den Untergrund. Und das merkt man auch an der Nervosität, an den Lebensläufen dieser Leute… Als wenn sie in eine Zentrifuge geraten wären, also sie werden herumgeschleudert gewissermaßen. Man kann sich dem kaum erwehren…
- Kluge
- Und ein Liebesverhältnis im geheimdienstlichen Bereich ist noch etwas ganz anderes als ein Liebesverhältnis im privaten und öffentlichen Bereich.
- Enzensberger
- Na ja, das ist klar, da gibt es merkwürdige Mischungen, die auch undurchsichtig sind, denn man kann ja von hinterher kaum mehr feststellen: was war Manipulation, was war libidinöse Energie, was war Wunsch, was war Zwang, das ist sehr schwer zu entscheiden. Und ich glaube diese Leute…, das kann man in den Lebensläufen fast schon…,
- Text
- Geheimdienst, Liebe und zweites Leben–
- Enzensberger
- Die Leute haben Tagebücher geschrieben… Daß man keine solide gesellschaftliche Identität mehr hat, sondern daß man auseinandergetrieben wird. Man will aus dem Milieu der Eltern zum Beispiel weg.
- Kluge
- Also Dr. Mabuse, der im Film dieses Doppelleben führt, das ist in jedem Menschen enthalten.
- Enzensberger
- Das ist ein Charakteristikum, aber das spitzt sich zu in solchen historischen Situationen wie 1929, da bin ich sicher. Also jemand, der 1912, 1913, eine bürgerliche Familie…, der Sohn wird auch Arzt oder wird auch Professor, es gibt ein Milieu, an dem man sich festhalten kann auch.
- Kluge
- Wobei es so ist, daß Ernst Jünger schon in die Fremdenlegion geht und dann aber wieder zurückkehrt.
- Enzensberger
- … zurückgeht. Es ist eine Jugendrebellion, aber…
- Kluge
- Als Frontoffizier ist er noch mal aus seinem Leben eigentlich einen Moment herausgerissen. Und als Mensch des Ernstfalls ist da etwas in ihm, was hinterher sich nicht wieder verliert.
- Enzensberger
- Ja, aber ich meine, solche Leute können Sie natürlich auch unter den Autoren finden: diese ganzen Expressionisten und diese Leute, die schon 1910, ‘12, ‘13, vor dem Ersten Weltkrieg Ahnungen hatten, Intuitionen hatten und gestört waren, also aus ihrer Ruhe auf…, total aufgestörte Leute, aber ich glaube, das war eine kleine Minorität. Die meisten Leute waren davon eigentlich nicht betroffen. Das sieht man ja auch an den Berufskarrieren. Ich meine, man ist in die Firma eingetreten, man hat sein Leben in der Firma zugebracht. Aber 1929, wie?, da war das ja schon längst vorbei.
- Kluge
- Aber zwei Maschinerien, die Industrialisierung und der industrialisierte Krieg zerteilen eigentlich das Innere von Menschen. So daß also gewissermaßen die Antwort, die jetzt libidinös darauf kommt, zwei Leben fordert, mehr als ein Leben fordert und gleichzeitig aber auch der Mensch dafür zugerichtet ist bereits vorher: er wird zerrissen. Wie Franz Biberkopf.
- Enzensberger
- Ja, aber ich glaube, daß es eben auch eine Inkubationszeit gibt, wo dieser Schock des Weltkriegs…
- Kluge
- … 1928/‘29 erst wirksam wird.
- Enzensberger
- … und dann erst zehn Jahre später wird das virulent und ergreift auch…, wird zur materiellen Gewalt sozusagen.
- Kluge
- Und ergreift hier jetzt die Massen. Und während ‘33 dann gedeutet werden kann und auch der Spanische Bürgerkrieg, aber auch viele andere Konsolidierungsversuche auf hochideologischer Ebene…
- Enzensberger
- … wo sich die Leute klammern an etwas.
- Kluge
- … versuchen wieder eine Einheit herzustellen, obwohl sie eigentlich zerrissene Menschen sind.
- Enzensberger
- Ja. Und die schiffbrüchigen Massen klammern sich da fest, sie suchen eine Planke, an der man…
- Kluge
- … eine Luftblase innerhalb der Titanic, die, während sie untergeht, noch Leben erlaubt. Man könnte noch ein halbes Jahr mit den Vorräten im Innern in einer Luftblase gelebt haben.
- Enzensberger
- Ja, ja, aber es ist nicht nur das. Es ist ja auch ein positives Versprechen in dieser Planke, in diesem Rettungsboot, in das die Leute steigen. Das ist ja immer eine Verheißung. Ob das die Kommunisten oder die Rechtsradikalen waren, die haben ja auch Versprechungen gehabt: also wie komme ich raus aus der Bredouille und dieser ganze etwas kranke, uns pathologisch anmutende Enthusiasmus, der ist ja erklärungsbedürftig.
- Kluge
- Und der hat aber dieses, was Sie jetzt sagen, mit der Planke, dem Brett, dem Brett des Karneades zu tun. Hier habe ich zum ersten Mal die Erlaubnis, die anderen wegzuschubsen, wenn das Brett, die Planke, nur einen hält, dann bin ich es und wird einer getreten…
- Enzensberger
- … und der andere muss weg. Dann müsstest du, ja, ja.
- Kluge
- Das ist ein neues Lebensgefühl.
- Enzensberger
- Ja sicher. Die Militanz, die Zuspitzung…
- Kluge
- Auch in der Liebe: “Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht, wenn an der nächsten Ecke schon ein anderer steht?”. Das ist ein Schlager von ‘29.
- Text
- Der anrüchige Mann im NS-Film–
- Kluge
- Es ist eigenartig, daß diese Zersplitterung dann eigentlich anschließend, quasi mit den Heilen-Welts-Theorien des Dritten Reichs… Da kommt das ja nicht mehr vor, das würde ja als Dekadenz gelten. Auch “schöner Gigolo” könnte man da nicht singen. Stellen Sie sich vor: ein SA-Mann als Gigolo.
- Enzensberger
- Ja, das stimmt schon, obwohl Goebbels immer darauf geachtet hat, daß auch in diesem Bereich der Unterhaltung etwas möglich…, etwas noch geduldet überleben kann, um die Leute auch…, weil die müssen ja auch Spiele…, es gibt ja nicht nur Brot und Waffen, es gibt auch Spiele. Und da gab es…, es gab zum Beispiel Nacktrevuen 1938, da gab es Farbfilme bis zuletzt und der Durchhaltefilm wurde immer komplettiert durch einen anderen Film wie “Münchhausen”, wo es irgendwie…
- Kluge
- … der ja auch mehrere Leben führt. Also er verwandelt sich ja.
- Enzensberger
- Gut. Aber alles in allem muss man sagen: ich beneide die Menschen nicht, die 1929 20, 30 Jahre alt waren. Das ist auch eine schreckliche Zeit irgendwie und es wird so ein bisschen verdeckt durch den Mythos der Kultur der Weimarer Republik…
- Kluge
- Mythos…
- Enzensberger
- …Denn es ist ja alles schön, das Bauhaus und dieses und Brecht und wunderbar und so, was da für eine kulturelle Blüte war… Aber ich meine, an dieser Blüte…
- Kluge
- … partizipierten wenige.
- Enzensberger
- … wenige! Und die anderen sind stempeln gegangen. Man muss ja auch sagen: die Misere von damals ist auch schwer…, also man kennt ja diese Fotos, wo irgendwelche Proletarierwohnungen mit Kindern, man kennt so Zille-artige Darstellungen… Käthe Kollwitz usw. Und diese Art von Elend, diese Art von Armut…, auch die Armut hat ja ihr Gesicht völlig verändert, jedenfalls in unseren Ländern. Es ist ja nicht dieselbe Armut. Und da glaube ich, wäre es ein falsches Echo, das in Vergleich, in Beziehung zu setzen. Das ist noch etwas ganz anderes, weil man kann heute arm sein und sich ausgegrenzt fühlen, man hat aber ein Telefon, man hat vielleicht einen Plasmafernseher, man hat dies und jenes, die Wohnung wird vielleicht vom Sozialamt bezahlt usw. Das ist auch ein riesiger Unterschied zu 1929.
- Kluge
- Wenn Sie mal von hier, von 2008, 2009 zurückgucken. Uns trennt von Gestern kein Abgrund, aber die veränderte Lage. Wenn Sie mal diese Seite bezeichnen: was ist daran grundlegend verändert, was ist eigentlich daran eine Antike - wenn wir von 1929 reden - die sozusagen so nicht wiederkehrt?
- Enzensberger
- Ja. Es ist auch fremd geworden, je genauer man hinschaut, desto fremder blickt es zurück. Also man kann gute und schöne alte Filme sehen, man kann eine gewisse Nostalgie entwickeln…
- Kluge
- Aber Stresemanns Beerdigung… Ich kann ausschließen, daß wir solche Rösser hätten, die schwarz geschmückt sind, Troddeln haben und feierlich einen Tod feiern, so wie Franz-Josefs Tod, also ein kaiserlicher Tod gefeiert wird und so wird hier dieser dynamische Mann, der noch auf dem Totenbett, an dem Tag seines Todes, seine Partei knüppelt, daß sie für die Sozialversicherungsgesetze stimmt, also ein energischer Mann. Und der ist plötzlich weg.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Enzensberger
- Es wurde dann 1929 mehr zu Grabe getragen als nur die Aktien. Das ist auch viel von der alten Welt, was da noch vorhanden war, als irgendwie untergründig immer noch da war. Ich meine auch die ganze Mentalität dieses kleinbürgerlichen Menschen, mit seinem Tabakgeschäft und seinen Taubenzüchter-Sachen und so was. Der ganze Habitus von den Leuten, auch ihre Körpersprache… Wenn Sie die Bilder, die Fotos von damals anschauen, die Portraitfotos: man fragt sich, ob solche Menschen überhaupt noch hervorgebracht werden.
- Text
- Die nicht-lineare Erzählweise
- Enzensberger
- Ja, das wirft alles auch die Frage der Darstellbarkeit auf. Und das heißt wahrscheinlich, daß da auch andere Mittel notwendig sind, andere Methoden als die lineare Geschichte, die lineare Erzählung. Das findet man ja schon im Jahre 1929: ich meine Döblin, von den anderen ganz zu schweigen, von Joyce usw., alle diese…,
- Kluge
- Dos Passos.
- Enzensberger
- …Dos Passos, alle diese Autoren. Merkwürdig ist nur, daß in unseren näheren Zeiten diese Methoden eigentlich nicht so weiter geblüht haben, sondern es gibt ja geradezu einen biedermeierlichen Realismus wieder, wenn irgendjemand so seine Liebesgeschichten, seine subjektiven Befindlichkeiten da ausbreitet als Roman. So kann man aber mit diesen Sachen, glaube ich, gar nicht mehr umgehen, sondern man muss schon… Es gibt ja auch Autoren, die Versuche in diese Richtung unternehmen, weil ich kann ja nicht begründen…, eine Stauffenberg-Geschichte kann ich ja nicht bruchlos erzählen, die muss ja mit diesen ganzen Versetzungen, mit diesen Verdopplungen…
- Kluge
- … von George-Kreis bis zu - der 20. Juli, das ist ein weiter Weg und auch wieder nahe. Aber wenn ich mir vorstelle in Schweden: ein Abgeordneter des 20. Juli verhandelt mit einem britischen Diplomaten und sagt, wir müssen wieder Friedrich II., die Stauffer wieder herstellen. Nur die Stauffer helfen gegen Hitler. Dann ist das nach deutscher Betrachtung richtig…
- Enzensberger
- Ja, der Engländer versteht natürlich überhaupt nicht, was der meint.
- Kluge
- … der denkt, wir wollen den Kaiser wieder einführen.
- Enzensberger
- Und solche Bruchstellen sind ja gerade oft sehr interessant: die müsste man eigentlich privilegieren, statt des Kontinuums.
- Kluge
- Wenn Sie mir noch mal ein Lob der linearen Erzählweise… die ist ja zunächst mal eine Errungenschaft.
- Enzensberger
- Ja sicher.
- Kluge
- … also ich kann geordnet erzählen.
- Enzensberger
- Sicher. Und ich meine: dazu gehört eben auch…, ich glaube, da gibt es etwas, was sehr wichtig ist und was viele in der Avantgarde vergessen haben: das ist die Stimme des Erzählers. Es gibt eine Verführung durch Geschichte, durch Geschichten, und die hat mit Tonfällen etwas zu tun.
- Kluge
- Das kann man also gar nicht nur drucken.
- Enzensberger
- Das kann man nicht nur drucken, sondern das muss sich reproduzieren, im Ohr gewissermaßen des Lesers oder des Zuhörers…
- Kluge
- Weil das entscheidet über die Vertrauensverhältnisse, das kennt [man] aus der Kinderzeit-Erzählung.
- Enzensberger
- Ja, ja. Und ich glaube, da liegt die Stärke des alten Realismus, der ja diesen Ton ohne weiteres sofort herstellen kann, wenn er einigermaßen gut ist, der Erzähler. Ich meine: was ist Fontane? Das ist eigentlich ein Tonfall, das ist etwas, was sich im Ohr festsetzt, fast ein Ohrwurm, möchte man sagen. Und da…, Döblin hat das, Döblin hat das, andere haben das weniger. Die konstruktivistisch arbeitenden Leute bleiben oft kalt: die erreichen nicht die Körpertemperatur der Subjekte.
- Kluge
- Und die gibt es geistig noch mal wiederholt. Ohne eine bestimmte Empfindung kann ich eigentlich nicht mich einfühlen.
- Enzensberger
- Ja. Und das bedeutet aber nicht, daß ich jetzt das auswalzen muss im Sinne des Großepos im Balzac’schen Sinn, muss ich nicht… Ich kann verkürzen. Ich kann durch diese Techniken der Montage usw. kann ich unglaublich [viel] ökonomischer sein als das. Wir werden ja auch ungeduldig, denn wir sind ja nicht mehr so geduldig, daß wir den 4. Band des Romans unbedingt jetzt auch noch lesen wollen.
- Kluge
- So daß man also nicht mehr alles so durcherzählt, so wie bei der Backsteinbauweise von Häusern, sondern man macht bestimmte Statik, die ist auch erfühlt, die hat einen Ton und dazwischen kann ich frei Tatsachen denken.
- Enzensberger
- Und da kann man auch verschiedene…- na ja, also gut, das ist jetzt nur meine Vorliebe - daß man auch verschiedene Ebenen des Fiktiven und des Nicht-Fiktiven miteinander in Kontakt bringt.
- Kluge
- Und zwar nicht etwa, weil man sie mischt, sondern weil man sie kontrastiert.
- Enzensberger
- Sie müssen voneinander unterscheidbar bleiben. Und da eben Techniken der Reportage, Techniken der Dokumentation, Techniken dann der Erfindung, aber da muss auch erlaubt sein…. Ich meine, ich möchte mich nicht nur auf eine Aktenedition…, das will ja niemand lesen. Warum nicht? Weil da die Menschen einem nicht verständlich werden, die werden ja nicht verständlich durch Akten allein.
- Kluge
- Das wäre bürokratisch sozusagen. Und die Phantasie ist zwar einerseits fähig so zu ordnen, Tatsachenmassen zu ordnen durch einen Roten Faden und dann braucht sie aber sozusagen als emotionale Nahrung, emotionale Konvolute.
- Enzensberger
- Ja. Und dazu braucht sie auch Detail, Masse, Sinnlichkeit, all diese Momente… Vielleicht sogar Humor gelegentlich, kann auch nicht schaden. Es gibt ja tausend Formen von Humor, der muss ja nicht plump, der muss ja nicht zum Lachen sein, der kann… Subkutaner Humor…, das finde ich zum Beispiel sehr wichtig in der Prosa.
- Text
- Subkutaner Humor (subkutan = Unter der Haut)
- Kluge
- Wenn Sie jetzt eine Erzählung über ein Ereignis von 1929 machen, würden Sie dann so anfangen: Der Regen prasselte auf den Asphalt in Berlin oder so. Das ist auch sinnlich.
- Enzensberger
- Ja, das kann auch sein, ja, ja.
- Kluge
- Das darf man?
- Enzensberger
- Ja, das darf man schon. Aber vielleicht würde ich eher sagen… Störend an diesen Treffen war der Lärm des Zeppelins, ja, plötzlich schauten alle zum Fenster heraus. Ich erinnere mich noch: als Kinder hatten wir oft gerufen “Zeppelin, Zeppelin”, das war ein Ruf, der durch die Stadt eilte und man ist rausgegangen und hat nach oben geschaut.
- Kluge
- Das sah aber auch mächtig aus,
- Enzensberger
- Ja, sah toll aus.
- Kluge
- …diese große, tolle Zigarre, die majestätisch eigentlich, wolkenähnlich… Kommen wir noch mal in die Phantasie von ‘29. Da gibt es zum Beispiel in Moskau jemanden, der will „Wolkenbügel“ bauen. Wenn doch sozusagen New York nicht nachahmbar ist durch die Sowjetunion und den Konstruktivismus, wo man von unten nach oben Wolkenkratzer baut, muss man an den Wolken Wolkenkratzer aufhängen, das wären Zeppeline, Wohn- und Arbeitszeppeline.
- Text
- “Wolkenbügel” = Fliegende Städte
- Enzensberger
- Es gab ja da sowieso einen fliegende Art von Überschuss in dieser … das ist ja schon frühstalinistische Zeit. Aber es gab immer noch diesen Überschuss in der Kunst…
- Kluge
- Nichts ist unmöglich in der Welt.
- Enzensberger
- In der Kunst ist … aber auch so Wolken in Hosen, das ist ja auch kein Zufall.
- Text
- Wolke in Hose / Gedichtband von Majakowski
- Enzensberger
- Und dann war dieses Phantasma des Fliegens sehr wichtig. Die Polarexpeditionen wurden groß gefeiert, die Pioniere aller Art waren da gefragt. Und es ist merkwürdig, wie das mit der zunehmenden Repression gleichzeitig stattfindet, vielleicht sogar kompensatorisch. Weil, das war etwas, was doch beflügelt. Das eine hat bedrückt, das andere hat beflügelt. Also es ist eine merkwürdige Zweideutigkeit, die man wahrscheinlich in Diktaturen öfter finden kann.
- Kluge
- Es gibt da ein Bild, eine Propagandabriefmarke, in der ein Mann, der Getreide erntet, hier die Halme mit seiner Sense abschneidet, dann fliegen sie ‘gen Himmel und verwandeln sich dort in Flugzeuge. Das ist dieses Selbstbewusstsein, dieses Gefühl.
- Enzensberger
- Ja. Und gleichzeitig werden die Bauern in der Ukraine millionenweise dem Hungertod ausgeliefert. Ich meine, das sind schon sehr extreme Widersprüche innerhalb von einer Diktatur.
- Text
- Moskau 24. September: Kalenderreform in der Sowjetunion / Streichung der Samstage und Sonntage
- Kluge
- Da gibt es in der Sowjetunion ‘29 eine Kalenderreform. Es soll in Zukunft immer vier Wochentage geben, dann einen Ruhetag… Wenn 24 Mal die Arbeitstage sich wiederholt haben, dann sind da sechs Ruhetage enthalten, aber der Sonntag und der Samstag wird abgeschafft.
- Enzensberger
- Ja, das soll rationalisiert werden.
- Kluge
- … rationalisiert werden.
- Enzensberger
- Und das hat ja die Französische Revolution auch schon versucht.
- Kluge
- … versucht, ja?
- Enzensberger
- Ja, ja, eine neue Zeit.
- Kluge
- Warum scheitert das eigentlich so regelmäßig, also diese 7-Tage-Woche, die sozusagen damit zu tun hat, daß der Herr die Welt erschaffen hat. Daß man die so schwer ändern kann, daß so konservativ der Konstruktivismus der Zeit abgewählt wird.
- Enzensberger
- Ja, aber ich möchte fast vermuten, daß das astronomische Gründe hat, weil das Sonnensystem richtet sich nicht nach dem metrischen System…
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Kluge
- Nein, aber nach der Woche auch nicht…
- Enzensberger
- Ich kann nicht sagen, das Ur-Meter… Nach dem muss das jetzt alles eingerichtet sein, weil der Kosmos letzten Endes doch stärker ist als irgend so eine Ideologie, das setzt sich ja durch.
- Kluge
- Aber das ist gewiss.
- Enzensberger
- Also das Jahr, die Jahreszeiten sind nicht abschaffbar und das nützt alles nichts, wenn ich auch gerne das verteilen möchte, die Ernte soll gleichmäßig über das ganze Jahr verteilt sein… Nein, da ist nichts zu machen. Also das ist höhere Gewalt.
- Kluge
- Also man könnte die Gesellschaft als Treibhaus nicht ohne weiteres erzeugen?
- Enzensberger
- Nein, das glaube ich auch nicht.
- Kluge
- Also diese Jahreszeiten sind immanent, die stecken uns in den Gliedern?
- Enzensberger
- Ja, natürlich, und das ist ja auch viel älter, das sind Erfahrungen von zehntausenden von Jahren, seit der Menschwerdung, seit der Agrarrevolution usw. Treiben Sie das den Leuten mal aus, also…
- Kluge
- Hat eigentlich irgendein Autor so was schon mal beschrieben? Denn im Orbit, in einem Raumschiff, da hätten sie ja keine Jahreszeiten. Und es gibt auch Kriege, in denen die Jahreszeiten ihnen entschwinden.
- Enzensberger
- Ja, weiß ich nicht. Weil so ein Russlandfeldzug muss mit dem Winter rechnen. Und wenn er das nicht tut, heißt das, daß der Feldzug verloren geht. Also auch da kann das nicht ausgehebelt…, es ist nicht auszuhebeln. Der biologische Rhythmus von Leuten, wann die aufwachen… Wir haben ja eine biologische Uhr, wir sind lichtabhängig usw., das ist ja alles gut erforscht.
- Text
- Fragmentierung / Kunst des Auslassens
- Enzensberger
- Und das kann keine Politik uns austreiben. Zum Beispiel etwas näher an unseren Berufen usw. ist doch das Anwachsen des Materials, also die materialisierte Erinnerung. Ob das Bücher sind oder Festplatten, das ist ganz egal… Das hat ja auch was Beängstigendes. Das heißt, die Fähigkeit etwas zu vergessen ist genauso wichtig wie die Fähigkeit etwas zu bewahren.
- Kluge
- So daß man jetzt Artistikdestrukteur wird und so, das kann ich mir sehr gut vorstellen, daß man mit großem Vergnügen große Tatsachenmassen unterminiert.
- Enzensberger
- … unterminiert oder sogar wegschafft. Und das wirft sogar ein Licht auf barbarische Vorgänge wie den Brand der Bibliothek von Alexandria: das war ja ein bewusster, gezielter politischer Akt, eine Art Bücherverbrennung, aber es war auch ein entlastendes Motiv für eine Gesellschaft, die etwas anderes anfangen wollte.
- Kluge
- Das tut mir auch bis heute leid.
- Enzensberger
- Ja, mir auch, mir auch. Aber andererseits muss es auch Altpapier geben, wir können nicht… Genauso wie man selber in seinem eigenen Kopf ja auch Sachen… - die Funktion des Vergessens ist biopositiv. Wenn ich nichts vergessen könnte, würde ich verrückt, das ist doch ganz klar. Aber wir sind jetzt sehr weit von 1929 weggekommen…
- Kluge
- Aber eigentlich auch wieder nicht.
- Enzensberger
… jetzt sind wir fast schon in der Geschichtsphilosophie.
- Kluge
- Ja, aber man kann ja sich einem Jahr nur nähern. Das ist ja etwas Fremdes, man muss es ja respektieren und achten und wenn man so tut, als stünde man auf “Du” mit einem so fernen Jahr…
- Enzensberger
- … geht nicht.
- Kluge
- Selbst wenn es das Geburtsjahr ist, das kann man nicht. Man muss das eigene Geburtsjahr mit “Sie” anreden,
- Enzensberger
- Man muss es eigentlich ehren.
- Kluge
- Ehren. Und die literarische Form, wie würden Sie die nennen? Würden Sie sagen, man schreibt eine Ode darüber, man würde ein Epitaph schreiben, ein Mausoleum errichten oder ist das Wort Chronik passend? Ein Roman, eine Kartographierung?
- Enzensberger
- Naja, das wirft das Problem des Genres auf. Ich meine, das Ideal, das vielleicht nicht erreichbar ist, aber das Ideal wäre ja, daß ich für jedes einzelne Projekt eine Form erfinde, die nicht notwendigerweise im Schema der Genres bereits vorgeprägt ist.
- Kluge
- … sondern die Cousine eines Genres ist.
- Enzensberger
- Und ich finde solche Grenzgängersachen…, ich meine, ich habe mich mal sehr interessiert für den polnischen Autor Kapuściński
- Kluge
- … ein Weltenwanderer…
- Enzensberger
- …, der ganz merkwürdige eigene Formen entwickelt hat… Er war ja eigentlich Reporter, das heißt Journalist…
- Kluge
- … aber überall wirklich hingegangen.
- Enzensberger
- Aber dann ist er viel weiter gegangen, so daß ein Amalgam entstanden ist von Fiction und Non-Fiction, von Reportage, Roman, von Autobiographie…
- Kluge
- … es ist mir erzählt worden, ich habe selber gesehen…
- Enzensberger
- Ja. Autobiographie, er bezieht sich auf Herodot… Ja, das ist auch sehr interessant. Das heißt, er hat eigentlich für seine Arbeiten… Man kann das an verschiedenen seiner Bücher auch sehen: er hat eigentlich für jedes Projekt eine eigene Form entwickelt. Er hat sich nicht gehalten an eine vorgegebene Sache und das ist… - die Gattungspoetik ist ja uralt, Aristoteles usw., man muss das so: entweder du schreibst ein Drama oder du schreibst eine Reportage oder du schreibst dieses… - Und ich finde, das muss weg. Und so etwas wie 1929 könnte man…
- Kluge
- … mimetisch erfassen.
- Enzensberger
- Damit könnte man nicht fertig werden, wenn man an einer fixen Form sich entlanghangeln wollte, sondern man muss sich schon was einfallen lassen. Das heißt dann Mischformen, aber warum heißt das so? Weil nur im Vergleich zu den festgelegten sind das Mischformen… vielleicht sind das neue Möglichkeiten auch… der Darstellung…
- Text
- Das Jahr 1929 / Hans Magnus Enzensberger: Wie erzählt man von ferner Zeit?
- Kluge
- Wie in der Evolution.
- Enzensberger
- Ja, eine neue Art.