Alexander von Humboldt in Russland

Transkript: Alexander von Humboldt in Russland

Prime Time Spätausgabe (19.09.04)

Alexander von Humboldt in Russland
Hans Magnus Enzensberger über den Naturforscher
Text
Schon sechzigjährig gelangt Alexander von Humboldt mit sechs Kutschen über den Ural und das Altai-Gebirge bis an die Grenze Chinas / Er entdeckt die geologischen Reichtümer des Ostens: Diamanten und Gold / Hans Magnus Enzensberger, der auch über den Sternenzähler Messier schrieb, berichtet –
Text
Alexander von Humboldt in Russland / Hans Magnus Enzensberger über den Naturforscher
Alexander Kluge
Es gibt die berühmte Reise 1829, Alexander von Humboldt ist schon 60 Jahre alt, nach Russland.
Hans Magnus Enzensberger
Ja, ein alter Plan, eigentlich wollte er bis China und bis Indien vordringen, das haben die politischen Verhältnisse nicht zugelassen. Es gab ja damals schon das Great Game zwischen England, das Indien besetzt hielt und Russland, das war ja widersprüchlich. Also er kam nicht bis China, aber er kam bis an die chinesische Grenze. Und das muss man sich mal vorstellen, selbst heute sind die Straßen dort noch sehr schwer…, also das Straßennetz ist sehr primitiv. Damals war das ein einziger Schlamm. Das ist unvorstellbar, da sind sie mit, ich glaube, mit sechs Kutschen da hin gefahren.
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor und Herausgeber
Kluge
… Und wird nicht besser, wenn er ins Altai-Gebirge jetzt vordringt, auch unwegsam.
Enzensberger
Mit sechzig, mit sechzig. Gut, er hatte gute Karten, denn er war schon so berühmt, daß er am Hof in St. Petersburg…, - großer Empfang , die Bürokraten verstanden diese, wie man sie in der russischen Literatur kennt, diese ganze Beamtenwelt mit ihren Stufen -, und die haben gar nicht verstanden…
Kluge
Und sitzen da wie Klein-Byzanz und regieren ein Reich, wo keiner je gewesen ist.
Enzensberger
Ja, kennen das nicht.
Kluge
Sibirien kennen sie nicht und Sibirien ist ja nicht etwa so Taiga oder so etwas, sondern das sind wertvollste Gebirge. Also die Freude eines Oberbergrats…
Enzensberger
Ja, Bodenschätze, die da zu vermuten sind, die aber…
Kluge
Der wilde Osten ist ja viel wertvoller als je Kanada oder der Westen Amerikas war.
Enzensberger
Ja, wartet nur darauf, entdeckt zu werden.
Kluge
Da fährt er sozusagen wie ein Orbiter…
Enzensberger
Wieder mit seinem Satz “man ist hier überall der Erste”, das ist so ein toller Satz von ihm, schreibt er da…
Kluge
… und registriert…
Enzensberger
Ja, registriert und natürlich, die wissen gar nicht… Da gibt es dann diese kleinen…, Gouverneur kann man das gar nicht nennen, aber jede Provinz hat ja so diese Beamten und die wissen gar nicht, was das ist. Da kommt dieser Mann mit einem kleinen Gefolge und zeichnet alles auf: ist das ein Spion vielleicht? Ja? Also es gibt auch Misstrauen, die sind ja misstrauisch, die russische Bürokratie war immer so.
Kluge
Und der könnte jetzt Tipps geben, er könnte einem Großgrundbesitzer in Russland sagen, hier auf deinem Gelände…
Enzensberger
… da wächst das nicht, ja.
Kluge
… gar nicht. Aber hier ist Gold, also mit so und so viel Menschen, die du aus Indien rekrutieren könntest…
Enzensberger
Ja, vieles von seinen Anregungen ist natürlich auch versickert, weil die Leute gar nicht verstanden haben, worauf er hinauswill. Das ist auch ganz klar.
Kluge
Und so reist er jetzt bis an die Grenze Chinas, bis an die Grenze der Wüste Gobi, da kommt er nicht weiter.
Enzensberger
Ja, da kommt er nicht weiter, da muss er umkehren. Und die Berichte, die er dann geschrieben hat, ich glaube, die sind größtenteils dann in den Aktenschränken irgendwelcher Ministerien, in Petersburg wahrscheinlich. Aber, nur die Sache mit den Diamanten, das wurde überliefert, weil diese Diamanten wirklich gefunden sind. Und natürlich so ein Zarenhof war an so etwas interessiert.
Text
Charles Messier, Kometenforscher
Kluge
Von Ihnen stammt ja ein berühmtes Gedicht über Messier, ein Buchhalter der Sterne, nach dem noch heute die Sterneninseln benannt sind.
Enzensberger
Heute noch sind viele Spiralnebel…, die tragen die Bezeichnung M1, M32 usw., das sind die großen…
Kluge
… Andromeda-Nebel heißt nach M?
Enzensberger
Ja, nach M, nach Messier. Und dieser Messier lebte zur Zeit der Französischen Revolution und hat zuerst alles nur…, er war auf Kometen spezialisiert. Und gewissermaßen hat er aus Versehen eine Kartographie…
Kluge
Diese Nebel, die sind keine richtigen Sterne, sagt er, weil möglicherweise Kometen…
Enzensberger
Ja und dann, Humboldt, der das natürlich versteht, daß das keine Kometen sein können, wird zu einem, wenn man das so sagen kann, zu einem Amateurkosmologen, denn natürlich fehlte ihm die Kenntnis von den atomaren Prozessen - also die Energiequelle von Sternen war unbekannt - aber er hat verstanden die Dynamik, die Dynamik, warum das Spiralen bildet. Und er hat sogar eine Hypothese entwickelt, daß es so etwas wie Schwarze Löcher geben könnte. Und das war natürlich auch rein intuitiv, denn es fehlten ja die Elemente.
Kluge
Aber die Intuition, die er anwendet, die hat eine Grundlage, in einer Annahme, die er und alle seine Freunde, seine Gefährten, eigentlich die Klasse von 1800 teilt, nämlich daß das Innere unserer Köpfe, unseres Hirns und der gesamte Kosmos eigentlich identisch sind.
Enzensberger
Ja natürlich. Das ist ja auch…, das Gehirn ist auch Natur, in diesem Sinn wie Humboldt das versteht…
Kluge
Haben sich gegenseitig entwickelt.
Enzensberger
Ja, er hat…, also die ganze Sache mit den zwei Kulturen war ihm völlig fremd natürlich, es gibt nicht zwei Kulturen, es gibt nicht diese Trennung, die dann später in der Spezialisierung sich entwickelt hat, da ist kein Gespräch mehr möglich zwischen den sogenannten Geisteswissenschaften auf der einen und den Naturwissenschaften auf der anderen Seite, das war ihm ja völlig…, das hat er gar nicht verstanden.
Kluge
Es gibt auch kein wirkliches Gegenüber von Subjekt und Objekt, die verwandeln sich ineinander…
Enzensberger
… ineinander an, ja. Und eine andere Sache, die auch interessant ist, daß er…, er hat das Pflanzenbiographie zum Beispiel genannt, was man an diesen Schemata sieht, wenn er so einen Berg beschreibt, die Höhenstufen usw., das ist natürlich eigentlich auch schon eine Vorstufe des ökologischen Denkens. Das Wort Ökologie gab es damals nicht, aber in seiner Praxis hat er auf die Pflanzengesellschaften, auf die Bedingungen unter denen diese Biotope entstehen, das hat er sehr präzise erforscht. Und da war er eigentlich auch ein Vorläufer der ökologischen Wissenschaften. Das sind alles solche Sachen, wo man irgendwie verblüfft sieht, wie jemand Sachen begreifen kann, ohne daß die faktische Grundlage gegeben wäre. Das ist eine ganz sonderbare Sache. Goethe hatte ja auch etwas davon mit seinen Metamorphosen, mit der Urpflanze, das waren alles Dinge… Diese Leute hatten einen…, die waren wir Wünschelrutengänger auch so in der Wissenschaft, die haben…
Kluge
Urpflanze, es liegt also eine Grundform der Pflanze hier allen Pflanzen zugrunde. Und wenn man das jetzt mal ein bisschen anders ausdrückt, dann wäre das das, was Darwin in der Natur entdeckt hat.
Enzensberger
Sicher. Na Darwin hat dann die Mechanismen beschreiben können, wie dieser Prozess der Evolution funktioniert. Das ist bei Goethe noch nicht…, in diesem Sinne noch nicht vorhanden.
Kluge
Aber wenn es einen geschlossenen Kreis, nämlich den Blauen Planeten gibt, dann ist das sozusagen das Gesetz, das heißt, die ganze Erde ist so was wie ein lebendiger Körper…
Enzensberger
Ja, ja, das ist auch klar, denn ich meine auch in der Prosa von Humboldt ist das angelegt, also er beschreibt das ja alles als ein einziges belebtes System.
Text
Die Erde als belebtes System
Kluge
Es gibt bei Hegel, im Gegensatz zu Kant, so eine Verächtlichmachung…. Er sagt, dieser dünne Lichtfaden, an dem wir an den Himmel geknüpft sind…
Enzensberger
… sagt Hegel?
Kluge
… Hegel. Also er sagt, der gestirnte Himmel über mir ist eine Phrase. Meines Erachtens ist das nicht von Vorteil für Hegels Philosophie.
Enzensberger
Nein, natürlich nicht, das ist ja Unsinn, das ist ja Unsinn. Und ich meine, in dem Moment, in dem der Mensch erkennt, daß er auf einem Stern zuhause ist, das ist ja eine ganz…
Kluge
Rückt die Horizonte in die Ferne.
Enzensberger
Ja.
Text
Denkende Naturbetrachtung
Kluge
Denkende Naturbetrachtung. Humboldt überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Man kann doch mit den Betrachtungsweisen Humboldts eigentlich heutige Forschung begleiten, die doch im Grunde alles nachgetragen hat über das Weltall, was er gerne gewusst hätte.
Enzensberger
Ja, vieles von diesen Intuitionen wurde ja eingeholt von der Wissenschaft. Also es ist ja auch so, der ganze Vorgang ist immer so…, da gibt es erst einen Vorgriff, es gibt erst eine Intuition, es wird geraten, es werden Fragen gestellt, die man nicht beantworten kann. Das ist der Vorgriff. Und dann muss es diese zähe Arbeit geben, da müssen dicke Brettchen gebohrt werden und so nach und nach holt man den eigenen Gedanken ein.
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor und Herausgeber
Text
Hubble Teleskop
Kluge
Und manchmal macht das ein mechanisches Gerät, wie dieses wunderbare Fernrohr, dieses Hubble-Teleskop, das plötzlich etwas aufnimmt, was ein Menschenauge vorher nicht sehen konnte…
Enzensberger
Und das liefert unglaubliche Bilder natürlich. Und dann muss diese Forschung…, dann wird zum Beispiel… Was ist eine Turbulenz, ja? Wir haben diese ganzen mathematischen Theorien, wo ganze riesige komplexe Systeme von Differentialgleichungen erklären, wie solche Formen zustande kommen. Also angefangen bei diesen Nebeln, aber das gleiche passiert auch schon in einer Kaffeetasse: wenn man darin herumrührt, entstehen Turbulenzen und diese Turbulenzen unterliegen Gesetzmäßigkeiten. Und diese 200 Jahre seit Humboldt haben Möglichkeiten hervorgebracht, Theorien, Modelle hervorgebracht, die uns erlauben so etwas besser zu verstehen. Erst sieht man es, erst fragt man und dann kommt diese… Und in dem Sinne bin ich einfach auch…, kann ich der Wissenschaft nicht widerstehen, weil ich in ihr auch eine Poesietätigkeit des Menschen sehe, das ist bei dem… Es gibt langweilige Wissenschaften, natürlich, das ist aber notwendig, es muss diese Arbeiter im Weinberg geben, die dieses ewige, manchmal pedantische, wie soll man sagen, diese Laborarbeit, wo man das gleiche Experiment hundert Mal macht usw., also ich hätte die Geduld ja nicht dazu. Aber was dabei herauskommt ist dann etwas, was uns einleuchten kann, was wir sehen können. Und plötzlich sieht man da auf diesen Bildern…
Text
Eulen-Nebel
Kluge
Der Eulen-Nebel…
Enzensberger
… sieht man Dinge, die wir in unseren Träumen eigentlich schon gesehen haben.
Kluge
… der Sombrero-Nebel, meinetwegen…
Enzensberger
Ja, phantastisch.
Kluge
… Lichterscheinungen am Nordpol des Saturn. Das sind dieselben Himmelslichter, Polarlichter, die wir bei uns haben, nur werden sie ganz anders aussehen. Aber sie sind gigantisch, sie sind heute von Hubble aus zu sehen. Das sind doch große unbekannte Dinge.
Enzensberger
Gut, also manchmal ergreift einen eine gewisse Angst vor der Wissenschaft, aber zugleich ist diese Faszination ja…, die kann man doch nicht leugnen. Ich meine, wir sind einfach eine Spezies, die… eben die einzige Spezies, die so etwas sehen kann.
Text
Astronom Zwicky
Kluge
Und Franz Zwicky beispielsweise, der große amerikanische Astronom, der hat ja auch geraten, der hat die Schwarzen Löcher geraten.
Enzensberger
Das tun sie immer. Das ist der erste Schritt. Und in dem Sinne ist eben diese Divinationskunst, wie Novalis das nennt, die Kraft der Divination, so nennt er das, also eine…, ja, das ist…, man kann das verschieden nennen… Divination was heißt das?
Kluge
Eingebung. Wahrsagung heißt das eigentlich…
Enzensberger
Wahrsagerei, Eingebung, ja, das ist eine poetische Fähigkeit.
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Humboldts Vogelhöhle / Eine “Ökologie der Seltsamkeit”
Kluge
Er kommt in Südamerika in eine Höhle, die heute auch nach ihm benannt ist. Und in dieser Höhle macht er eine merkwürdige Entdeckung, die einer nur machen kann, wenn er sehr viel weiß.
Enzensberger
Sie meinen die mit diesen Nachtvögeln, die eigentlich…
Kluge
… die nur nachts jagen, sie kommen zu Hunderten aus der Höhle gebraust, wie Fledermäuse, sind groß, also sind sozusagen so groß wie große Hühner und fliegen wie die Tauben. Und nähren sich nachts.
Enzensberger
Und die indianischen Ureinwohner kennen das.
Kluge
Sie schlachten sie nur ein Mal im Jahr…
Enzensberger
Ein Mal im Jahr…
Kluge
… nehmen ihnen das Fett ab.
Enzensberger
Und durch eine unglaublich lange Erfahrung wissen sie, wie lange es braucht, bis sich diese Vögel reproduzieren können. Wenn man sie nämlich alle abschlachten würde, wäre die Nahrungsquelle versiegt.
Text
Alexander von Humboldt in Russland / Hans Magnus Enzensberger über den Naturforscher
Kluge
Und sie leben aber in einem Ökosystem, einer Höhle, in der es immer dunkel ist, das heißt, sie leben als Nachtvögel, sind aber - das sieht Humboldt sofort im Gegensatz zu den Indios - Tagestiere, typische Tagesvögel, die sich umspezialisiert haben. Das ist doch das, was ihn besonders interessiert.
Enzensberger
Ja, ja. Und da ist er Darwin natürlich sehr nahe mit dieser Anpassung.
Kluge
Und ein bisschen aber stärker als Darwin für selektive Neugier.
Enzensberger
Ja.
Kluge
Also der Blinde, der sehen konnte…