Metamorphosen der Gewalt
Transkript: Metamorphosen der Gewalt
- Text
- Früher war STRUKTURELLE GEWALT in den Gesellschaften eingeschlossen / Davon handeln Tragödien, Opern und Berichte über Ehre, Mord und Tod / Lösen sich in der Moderne die starren Traditionen auf, tritt die GEWALT offen hervor / Oskar Negt über METAMORPHOSEN DER GEWALT / Aus Anlaß der Oper CAVALLERIA RUSTICANA - -
- Text
- METAMORPHOSEN DER GEWALT / Oskar Negt über Kämpfe in der ASYMMETRISCHEN Welt
- Text
- Ausschnitt aus CALALLERIA RUSTICANA von Pietro Mascagni
- Text
- Inszenierung: Calixto Bieito an der Staatsoper Hannover
- Alexander Kluge
- Cavalleria Rusticana. Ländliche Ehre, von Mascagni. Das ist ein Einakter. Der wurde ja jetzt aufgeführt in der Staatsoper. Was war zu sehen? Das war ja versetzt.
- Oskar Negt
- Nun ja, ich meine, das sind diese Ehrprobleme, die Leute auf dem Lande haben eben mit Ehrbegriffen, in denen so etwas wie die eigene Würde wiederhergestellt wird. Das ist eine Kombination von sehr verschiedenen Zusammenhängen vermischt. Und ich glaube, dass hier eben dieser Ehrbegriff transponiert ist in eine Gesellschaftsschicht, in der sich die Menschen etwas genommen haben, was nicht in ihren Lebenszusammenhängen selbst entwickelt wurde. Und soweit ist das so etwas fremdartig, wie das mit der Verteidigung der Ehre erscheint.
- Text
- Oskar Negt, Philosoph
- Text
- Was bedeutet Ehre in Sizilien?
- Kluge
- Wie ein Theater, wie eine Maskerade wirkt es, weil ursprünglich Barone, ganz ursprünglich normannische Barone in Sizilien, eine Ehre untereinander entwickeln, die im Feudalismus einen Sinn hat, Abgrenzungsstatus, und das wird jetzt von armen Bevölkerungsteilen …
- Negt
- … gewissermaßen nachgeahmt.
- Kluge
- Und zwar strenger als es je bei den Adeligen war, dass man in der Maske des oberen Standes seine Abgrenzung im Dorf hat.
- Negt
- Und das nimmt eben so etwas wie … nimmt dem die Selbstverständlichkeit und die Natürlichkeit, gerade durch die Radikalisierung dieses Ehrbegriffs und durch die Individualisierung dieses Ehrbegriffs. Denn gerade bei den Standesbaronen und überhaupt in der Ständegesellschaft ist Ehre gleichsam ein selbstverständlicher Faktor der Standesgliederung, und das ist ja hier bei Cavalleria Rusticana, also bei dieser Aufführung rausgenommen aus einem gesellschaftlichen Kontext.
- Kluge
- Weil der Regisseur sagt, die Ehre, die noch im 19. Jahrhundert in Sizilien, noch im 20. Jahrhundert in Sizilien etwas Reales ist, gesellschaftliche Struktur, in der sozusagen etwas, was unverkäuflich ist, meine Ehre, verteidigt wird. Das gibt es jetzt in der Tauschgesellschaft, also im Vorort von Paris nicht.
- Negt
- Ja, und das ist das Problem eben der Übertragung dieser radikalisierten Ehrbegriffe in eine totale Tauschgesellschaft. Der Kapitalismus kann eigentlich mit Ehre nichts anfangen.
- Kluge
- Weil ich es nicht kaufen und verkaufen kann.
- Negt
- Und ist in dem Sinne nicht kommerzialisierbar. Und deshalb ist auch in dieser Aufführung von Bieito das sehr gut eingebracht mit der Vermischung des Missbrauchs auch dieses Ehrbegriffs. Er wird ja auch benutzt für bestimmte Feindpositionen und etwas durchzusetzen, was mit Ehre so unmittelbar nichts mehr zu tun hat.
- Text
- Was früher Ehre war, wird nackte Macht
- Kluge
- Das Wort kommt ja eigentlich so da auch gar nicht vor. Sondern es verwandelt sich derselbe Impuls: Ich will meine Position in der Welt für unverkäuflich erklären. Ich habe eine Würde, und die ist meine Egozentrik. Wenn es amorph wird, dann wird es reine Macht. Ein Mensch verteidigt sich selbst, indem er Macht über einen anderen ausübt.
- Negt
- Und das ist auch sehr deutlich, dass hier eben der Ehrbegriff wie in vielen fundamentalistischen Zusammenhängen ja auch missbraucht wird für Auseinandersetzungen, die mit Ehre gar nichts zu tun haben.
- Kluge
- Meist zu Lasten der Frauen.
- Negt
- Meist zu Lasten der Frauen.
- Kluge
- Das heißt, ich kann mich als Mann ganz und gar nicht mehr durchsetzen. Ich habe eigentlich alles in der Realität verloren, das sehe ich auch ganz realistisch. Deswegen müssen meine spirituellen Werte, die Werte, die Wertsachen, die mir unterworfen sind, zum Beispiel
meine Frau, aufgewertet werden.
- Negt
- Und zwar so radikal aufgewertet werden, dass sie auch zerbrechlich werden. Denn die Santuzza in der Cavalleria ist ja eine sehr zerbrechliche und zwiespältige Persönlichkeit.
- Text
- SANTUZZA, Leandra Overmann
- Kluge
- Man sieht sie zu Anfang als jemand, der missbraucht wird. Eine Frau, die oft krank ist oder einen Schwächeanfall hat, wird ausgenutzt durch einen Mann. Der Retter schändet das Opfer, also die Frau, die er eben noch rettet.
- Negt
- Insofern nimmt der Ehrbegriff gleich auch so etwas von etwas von Unredlichkeit, Unwahrhaftigkeit an.
- Kluge
- Also selbst Rettern kann ich nicht trauen. Und jetzt gibt es wie durch ein Wunder von oben, dass sie zur Schönheitskönigin gewählt wird. Wie eine Braut steht sie da. Das ist, der Zufall kann einen Menschen auch herausheben.
- Negt
- Natürlich. Aber es hat eben doch, und gerade die Kombination mit dem Bajazzo zeigt also in dieser Aufführung, dass hier gleichsam Realität und Spiel, …
- Kluge
- Theater und Darstellung.
- Negt
- … Theater ineinander transponiert sind, und man häufig gar nicht mehr weiß, ist das Theater oder ist das Wirklichkeit.
- Kluge
- Es gibt den Ausdruck: Terror ist Theater. Das ist ein sehr offensiver Ausdruck, wenn man weiß, wie bitter Menschen daran sterben. Aber ist das wahr? Ist Terror eigentlich, wie wir ihn kennen, Theater?
- Negt
- Jedenfalls lebt Terror ja von Inszenierungen. Terror hat auch nur dann Sinn, wenn ein Dritter da ist, der angesprochen wird. Also gleichsam der Zuschauer. Der Zuschauer ist wichtig. Das unterscheidet ja zum Beispiel die Terroristen auch von den Guerilleros. Die Guerilleros sind verankert, die sind angewiesen auf die Bodenständigkeit und die Hilfe der Bevölkerung.
- Text
- Oskar Negt, Philosoph
- Kluge
- Das, was sie verteidigen, ist anwesend in ihrem Kampf.
- Negt
- Und in ihrem Rücken, in ihrem Schutz steht die Bevölkerung. Während die Terroristen ja darauf gar keine Rücksicht nehmen. Sondern sie haben nur das im Blick, was der Dritte, der das sieht und der die Verhältnisse arrangiert - meinetwegen durch Erhöhung der Sicherheitsvorkehrungen … Die Verunsicherung ist eigentlich das wesentliche Element des Terrorismus, und nicht wie bei den Guerilleros gleichsam der Geländegewinn und die Erweiterung eben dieser autochthonen, dieser verankerten Struktur. Das ist, glaube ich, ein wesentlicher Unterschied zwischen Terroristen und Guerilleros im Sinne von Che Guevara und anderen.
- Kluge
- Und sozusagen Schrecken, Terror, Folter sind ja immer nicht auf den gerichtet, der gefoltert wird, denn der wird irgendwann mal sterben oder nicht mehr funktionieren. Er wird irgendwas sagen, ob es wahr ist oder nicht. Ob es Daten hat oder nicht. Sondern diese Maßnahmen sind Zeichensetzung für einen Dritten, um den zu beeinflussen. In Algier wird
die Bevölkerung beeinflusst, nicht der Gefolterte.
- Negt
- Und ich meine, das beginnt eben doch im größeren Ausmaße mit dem terreur der Jakobiner.
- Kluge
- Was ist das? Was nennt man terreur?
- Negt
- Terreur ist die Herrschaft des Schreckens: das heißt also diejenigen, die sich als Nicht-Patrioten erweisen oder erweisen könnten, davon abzuhalten, die Konterrevolution zu machen. Das heißt, es ist immer gezielt auf Verhinderung.
- Kluge
- Es ist die Herrschaft der Guillotine und des Wohlfartsausschusses.
- Negt
- Das ist die Dokumentation dieses terreur, dieses Schreckens. Und bei den Jakobinern, also Robespierre und Saint-Just, ist ja dieser terreur noch verknüpft mit der unbedingten Geltung von Vernunft. Gleichsam die Vernunft kann man nicht auf leise und leichte Weise
befestigen in den Menschen, sondern sie bedarf des Ernstfalls. Wer sich nicht fügt in diesen Vernunftzusammenhang, ist des Todes.
- Text
- Saint Just, Revolutionär
- Kluge
- Und das ist jetzt wieder ein demonstratives Zeichen, ein öffentliches Zeichen. Das heißt, so schlimm das klingt – die Guillotine-Veranstaltung als öffentliche Veranstaltung ist in dem Sinne ein theatralisches Ereignis für Zuschauer.
- Negt
- Für Zuschauer. Und deshalb ist es auch sehr erwünscht, also die Hinrichtungen sind immer groß angekündigt gewesen. Und die ganze Bevölkerung ist aufgefordert worden, der Hinrichtung beizuwohnen.
- Kluge
- Und Gegner. Und man fürchtet sich nicht vor dem, der hingerichtet wird. Man glaubt, gut, also der wurde auch sozusagen gewarnt, jetzt nicht mehr ein Gegner zu sein. Sondern man richtet ihn hin als Zeichen für eine unbestimmte, am Horizont befindliche Gefahr.
- Negt
- Und insofern ist natürlich dieses Problem der Inszenierung, dass man inszeniert, das in der Französischen Revolution beginnt. Und die Inszenierung also des Endes eines Irakkrieges hat eine große Ähnlichkeit damit. Also wenn Bush auf dem Schiff, Flugzeugträger sagt: Der Job ist beendet, es ist zu Ende und er gewissermaßen die ganze martiale Umwelt und die Medien einbezieht, hat das etwas Ähnliches an sich. Eine theatralische Sendung steckt da drin.
- Text
- Inszenierung von Politik / “Kriegstheater”
- Kluge
- Wenn jetzt Menschen in den USA einen sozialen Abstieg registrieren. Eine Mittelklasse wird geringer als die Mittelklasse. Sie ist bedroht durch die wirtschaftlichen Prozesse, die weniger Menschen brauchen, und einen sehr hohen, auch globalisierenden Umsatz haben, der auf Menschen nicht Rücksicht nimmt. Und das nehmen Menschen wahr, und umso christlicher müssen sie werden zuhause. Sie müssen also Sekten gründen, so wie in der Antike eine Religion neben der anderen sprießt. Manchmal ist es gar nicht mehr unbedingt christlich, sondern eine Seitenrichtung, gemessen jetzt von der evangelischen Tradition, der katholischen.
- Negt
- Ja, das ist völlig richtig. Ich meine, also gerade der Mittelstand in den Vereinigten Staaten ist aufs Äußerste bedroht. Die öffentlichen Haushalte sind leer, 3,4 Milliarden kostet die einfache Besatzung - 3,4 Milliarden im Monat in Dollar kostet die einfache Besatzung, die
öffentlichen Haushalte sind ruiniert. Und hier bildet sich in der Mittelschicht die Angst, verbreitet sich, noch weiter abzurutschen. Und dass da neue Formen des Fundamentalismus, des Sektenfundamentalismus entstehen, ist nicht weiter erstaunlich, aber natürlich für so ein
Gesellschaftssystem eine äußerste Gefahr also des Auseinanderbrechens.
- Kluge
- Man nennt so was doch Balanceökonomie in der Theorie. Das heißt also, je schlimmer eine Wirklichkeit ist, desto mehr geistig Wertvolles muss ich in meinem Bereich aufbauen.
- Text
- Karl Marx
- Negt
- So wie Marx einmal sagt, also je enger die Lebensverhältnisse sind, desto größer das Bedürfnis nach patriotischen Vereinheitlichungen. Der Patriotismus gewissermaßen ist die Kompensation der Lebensenge.
- Kluge
- Nun gibt es aber zwei Patriotismen. Der eine entsteht aus Selbstbewusstsein: Ich lasse mich nicht von einem Ursurpator knechten. Und der zweite entsteht sozusagen wie ein Nationalismus, als Ausweg: Ich wende mich an eine andere Welt, weil diese Welt hier mich bestraft.
- Negt
- Das ist richtig. Und das bedeutet auch, dass hier in den Vereinigten Staaten im Augenblick also auch bei dem Tod eben der Schiavo im Grunde christlicher Fundamentalismus gepredigt wird als eine Form der Herstellung der eigenen Würde in einer Welt, in der einem der Boden unter den Füßen entzogen wird.
- Text
- Terri Schiavo
- Kluge
- So wie die Sizilianer, die einst den Ehrbegriff, sizilianische Ehre, vielleicht sogar die Mafiaorganisation hergestellt haben zur Verteidigung zunächst des Restes an Würde, der unverkäuflich ist.
- Negt
- Des Unaustauschbaren, ja. Also im Grunde etwas Antikapitalistisches steckt da drin, und das gilt natürlich auch für alle Fundamentalismen, auch den islamischen Fundamentalismus. Also die Wiederherstellung des geraden Gangs, des aufrechten Gangs, oder wie immer man das definieren will.
- Kluge
- Des aufrechten Gangs mit Gewalt, mit Knallen, also mit den öffentlichen Zeichen: Ich habe mich erhoben.
- Text
- Ausschnitt aus CAVALLERIA RUSTICANA / Inszenierung: Calixto Bieito
- Text
- Lebenswelt gegen Systemwelt / “Der leise Faschismus”
- Kluge
- Richard Sennett, der große Soziologe in New York und London, der sagt, man muss sich hüten, jetzt dieses fundamentalistische und auch sektiererische Christentum in den USA, das ja Präsidentenwahlen entscheidet, über Krieg und Frieden entscheiden kann, einfach auf die leichte Schulter zu nehmen und zu sagen: Diese Menschen irren bloß. Sie irren sich ja in einer Hinsicht nicht, dass sie ihre Würde nur haben, wenn sie in dieser Weise eine eigene Religion ausdrücken.
- Text
- Oskar Negt, Philosoph
- Negt
- Insofern ist Fundamentalismus nie auf die leichte Schulter zu nehmen in keiner einzigen Form. Aber auch hier, gerade weil es massenhaft ja auch in Wählerstimmen sich dokumentiert, ist das sehr wichtig, das als ein ernstes Problem des Zusammenhalts einer Gesellschaft zu nehmen. Gerade die gegenwärtige Polarisierung und die Zweiteilung der Vereinigten Staaten ist ja ein großes Problem für diese Supermacht, die definiert, was die Einflusssphären des Westens in der Welt sind.
- Kluge
- Richard Sennett nennt das einen leisen Faschismus und sagt, der ist vollkommen verschieden von dem der 30er Jahre, der marschiert, der aggressiv ist, der Kriege bewusst provoziert. Hier geht es um Notwehr von Menschen, die glauben, etwas zu verlieren, was man nicht verlieren darf, und sich jetzt fast prophylaktisch einen Ersatz schaffen.
- Negt
- Aber sie sind natürlich, es ist der Rohstoff auch für imperiale Gesten. Das ist nicht zufällig, dass das zusammenpasst.
- Kluge
- Wenn einer das zum Vehikel macht, wenn einer das instrumentalisiert …
- Negt
- Und das ist ja im Augenblick sogar eine Tendenz, also gewissermaßen das Heimatschutzministerium, wenn man so will, als neues Ministerium … aber wo beginnt der Heimatschutz für die Vereinigten Staaten? Der ist immer weiter ausgedehnt. Unter Monroe 1823 war es noch die westliche Hemisphere. Und auch in der Nachkriegszeit war es ein begrenzter Bereich. Inzwischen ist es in Kirgisistan und in anderen Bereichen, wo die Vereinigten Staaten also ihre Selbstschutzinteressen vertreten. Da heißt also, das ist ein guter Rohstoff, dieser Fundamentalismus, zu sagen, wir müssen also uns selber verteidigen, unsere Würde, unsere nationale Würde. Nicht mehr, wenn die Terroristen zu uns kommen, sondern wir müssen die Terroristen in der ganzen Welt aufsuchen. Und das ist natürlich eine gefährliche Form des neuen Imperialismus.
- Kluge
- Und der leise Faschismus, der dem zugrunde liegt, hat zwei ganz getrennte Komponenten. Das eine ist der Wunsch der Menschen, irgendwo etwas zu behalten, was ewigen Wert hat, was sozusagen auch über meinen Tod hinaus für meine Kinder Wert hat. Das kann man heute …
- Negt
- Das ist Protest gegen Enteignungen.
- Kluge
- Gegen Enteignung, und das ist der religiöse Impuls. Und der ist eine Kraft, eine sicher amorphe Kraft. Aber erstens kann man sie gar nicht besiegen, wenigstens nicht durch Gedanken. Zweitens ist es kein Vorurteil. Das ist ganz richtig gesehen, dass man nicht anderes als das hat. Und drittens ist es etwas, wovor man Respekt haben soll. Wäre derjenige, der das sich zum Vehikel macht, also zum Beispiel eine Stiftung, ein Fernsehsystem, eine Administration, die jetzt sagt: Das nutzen wir, um gewissermaßen konservative Bewegung in der Welt in Gang zu halten, oder andere Teile der Welt zu unterdrücken. Oder wir sind wie Diener davon und führen das aus, wörtlich, was dieses notwendige falsche Bewusstsein uns diktiert. Das wäre etwas Böses.
- Negt
- Ja, aber deshalb ist es ja auch sehr wichtig, die Aufklärung darüber, woher das kommt und welche gesellschaftlichen Ursachen das hat, ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Im Grunde kann man diese Form des Fundamentalismus nur beseitigen, indem man die Misere, die
Alltagsmisere dieser Menschen verändert.
- Kluge
- Und wenn man das nicht kann? Wie sozusagen auch kein Weg dahin führte 1928, meinetwegen die Arbeitslosigkeit zu beenden, damit man nicht ‘33 …
- Negt
- Ja, aber es ist ja so, dass man durchaus etwas machen kann. Denn die Geldmittel werden ja für andere Zwecke ausgegeben. Wenn in der Tat 400 Milliarden für Rüstung ausgegeben werden, um den Terrorismus zu bekämpfen, dann könnte man ja sagen, 200 Milliarden, um die Ursachen des Terrorismus zu bekämpfen, würde sehr viel ausmachen. Und ich glaube, in der
Klammer, in der die stecken, diese christlichen Fundamentalisten, dass das nicht durch Überzeugungsarbeit möglich ist, sondern dass das möglich ist, dass eben die 36 Millionen Armen, die in den Vereinigten Staaten existieren also unter der Armutsgrenze, dass sozialstaatliche Hilfen sehr viel mehr machen, diesen Fundamentalismus zu brechen als alles andere.
- Text
- Aus dem Preludio zu: CAVALLERIA RUSTICANA
- Text
- Tatiana Bergh, Co-Repetitorin
- Text
- Ersatz wirklicher Probleme durch virtuelle
- Kluge
- Wenn aber zum Beispiel hier jetzt sozusagen mein eigenes Leid, meine Deklassierung, dass ich eigentlich weiß, als Menschenwesen werde ich weniger wert als meine Vorfahren. Wenn das sozusagen dazu führt, dass jetzt alle Rechten und Gläubigen in den USA sich mit der einen Frage: Werden die Geräte abgeschaltet bei jemand, der 15 Jahre lang praktisch einen Hirntod hat? Wenn das so ein scharfer Kampf ist und sich auf diese Dinge zuspitzt, und ich
sozusagen meine Stellung als Präsident mit nichts so gut verteidigen kann, als dass ich da, wo ich nicht zuständig bin, mein Bekenntnis liefere, dann ist das so ein Beispiel, wie wirkliche Probleme nicht lösbar sind oder scheinen, und dadurch virtuelle Probleme sozusagen zum Kernpunkt des Lebens werden, zum Kampfobjekt werden.
- Negt
- Ja, aber man kann das auch durch Aufklärung also sichtbar machen, öffentlich sichtbar machen, dass hier natürlich Scheinprobleme gelöst werden.
- Kluge
- Aber am Anfang der Aufklärung liegt, dass ich zunächst einmal den Impuls, ja, ich werde deklassiert, suche einen Ausgleich, den muss ich ernst nehmen.
- Text
- Oskar Negt, Philosoph
- Negt
- Absolut. Das ist der Kerngedanke. Absolut. Aber wie geht es dann weiter? Ich meine, das ist einfach die Frage, wie geht man damit weiter um. Es ist ja auch so, dass die Instrumentalisierung dieser Dinge so offenkundig ist. Also wenn Bush sogar die Gerichtsverfassung zu verändern versucht, also an die unabhängigen Richter rangeht in
diesem Kampf, dann bedeutet das natürlich für die gesamte Tradition der Vereinigten Staaten, von den Bill of Rights und von der Virginia-Verfassung, eine Rückbildung, die sich auch in
anderen Bereichen zeigt. Das heißt, der Angriff auf das Recht und auf die völkerrechtlichen Normen, wenn das alles mit gesetzt ist, dann ist natürlich eben … die Entwicklung politischer Urteilskraft liegt auch in der Verantwortung von Intellektuellen und Wissenschaftlern und Menschen, die für das Gemeinwesen, für das Wohl und Wehe des Gemeinwesens sich verantwortlich fühlen.
- Kluge
- Du hast diesen Prozess vorhin an einem anderen Beispiel erörtert, nämlich: Die meisten Fragen sind nicht räumlich und zeitlich fundiert. In der globalisierten Welt findet überall etwas statt, und nicht nur an einem bestimmten Ort. Gerade im Gegensatz dazu wird die Geo-Strategie, also der Kampf um Raum wieder neu belebt, und der Kampf um Zeit, meine Lebenszeit ist eigentlich das Maß aller Dinge, wieder neu belebt. Das heißt also, etwas Irreales verhindert den Prozess der Anpassung an das Reale.
- Text
- Wirklichkeit ohne Raum und Zeit / Geo-Strategie
- Negt
- Das ist richtig. Und ich meine, die konservative Antwort jetzt auf diese wachsende Haltlosigkeit in der Welt, die dieses Gesellschaftssystem ja mitproduziert, also Brechung der Bindungen und Loyalitäten und so weiter, erzeugt natürlich so etwas wie ein horror vacui, eine Angst vor der Leere oder vor dem Chaos. Es gibt auch die Begriffe Chaosängste, so dass jetzt die Geopolitiker auftreten und sagen: Wir müssen die Vereinigten Staaten als die einzige übriggebliebene Weltmacht benutzen, dass die wieder geordnete Einflusssphären festlegt. Dass man - und das zielt natürlich viel auf China im Hintergrund – Spheren festzulegen, in die man jederzeit intervenieren kann, ob das völkerrechtlich zugelassen ist oder nicht. Und das vermittelt offenkundig bei vielen Leuten wiederum eine Sicherheit.
- Kluge
- Das hat wieder Theatercharakter. Es ist ja gar kein Zweifel, dass man nicht an jedem Ort der Welt herrschen kann. Das kann man nicht, das ist unmöglich. Aber im theatrum mundi, also in einem Welttheater kann ich so tun.
- Negt
- Es ist ein bisschen so, es kehrt das Mittelalter wieder. Ich habe immer so den Eindruck, dass es so ist wie im Mittelalter, als Friedrich II, der große Stauferkaiser, der ja natürlich dieses riesige Reich auch nicht durch Militärmacht beherrschen konnte, Kastelle gebaut hat und gesagt hat: Wer dieses Kastell angreift, greift die kaiserliche Macht an, und gegen den gehen wir vor. Das ist der Feind des Reiches. Das sind natürlich auch die Stützpunkte. In Kirgisien zum Beispiel haben die Amerikaner 2000 Leute da. Und die Russen haben 30 km entfernt 1000 hingesetzt. Das heißt, dieses Symbolische und dieses Theatralische, dieser theatralische Machtkampf spielt sich im Augenblick so auf Weltebene ab.
- Text
- Friedrich II. von Staufen in Sizilien / Wie sich die Insel von Europa trennte
- Kluge
- Du nanntest Friedrich II. Das ist ein König von Sizilien, außerdem deutscher Kaiser. Und nach seinem Tod wird dieses Sizilien vom Kontinent abgetrennt. Da sind ganz andere Herrscher, die Staufer sind entmachtet. Nur in Sizilien kehren sie noch einmal wieder. Und das hat Sizilien nochmals abgetrennt. Ein reiches Land ursprünglich, von Griechen bewohnt, von Moslems, von Phöniziern. Ganz rasch. Und jetzt plötzlich verarmt dieses Land, zum Beispiel im 19. Jahrhundert, auch schon im 18. Jahrhundert. Und jetzt wird die Tugend der Herren, die doch mächtig waren einst, die Ehre, verinnerlicht in den Dörfern. Wenn du diesen Vorgang mir noch mal beschreibst, der in Cavalleria Rusticana die Hauptrolle spielt.
- Negt
- Naja, es ist einfach dieser Ehrbegriff, der wie gesagt also ursprünglich eingebunden ist in eine auch lukrative und sehr wohlhabende Führungsschicht.
- Kluge
- Die Unterschicht wird rausgelassen.
- Negt
- Es ist ja nicht ein Armutsbegriff. Die Ehre ist nicht ein Armutsbegriff.
- Kluge
- Mein Großgrundbesitz bleibt erhalten, so lange ich ihn verteidigen kann. Das ist eigentlich der Sinn der Ehre. Deswegen darf keiner meine Tochter schänden.
- Negt
- Und das heißt, er ist eingebunden, dieser Ehrbegriff ist eingebunden in Machtverhältnisse, Grundeigentum, in ehrgebundenen Verhaltensweisen.
- Kluge
- Und die werden auf dem Dorf nachgeahmt. Sie sind nicht identisch, da ist kein Großgrundbesitz. Ich gewinne durch meine Ehre auch keinen.
- Negt
- Nein, sie werden auch völlig vereinzelt und individualisiert. Der Ehrbegriff, dieser sizilianische Ehrbegriff, wie in Cavalleria Rusticana - cavalleria heißt ja auch Ehre - ist völlig individualisiert und partikularisiert und hat deshalb auch eigentlich den Lebenszusammenhang
verloren, und ist deshalb auch manipulierbar, ist eigentlich nicht mehr das, was also wirklich die Ehre in diesem feudalen Kontext einmal gewesen ist.
- Kluge
- Und ich muss immerzu etwas tun, was den tödlichen Ausgang entweder für meine Liebe oder für mein Leben bedeutet. Das heißt, der Schwache, dem die Frau weggenommen worden ist …
- Negt
- Der hat nur noch seine Ehre.
- Kluge
- … muss dem Starken ins Ohr beißen, löst damit ein Duell aus, und wird vom Starken natürlich getötet. Die Treue gegenüber der Frau oder zwischen zwei Liebenden ist nicht möglich auf dieser Grundlage.
- Negt
- Und das bedeutet eben, dass überhaupt solche Herrschaftsbegriffe dann geschichtlich häufig nach unten sacken und dadurch auch eine ganz andere Form annehmen.
- Kluge
- Und ritterliche Zweikämpfe auf der Ebene des Dorfes führen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen.
- Negt
- Hat auch keine eigenen Regeln. Ich meine, die Zweikämpfe in feudalen Verhältnissen haben eigene Regeln, als Verletzungsregeln und wann so ein Zweikampf beendet wird. Und das ist eben das Spezifische eben dieser abgesackten Begriffe, Ehrbegriffe, dass sie eigentlich maßlos, also maßlose Dimensionen haben. Eben tödliche.
- Text
- “Wie in einer Vorstadt von Paris” / Cavalleria Rusticana
- Kluge
- Und wenn diese Struktur nun verloren geht, weil sie zum Beispiel in einer Vorstadt von Paris oder Madrid in einem Viertel, wo muselmanische und christliche Menschen zusammenleben. Da würde ja dieses sizilianische System nicht mehr existieren. Aber der Elan, der im Innern der Menschen fordert: Ich muss irgendetwas haben, worin ich meine Würde wiedererkenne. Das bleibt.
- Negt
- Das bleibt, und das ist ja auch, das ist ja auch völlig geschichtsunabhängig oder klassenunabhängig oder standesunabhängig. Also gewissermaßen das Bedürfnis also, das Unwiederholbare, Unaustauschbare zu verteidigen, ist glaube ich ein urmenschlicher Zug und ein urmenschliches Motiv. Das heißt, also sich nicht bloß als Mittel verwendet zu sehen in dieser Welt, das ist eine große Kraft.
- Kluge
- Und das ist dieselbe Macht in der Seele der Menschen, aber ohne die Begrenzung. Die Ehre könnte man theoretisch ja wiederherstellen. Aber ein reines Machtgefüge zur Herstellung der eigenen Würde, da gibt es keine Grenzen.
- Negt
- Naja, das ist eben auch, wenn zum Beispiel Michael Kohlhaas in der großen Erzählung von Kleist sich seine Ehre und seine Würde verletzt fühlt, indem seine Rappen zu Schindmären gemacht werden von einem adeligen Herren.
- Kluge
- Dann kämpft er.
- Negt
- Dann kämpft er.
- Kluge
- Noch unterm Galgen hält er aufrührerische Reden.
- Negt
- Aber er ist dann merkwürdigerweise dann auch befriedigt, dass er Recht bekommen hat, selbst wenn er also den Tod erleidet.
- Text
- SANTUZZA sprengt die MUTTER ihres getöteten MANNES in die Luft
- Kluge
- Stichwort Metamorphosen der Gewalt. Und ich meine nicht die Gewalt von oben. Auch Macht, ich meine nicht die Macht von oben, sondern die von unten kommende. Ich verteidige etwas, was ich nicht aufzugeben bereit bin.
- Text
- Oskar Negt, Philosoph
- Negt
- Ja, es gibt ja eine schöne Geschichte von Schiller mit dem Titel “Verbrecher aus verlorener Ehre.” Verloren. Man kann auch sagen, aus verletzter Ehre. Und diese Erfahrung von Verletzungen ist glaube ich ein wesentliches Element für den Menschen zu reagieren und sich darauf zu besinnen, welche Macht habe ich, um diese Ehre oder um diese Verletzung
wettzumachen. Und der Beginn eines solchen inneren Protestes hat immer einen begrenzten Raum, meinetwegen auf eine Person oder auf ein Verhältnis oder eine Institution, traditionell, so wie ein Arbeitsloser sich von der Arbeitsagentur schlecht behandelt fühlt und zunächst auf einen einzelnen Mitarbeiter geht. Das ist die natürliche Form, und das ist eine Form, die für uns ja völlig durchsichtig ist, und die wir für legitim halten.
- Kluge
- Und wenn ich nun enteignet werde und habe kein Gegenüber. Das ist in der modernen Welt sehr häufig. Wie ist es da?
- Negt
- Na, dann nimmt diese Transformation des ursprünglichen Protestes sehr leicht eine Form an, dass sich der Widerstand im Innern ansammelt und akkumuliert und erweitert und immer stärker auch auf die gesamte Umwelt bezogen ist, die mir in meinem Gefühl nicht zu helfen bereit ist. Das verallgemeinert sich im Innern.
- Kluge
- Und ließe sich dadurch noch weiter verallgemeinern, dass das nicht nur bei mir stattfindet, sondern ich kann bemerken, dass es in anderen auch so stattfindet.
- Negt
- Das wäre die nächste Metamorphose, der nächste Gestaltwandel eines solchen Protestes, der darauf geht zu sehen, dass ja sehr viele Menschen dasselbe Gefühl haben. Und nun kann ich also sehen, ob ich sie gewinne für bestimmte Protesthaltungen, öffentliche Protesthaltungen, oder meinetwegen eben wie bei Michael Kohlhaas allmählich so eine Armee sich bildet, die jetzt aufmarschiert. Das wären verschiedene Transformationen von Macht, Ohnmacht und Gewalt.
- Kluge
- Ich merke sozusagen, dass der Gegner unverhältnismäßige Mittel gegen mich und meinen Protest in Bewegung setzen muss, und das gibt mir Selbstbewusstsein.
- Negt
- Das gibt Selbstbewusstsein und verschafft einfach so einen Legitimationsboden. Ich finde es immer begründeter, warum ich mich so verhalte. Und dadurch findet natürlich auch eine Transformation, eine Eskalation also dieser Gewaltpotenziale statt, in denen sich jetzt die Gegenseite wiederum organisiert, um mit unangemessenen, unproportionalen Mitteln darauf zu reagieren.
- Kluge
- Und wenn jetzt an irgendeiner Stelle eine gegenständliche praktische Anerkennung dieser Protesthaltung stattfindet. Wenn sie arbeiten kann, wenn diese Kraft einen Gegenstand besitzt, dann entsteht eine selbstbewusste Bewegung. Und das kann auch sozusagen zur großen Revolution führen, die also unblutig verlaufen… Auf jeden Fall ist das ein Element des gesellschaftlichen Wandels.
- Negt
- Ja, das wäre natürlich die Anerkennung einer gesellschaftlich arbeitenden Kraft.
- Text
- Die aggressive Verwandlung
- Kluge
- Solche Kräfte können aber auch Formen annehmen, die für den Planeten nicht erträglich sind, für kein Gemeinwesen zu ertragen sind. Sie können auch faschistische Formen annehmen. Und in dem Moment, in dem sie das tun, sozusagen das Gegenüber des Sicherheitsrats. Das heißt, alle anderen Menschen und ihre Organisationen, die Völker, würden jetzt eine Gegenwehr suchen. Aber ich fürchte, die sind unentscheidbare Auseinandersetzungen, Kämpfe.
- Text
- Der “theatralische” Tod / Terror ist theatralisch
- Text
- Ausschnitt aus BAJAZZO von Ruggiero Leoncavallo / Inszenierung: Calixto Bieito an der Staatsoper Hannover / “Er tötet seine Frau, die im untreu ist”
- Kluge
- Gewalt steckt an.
- Negt
- Das ist richtig. Das heißt, das kann sein also in kriegerischen Interventionen, das kann sein in einer unangemessenen Gegengewaltaktion, also von was weiß ich, auch von Sicherheitsratsbeschlüssen, die dahinter stehen. Und dann werden allerdings die Ursprungsmotive, die legitim waren, eben nicht anerkannt, sondern es wird nur das Resultat dieser von uns nicht mehr akzeptierten Gewaltförmigkeit wahrgenommen. Damit beseitigt man aber nicht die Ursprungsmotive und schafft auch keine Arbeitsprozesse für die Ursprungsmotive, die dem zu Grunde lagen.
- Kluge
- Das ist der Kern des asymmetrischen Krieges. Und der Friedensschluss im asymmetrischen Krieg geht gar nicht durch Besiegung des Gegners, weil er auch gar nicht zu finden wäre in dieser Form. Ich kann nicht gegen eine geistige Macht einen Protest mit äußeren
Waffen je gewinnen.
- Negt
- So ist es, und ich meine, das ist eben ein zentrales Problem der Gegenwart, dass es diese symmetrischen Kriege eigentlich immer weniger gibt. Wie sollte es sie auch geben? Und diese asymmetrischen Kriege, von denen du sprichst, bestehen ja im Grunde darin, dass also Einzelne oder einzelne Gruppen die Macht ausüben, die sie in einer Konfrontation mit der Militärmacht gar nicht ausüben könnten. Das heißt also, sie nehmen eben das wahr, was die Gegenseite am meisten stört, und diese asymmetrischen Kriege sind sehr gefährlich, weil der Feind nicht richtig im Kollektiv, in Uniform und Symbolen gegenüber steht.
- Kluge
- Es muss ein Feind erfunden werden, den man stellvertretend wieder besiegt.
- Text
- METAMORPHOSEN DER GEWALT / Oskar Negt über Kämpfe in der ASYMMETRISCHEN Welt
- Text
- In Zusammenarbeit mit der Staatsoper Hannover / Musikalische Leitung: Mihkel Kütson / Regie: Calixto Bieito / SANTUZZA: Leandra Overmann / TURRIDU: Ki-Chun Park