Immanuel Kant und der SPD-Parteitag
Transkript: Immanuel Kant und der SPD-Parteitag
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- Am Rande eines Parteitags, der im Hintergrund abläuft, erläutert Oskar Negt AKTUELLE HINWEISE von Immanuel Kant / Was ist METAPHYSIK? / Was heißt METAPHYSIK DER SITTEN? / Was ist AUFKLÄRUNG - -?
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- IMMANUEL KANT UND DER SPD-PARTEITAG / Wovon handelt die METAPHYSIK DER SITTEN?
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- Immanuel Kant (1724-1804)
- Oskar Negt
- Also „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ ist ein relativ abstraktes Gebiet, aber „Metaphysik der Sitten“, da lässt er sich auf die einzelnen Fälle ein. Und so hat er also …
- Alexander Kluge
- Was heißt Metaphysik der Sitten? Was heißt das?
- Negt
- Metaphysik der Sitten heißt, dass hier die Gründe sittlicher Verhältnisse erörtert werden, also was über die bloße Anschauung der Sitten hinausgeht, der sittlichen Verhältnisse.
- Kluge
- Sittliche Verhältnisse … moralische Verhältnisse, heißt das. Nicht die Sitten, nicht die Volkstänze.
- Negt
- Es sind aber auch die Volkstänze hier einbezogen – das, was die Naturvölker machen. Was mit Geld ist, was mit diesen Dingen ist, ist hier aufgeführt in den Grundlagen. Deshalb nennt er das Metaphysik der Sitten, und nicht einfach Analyse der Sitten oder so.
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- Oskar Negt, Kritische Theorie
- Kluge
- Was bedeutet Metaphysik? Was hinter dem Physischen steckt, hinter dem Schein steckt? Oder was heißt das?
- Negt
- Ursprünglich kommt das Wort her aus der Reihenfolge der Schriften von Aristoteles. Andronikos von Rhodos hat die sortiert, und hat dann die Schriften, die sich mit Erkenntnistheorie, mit Theologie beschäftigt haben, „nach den tà physiká“, also „metà tà physiká“ genannt …
- Kluge
- Ach so, das sind einfach die Bände, die nach den Naturwissenschaften kommen.
- Negt
- So ist es. Die Ordnung. Und daraus ist aber in der Entwicklung dann das geworden, was über das Physische, das Physikalische hinausgeht. Also es hat ursprünglich diesen Doppelsinn. Nur die Reihenfolge, und dann das, was die physischen Verhältnisse überschreitet. Und das bedeutet also Logik, oder die Kategorienlehre von Aristoteles gehört zur Metaphysik.
- Kluge
- Und das wendet er jetzt an auf die Sitten, wobei sie in seinem Sprachgebrauch die moralische Konstitution umfassen, und wie man mit Messer und Gabel isst. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, würden wir sagen.
- Negt
- Das ist völlig richtig. Es ist die empirische Seite. Bei Kant gibt es ja diesen sehr strikten Dualismus zwischen intelligiblem Charakter und empirischem Charakter. Intelligibler Charakter ist eigentlich das, was durch Sinnenwahrnehmung nicht feststellbar ist. Das Innere. Das ist das, was Würde ist, was Integrität des Menschen ist, Gewissen. Das sind ja nicht-anschaubare Dinge, die aber gleichwohl das Fundament der anschaubaren sind. Und das würde den intelligiblen Charakter bezeichnen und das Wesen des Menschen. So wie er auch unterscheidet Noumena und Phaenomena. Also Noumena, das sind eigentlich die Wesensgehalte der Dinge, die das, was wir sehen, konstituieren. Wodurch die mannigfaltige Erscheinungswelt sich zusammensetzt zu wahrnehmbaren Dingen. Und in der „Metaphysik der Sitten“ handelt er eher beide Seiten ab. Eher die empirische Seite, dass er auch versucht, an Beispielen das zu erläutern, was sittliche Verhältnisse sind. Zum Beispiel, dieses Gewissen als innerer Gerichtshof wird in der „Metaphysik der Sitten“ abgehandelt.
- Kluge
- Da gibt es auch ein Kapitel über Geld. Eine Theorie des Geldes. Was sagt er da?
- Negt
- Er erläutert eigentlich Geld sehr ähnlich dem, wie Marx das versteht, als Ausdruck des Fleißes der Menschen. Also er spricht hier … Marx würde sagen, die lebendige Arbeitskraft konstituiert die Grundlage der möglichen Tauschbarkeit der Dinge.
- Kluge
- In dieser Uhr stecken sechs Stunden Zeit, Arbeitszeit, Lebenszeit, eines hochqualifizierten Fachmannes. Und noch die Zeit seiner Vorfahren, die es ihn gelehrt haben. Und deswegen ist diese Uhr mehr wert als die Ramsch-Uhr, die nur vier Stunden Arbeitszeit gekostet hat. So würde Marx denken. Auch die anderen klassischen Ökonomen denken so.
- Negt
- Und sehr interessant ist, dass er sagt, das Geld hat ja in sich überhaupt keinen Wert. Man kann es nicht essen, man kann eigentlich … außer eben im Tausch. Es hat einen hohen Wert als universelles Tauschmittel, aber einen niedrigen Wert als Gebrauchsgegenstand. Selbst wenn man Gold und Silber nimmt, so sind die Gebrauchswerteigenschaften dieser Metalle eben doch auch sehr begrenzt. Man kann nicht so arg viel damit anfangen. Man kann Schmuck daraus machen, man kann bestimmte Dinge machen, die sich daraus ergeben, dass man rostfreie Verhältnisse, meinetwegen Zahnplomben oder so etwas … Aber es ist sehr begrenzt.
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- Nuggets
- Kluge
- Es hält sich auch über 2000 Jahre gut, das Gold. Das wäre ein Wert, ein Aufbewahrungswert. Aber das hätten auch bestimmte Hölzer, bestimmte Eisenstangen können das auch, und so weiter.
- Negt
- Wenn er sagt: „Hierauf lässt sich vorläufig eine Realdefinition des Geldes gründen: es ist das allgemeine Mittel, den Fleiß der Menschen gegeneinander zu verkehren.“ Damit meint er, gegeneinander auszutauschen. Die Erzeugnisse des Fleißes gegeneinander auszutauschen, ist eine andere Variante der Formulierung.
- Kluge
- Er stellt sich also vor, dass alle Österreicher, alle Franzosen, alle Preußen, alle Engländer, miteinander in Form ihres Fleißes kämpfen und dadurch ihre Währungen zueinander bewegen.
- Negt
- Und dann nimmt er natürlich den Ursprung, den lateinischen Begriff des industrius, des Fleißes. Der Mühe, des Fleißes, buchstäblich. Und das ist nichts anderes als das, was Marx mit lebendiger Arbeit bezeichnet.
- Kluge
- Diese Philosophie von Kant ist eigentlich eine Erziehung des Menschengeschlechts durch Philosophie, als Projekt. Kann man das sagen?
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- Oskar Negt, Kritische Theorie
- Negt
- Also die Kantische Philosophie nimmt sich vor, die Irrtümer der Menschen zu verringern. Das formuliert er auch als Zweck seiner großen „Kritik der reinen Vernunft.“ Mehr, als positive Erkenntnisse zu bieten. Das Gemeinwesen im Denken herzustellen, das Bürgerkrieg im Denken verhindert, ist seine Formulierung. Der Bürgerkrieg im Denken. Und dieser Bürgerkrieg hat immer etwas zu tun mit dem Dogmatismus von Glaubensgewissheiten, die sich auch durch Wissen legitimieren lassen. Der Dogmatismus von Glaubensgewissheiten zerstört Toleranz und damit einen gesellschaftlichen Friedenszustand der Menschen. Insofern ist immer bei Kant dieser Erziehungsaspekt, der Aufklärungseffekt mit einbezogen. Aber weniger im Sinne der Erziehung des Menschengeschlechts, wie es bei Schiller oder bei Lessing da ist, mit einer Zielsetzung. Kant ist da viel skeptischer als beide. Für Kant wäre es undenkbar zu sagen, der ästhetische Zustand, wo Sinn und Form sich versöhnen, Sinntrieb und Formtrieb sich versöhnen – Sinnentrieb muss man genauer sagen –, die Sinnlichkeit und der Verstand sich versöhnen, da wäre ein Friedenszustand erreicht. Kant ist darin skeptischer, dass er sagt, das muss geregelt werden. Nicht zuletzt durch eine Sanktionsgewalt geregelt werden.
- Kluge
- Aber es ist eigentlich ein merkwürdiger Zustand. Wenn man das mal untersucht. Da ist also ein Universitätsprofessor in Königsberg, und er schreibt an Privatmenschen, die Bücher lesen. An die Teilnehmer einer Gelehrtenrepublik. Er schreibt an sie nicht als Beamte, als Könige, als Unternehmer, sondern er schreibt an sie als Menschen, die privat das Interesse zu haben, sich zu vervollkommnen, aus dem Irrtum herauszugehen. Sich persönlich aufzuklären. So als ob es eine zweite Produktion in der Gesellschaft gibt, nämlich die Produktion von sich selbst.
- Negt
- Das gibt es ja auch. Also die Produktion von sich selbst im Sinne des Heraustretens aus Unmündigkeit ist der Bildungsbegriff. Insofern ist das schon etwas, die Anforderung an den Menschen, Mut zu haben, aus der Unmündigkeit herauszutreten. Mut zu haben, sich seines Verstandes zu bedienen, ist eine Aufforderung an einen zweiten Produktionsprozess im Menschen. Der ist auf Selbstbildung ausgerichtet.
- Kluge
- Als Staatsbürger musst du gehorchen. Als Soldat musst du gehorchen. Als Unternehmer musst du sogar wahrscheinlich Marktgesetzen, Konkurrenzen, der Ökonomie gehorchen. Würde er das sagen? Und gleichzeitig bist du aber noch etwas weiteres, du bist ein Mensch, und Teilnehmer einer allgemeinen Menschheit. Und als solcher hast du die Chance zur Emanzipation, und das wird Rückwirkungen haben.
- Negt
- Der öffentliche Gebrauch der Vernunft steht jedem Menschen zu. Du hast nicht das Recht, als Soldat den Umkreis der Regeln zu überschreiten, die mit deinem Beruf verknüpft sind. Aber daneben bist du Citoyen für Kant, also Bürger.
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- Königsberg 1944
- Kluge
- Wenn du dir vorstellst, 500 Jahre Entwicklung nach solchen Prozessen. Würde das den Menschen ändern, den alten Adam ändern?
- Negt
- Das weiß ich nicht. Aber es ist ja nicht zufällig, dass ich jedenfalls immer wieder auf diese Texte zurückgehe. Und wenn ich in öffentlichen Vorträgen einen Kant-Text zitiere, stoße ich bei fast allen Menschen auf allergrößtes Interesse. Daraus leite ich auch eine gewisse Aktualität dieser Fragestellungen her, weil sie im Grunde auch dieses Element der Freiheitsfähigkeit der Menschen festhält. Er sagt ja nicht: Der Mensch ist frei. Aber er ist freiheitsfähig. Und da die Natur offenbar nichts so ganz umsonst schafft, sagt er, soll er auch frei sein, und soll er sich moralisch verhalten. Und dieses Pathos des Sollens spricht heute doch sehr viele Menschen an.
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- Oskar Negt, Kritische Theorie
- Kluge
- Wenn er heute nach Kaliningrad, nach Königsberg zurückkäme, oder als Geisterseher. Wie würde er sich selbst begegnen? Gibt’s da ein Kant-Museum? Wird sein Haus geehrt? Ist das niedergebombt?
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- Kants Grab
- Negt
- Ich glaube, es würde ihn sehr freuen, dass es wahrscheinlich das einzige Grab in Königsberg ist, auf dem immer frische Blumen liegen.
- Kluge
- Wer legt die da hin?
- Negt
- Bürger, russische Bürger.
- Kluge
- Eingewandert aus Kasachstan, Lehrer, Offiziere …?
- Negt
- Viele Menschen, jüngere Menschen vor allen Dingen auch, die allmählich begriffen haben, dass ihre eigene Identität in dieser Stadt abhängt vom Bewusstsein dessen, was sie einmal gewesen ist. Nicht die Russen haben ja diese Stadt zerstört, sondern sie ist durch zwei englische Bombenangriffe fast vollständig zerstört worden. Insofern ist es auch eine neue Stadt. Aber die Verehrung gegenüber Hamann und Kant, aber vor allen Dingen Kant, bei den jüngeren Russen, die sich dessen bewusst sind, dass für sie auch eine kulturelle Chance besteht, also hier ein Mittelglied zu sein, für die spielt Kant eine zentrale Rolle. Und darüber würde Kant sich, glaube ich, sehr freuen.
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- IMMANUEL KANT UND DER SPD-PARTEITAG / Wovon handelt die METAPHYSIK DER SITTEN?