Marx und der Zirkus

Transkript: Marx und der Zirkus

Text
Marx besuchte gerne den Winterzirkus in Paris / Die Menschen der industriellen und der politischen Revolution machen sich ein Bild von ihrer ALLMACHT, behauptete er, wenn sie dem GEHORSAM DER RAUBTIERE und den KUNSTSTÜCKEN DER ARTISTEN zusehen / Oskar Negt über MARX UND DEN ZIRKUS - -
Text
Marx und der Zirkus / Die seltsame Kunst der Artisten!
Alexander Kluge
Wenn du dieses Bild hier siehst, was sieht man?
Oskar Negt
Man sieht einen Elefanten, der über Hochhäuser geht, eine sehr ungewöhnliche Stellung.
Kluge
Ein russisches Zirkusplakat.
Negt
Zirkusplakat …
Kluge
Er hat auf seiner Haut einen Mond …
Negt
Bunt, der Mond, und Sterne … die Häuser sind bunt erleuchtet. Eine sehr schöne Collage, die zeigt, was ein Elefant doch auch können sollte.
Kluge
Aus Sicht des Zirkus. Das ist ein Zirkusplakat. Und es hebt sich von der Realität deutlich ab. Denn auch ein Elefant ist nicht so viel größer als die Twin Towers. Es ist übrigens so, dass in Coney Island, also bei New York, dem Vorbild der Hochhäuser, ein bewundernswerter Elefant, dreistöckig, stand, wo man oben in dem Leib des Elefanten als einem Hotel wohnen kann. Unten war ein Zigarrenladen, eine Wechselstube. Und das war eigentlich das Zentrum dieses Vergnügungspark Coney Island.
Negt
Es ist ein bisschen so, also was in der Französischen Revolution mit dem Kuhstall, und mit dem Elefanten, und … Das sind ja Versuche, die Omnipotenz des Menschen auch etwas sichtbar zu machen. Was man alles können müsste, wenn man die Mittel, die man hat, wirklich einsetzt. Und natürlich ist das ein Stück Überwältigung der Natur, und die Natur in bestimmten Seiten so auszunutzen und zu nutzen, dass solche Hochleistungen zustande kommen.
Text
Oskar Negt, Philosoph
Kluge
Sag mal, was ist der Kuhstall? Von Boulet, meinst du?
Negt
Ja, von Boulet, ja.
Kluge
Was ist das?
Negt
Naja gut …
Kluge
Ein Gebäude?
Negt
Ein Gebäude. Ein Gebäude als Kuhstall zum Besuch von Leuten …
Kluge
Ist gebaut als Kuh. Eine riesige Kuh, fast wie ein Hochhaus. Eigentlich ein Tempel der Landwirtschaft. Und man betritt diese Kuh und hat dann wahrscheinlich Darstellungen, Altäre der agrarischen Möglichkeiten.
Negt
Möglicherweise, ja. Das sind alles Versuche, die Leistungsfähigkeit der Menschen zuzuspitzen. Und der Zirkus ist natürlich dadurch, oder in diesem Zusammenhang, ein geeignetes Mittel, eine Fantasiewelt zu entwickeln für die Menschen – was sie sich träumen, was möglich wäre –, und gleichzeitig als eine Art Spektakel zu organisieren.
Kluge
Das ist ja privatwirtschaftlich entstanden, das ist ja nicht politisch entstanden. Politisch entsteht zunächst einmal als öffentliche Vorführung des Revolutionsideals, was? Fest des höchsten Wesens, der Vernunft. Und da werden die sakralen Räume freigeräumt, der Bischof wird rausgeworfen, es wird ein Sandhügel errichtet in Notre Dame. Da darauf, wo der Altar stand, kommt jetzt eine Hütte, wo der Gemeinderat sitzt, und davor tanzen Jungfrauen …
Negt
Und das ist natürlich berechtigt, dass das irgendwie nicht besonders interessant und besonders lustvoll war.
Kluge
Dauerte zwei Stunden, und deutete eigentlich an, dass die Vernunft etwas Langweiliges ist.
Negt
Robespierre hat sich ja extra ausstatten lassen für dieses Fest der Vernunft.
Kluge
Mit einem blauen Gewand, wie ein Romantiker.
Negt
Wie ein Romantiker, oder ein Priester, priesterähnlich.
Kluge
Ein Seidengewand. Und jetzt müssen alle hinter ihm herziehen, wie bei einer sehr, sehr schwerfälligen Prozession.
Negt
Aber es hat sich nicht gehalten. Es ist auch, im Vergleich zum Zirkus ist das natürlich ein relativ langweiliges Vorstellungsunternehmen.
Kluge
Denn der Gegenpol zum Fest des höchsten Wesens, oder zur Huldigung der Vernunft in Notre Dame, ist ja der Platz, auf dem die Guillotine aufgestellt ist. Und das ist ja auch eine öffentliche Veranstaltung, ein Theater. Und das ist sehr besucht.
Negt
Man hat ja sogar die Leute vorher informiert darüber, wer hingerichtet werden soll, um die Plätze voll zu bekommen. Das ist schon eine Demonstration dieses Terrors der Vernunft, was eine ganz andere Dimension hat als das Fest der Vernunft.
Kluge
Und es gibt Fantasien, die sich darauf richten. Das heißt also nicht nur, dass man erschrickt. Sondern, dass man denkt: Ist in den Köpfen, die abgehackt sind, nicht noch irgendwie eine Erinnerung? Sehen sie noch die Abenddämmerung? Sehen sie noch, wie der eigene Kopf, oder der anderer, in die Grube rollt? Das heißt, es gibt eine makabre Faszination, die von dem Terror ausgeht. Und wenn das die eine Öffentlichkeit ist, die den Schrecken verbreitet, und die andere die Vernunfttugend feiert. Dann sind das ja beides öffentliche Veranstaltungen, die beide politisch nicht funktionieren, oder jedenfalls in ihr Gegenteil sich verkehren.
Negt
Jedenfalls erschöpft sich das Interesse sehr schnell an beiden.
Kluge
An den Guillotinen ja nicht. Da ist ja bis zuletzt Interesse. Die kucken ja neugierig zu, wie Robespierre hingerichtet wird.
Negt
Das ist richtig. Aber dann beginnt auch allmählich das aus der Öffentlichkeit genommen zu werden.
Kluge
Und inzwischen haben die Menschen selber durch Zahlung von Franc-Beträgen, von kleinen Beträgen sich selber hier ihren Zirkus geschaffen als revolutionäre Kunst, ohne die Obrigkeit.
Negt
Es ist natürlich schon seit der Antike dieser Zirkus, Circus Maximus, immer auch gedacht als eine Form der Belustigung und auch der Ablenkung.
Kluge
Aber eher zur Guillotine hin. Also das heißt Mord. Raubkatzen werden gemordet, Gladiatoren töten sich gegenseitig. Das sind Zweikämpfe. Das geschieht ja im Zirkus gar nicht. Im Zirkus stirbt keiner. Außer durch Unfälle.
Negt
Das ist richtig.
Kluge
Das heißt, das ist doch anders.
Negt
Das ist anders. Das ist auch noch anders als zur Zeit von Pompeius, der 500 Elefanten in seinem neuen Theater aufführen ließ, die da hingemordet wurden. So dass dann das Publikum weglief, weil es das Geschrei der Elefanten nicht mehr ertragen konnte.
Kluge
Um darzustellen, was den Puniern geschah. Wie siegreich Rom über Karthago ist.
Negt
Was den Puniern geschah, und was er vermag, also 500 Elefanten hier aufzuführen. Das ist richtig. Das ist eine Art Virtualisierung, eine Art Transformation in den Fantasiebereich, in den Anschauungsbereich, mit entsprechenden Risiken für Tiere und Menschen, aber eigentlich nur aus Zufall mit tödlicher Folge.
Kluge
Karl Marx hat sich ja sehr für die Französische Revolution interessiert, und er ist auch oft in den Zirkus gegangen. Wie hätte er den Zirkus als ökonomisches, als gesellschaftliches Verhältnis, ein Stück Politik, eigentlich uns erläutert?
Negt
Na gut, ich meine, der Zirkus ist auch so etwas wie eine Darstellung, eine Ausstellung von Wünschen und Möglichkeiten der Menschen. Und das Training und das Züchten von Fähigkeiten, von Fertigkeiten, von ungewöhnlichen Fertigkeiten, die hätten ihn sicher fasziniert.
Kluge
Ein Treibhaus menschlicher Fähigkeiten, die ganz unerwartet sind. Und er würde es mit den Treibhäusern vergleichen, die in den Weltausstellungen stecken.
Negt
Ja natürlich. Die Bewunderung für die Weltausstellung ist auch dokumentiert. Weil es wird hier angeboten eine Art Ansammlung der menschlichen Möglichkeiten, und deshalb ist in seinem Fortschrittsbegriff, der natürlich auch sehr stark mit den technischen Möglichkeiten verknüpft ist, so etwas Experimentelles wie ein Zirkus durchaus mit drin.
Kluge
Da hat man Experimente. Man hat also einerseits Künstler, die fliegen können im Zirkuszelt. Sie können nicht wirklich fliegen, aber sie können so tun, als könnten sie fliegen. Ist schon eine Überwindung der Schwerkraft.
Negt
Ja, und entspricht ein bisschen dem, was die frühen Utopisten, Thomas Morus und andere, immer verbunden haben mit bestimmten Entwicklungsmöglichkeiten dieser Gesellschaft. Thomas Morus spricht von U-Booten, und das Fliegen ist seit Ikarus sowieso ein Wunschtraum … Also werden so potentielle Kräfte auch hier gefahrlos, mehr oder weniger gefahrlos dargestellt, und amüsieren das Publikum.
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Das Unmögliche wagen!
Negt
Alle Beschleunigungen, und alle Dinge, die andere Tiere hochspezialisiert haben. Eben wie Elefanten jetzt nicht gerade auf Hochhäusern zu marschieren, aber doch auf einem Bein zu stehen mit diesem gewaltigen Gewicht.
Kluge
Was sie nur tun, wenn der Mensch sie zwingt. Ich habe noch keinen Elefanten in Afrika gesehen, der das freiwillig macht.
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Verena und Rudi in Hannover
Negt
Es gibt so etwas. Wie bei kleinen Elefanten. Wir haben in Hannover im Zoo zwei kleine Elefanten, die etwa gleichaltrig sind. Wobei der eine klettern kann, und sehr gerne klettert, und auch risikoreich klettert; und der andere zusieht und das nachmachen will, und fortwährend umfällt. Das heißt also, es gibt so etwas wie die Lust auch, etwas auszuprobieren. Möglicherweise schon unter Einfluss des Menschen, natürlich. Die Wahrnehmung des Publikums für solche Tiere ist auch etwas …
Kluge
Dass der eine etwas kann, und der andere gewissermaßen ihn nachahmt, und alles missglückt. Das ist eigentlich in gleicher Weise unterhaltend.
Negt
Sehr unterhaltend, ja.
Negt
Es ist im Grunde das zwecklose Spiel der Gemütskräfte, das trotzdem so etwas wie einen verborgenen Zweck hat und sich organisiert.
Kluge
Nämlich die Wünsche zu äußern.
Negt
Die Wünsche zu äußern, und im Spiel der einzelnen Gemütskräfte sich zu bewegen spielerisch, nicht gewollt.
Kluge
Und damit Gleichgewichte in den Gemütskräften zu erzeugen.
Negt
Und das ist Lust.
Kluge
Das ist Lust. Und der Zirkus hat ja am Ende – im großen französischen Zirkus – immer ein großes Tableau, ein lebendes Bild, wo irgendein Wunschtraum, eine Trauer, ein Trost, oder so etwas geboten wird. Und die Tiere kommen dann hinzu, die ganzen Künstler, und trauern mit oder freuen sich mit. Triumphzug ist eher das Seltenere. Also meinetwegen die Ermordung eines Generals Napoleons in Kairo, den ein Fundamentalist erstochen hat.
Negt
Der wird im Zirkus noch einmal betrauert.
Kluge
Trauer um den Tod des General Kléber. Und wenn jetzt die Elefanten – die trauern ja nicht wirklich – aber sie sehen, wenn sie niederknien auf Geheiß des Dompteurs, so aus, als ob sie trauern.
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Sitting Bull mit Buffalo Bill
Kluge
Einer der Häuptlinge der Sioux, die den General Custer und seine Truppe besiegt haben und umbrachten, der war ja später im Zirkus tätig mit Buffalo Bill. Unter dem Namen, das ist ein Kunstname. Das war aber ein Echter! Ein echter Weißen-Töter. Das ist wirklich Zirkus.
Negt
Aber das natürlich schon eine etwas tragische Entwicklung. Das ist, was weiß ich, wie bei dem Professor Unrat, der dann in dem Schauspiel auf der Bühne auftritt als eine entwürdigte Figur. Das habe ich bei dem Buffalo Bill immer empfunden, das ist doch ziemlich kränkend und entwürdigend, dass der große Häuptling da für die Weißen auftritt. Das ist natürlich auch die Zeit, in der der Zirkus ein wesentliches Spektakel ist. In einer mediatisierten Welt ist der Zirkus eben doch nur ein Element unter sehr vielen anderen.
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Marx und der Zirkus / Die seltsame Kunst der Artisten!