Gorbatschow in Bayreuth
Transkript: Gorbatschow in Bayreuth
- Text
- PRIME TIME. Spätausgabe
- Voice-over
- Ich begrüße die verantwortlichen Herren der Premiere von “Tristan und Isolde” und aus der Welt des Films und der Medien, die auf dem Podium Platz genommen haben, und die Sie anschließend bei der Pressekonferenz noch einzeln vorgestellt bekommen. Meine Damen und Herren, ganz im Sinn der neuen Zeit und der Verständigung, die uns geschenkt ist, erleben wir den Besuch Seiner Exzellenz Präsident Gorbatschow.
- Text
- Am Tage der Premiere des Tristan in Bayreuth /
- Voice-over
- Im Mittelpunkt steht das Werk Richard Wagners als gesamteuropäisches Erbe.
- Text
- M.S. Gorbatschow ruft zur Rettung der Kultur in Rußland auf /
- Voice-over
- Wenn die europäische Geschichte auch viele die Völker trennende Phasen erlebt hat,
- Text
- PRIME TIME Spätausgabe befragt ihn: Über die “Räuber von Minsk”, über die russische Seele,
- Voice-over
- so gehört zu den die Völker verbindenden Faktoren an vorderster Stelle die Kultur. Die Stadt Bayreuth kann sich glücklich schätzen, als internationale Festspielstadt Richard Wagners das Zentrum seiner die Völker verbindenden Werke zu sein.
- Text
- über Geduld und Härte russischer Menschen / Was dachte Lenin unmittelbar vor seinem Tod?
- Voice-over
- Möge diese völker- verbindende kulturelle Initiative als Bayreuther Erklärung inspiriert sein vom weltoffenen Geiste des Werkes Richard Wagners.
- Text
- Gorbatschow in Bayreuth / Was weiß man von der russischen Seele?
- Voice-over
- Das Podium gehört nun Ihnen, Exzellenz, und Ihren Gästen dieser Pressekonferenz. Herzlich willkommen!
- Alexander Kluge
- Das war eine sehr eindrucksvolle Veranstaltung, ja? Und es geht darum, d die Öffentlichkeiten in Europa zu verbinden. Michail Gorbatschow (via Dolmetscher): Ich bin voll mit Ihnen einverstanden.
- Kluge
- Was heißt auf Russisch Öffentlichkeit? Gorbatschow (via Dolmetscher): Das ist … das wird jetzt sehr akzeptiert, das sitzt eigentlich in uns, dass es öffentlich ist. Das ist eben etwas, was die russische Nation ausmacht, die Geistigkeit, das Mitleid, Mitleid, das ist der Schlüssel dieser Gesellschaft, um Probleme zu lösen. Wenn mal das Versorgungsproblem, also, gelöst sein wird in einigen Jahren, dann nicht mehr so wichtig sein wird, Wurst bekommen, kaufen zu können, dann wird es … kann man sagen, dass es ein ganz großes Potential ist, das es in der Kultur gibt. Und das war alles unterdrückt, und jetzt kommt es an die Oberfläche. Das ist eine Explosion, würd’ ich sagen, und da wird auch einiges dann zerstört und weggefetzt, nicht nur … auch manchmal das, was eigentlich noch vonnöten wäre, nicht nur das Unnötige. Das ist ein, ein Topf, ein russischer Topf, in dem diese Dinge dann gären …
- Kluge
- Das ist, was Sie sagen, das ist der Kochtopf, der russische Kochtopf …
- Text
- Übersetzung: Dr. Wilhelm von Timrodt Gorbatschow (via Dolmetscher): Ein richtiger Topf. Und da wird auch geschmolzen und umgeschmolzen…bis worüber. Natürlich haben wir manchmal den Eindruck, dass wir nicht mehr eine bestimmte Orientierung haben, vom Wege abgekommen sind, aber in dieser Gesellschaft weiß man genau,
- Text
- Heiner Müller, Dramatiker dass man bestimmte Dinge nicht akzeptieren darf, es darf kein Zurück geben zur Vergangenheit, das ist nicht mehr akzeptierbar. Und genauso wenig akzeptiert wird, dass man alles was früher war zerstört werden muss, das wird auch nicht akzeptiert, denn die Menschen haben gelebt, haben geschaffen, und haben in diesem Regime und entgegen diesem Regime gewohnt und gelebt, und sie sind nicht einverstanden, dass man das alles ausradiert. Aber es wird auch nicht akzeptiert, dass wir Schemen in die Tat umsetzen, die von außen kommen und nicht von uns selbst stammen. Das geht mit Russland nicht. Auch mit einem kleineren Volk würde das nicht gehen, ein kleineres Volk würde sich noch viel mehr selbst schützen, damit es nicht seine Identität verliert.
- Kluge
- Wenn Sie einmal zurückdenken an den Dezember 1991, ja nicht -
- Text
- “Die Räuber von Minsk”
- Kluge
- Minsk, ja, nicht – das ist ja ein Putsch, das ist der zweite Putsch. Ja, kann man sagen? Gorbatschow (via Dolmetscher): Das sind Putschisten, und die nenne ich Puschisten, das sind – Puschisten,
- Text
- “Das waren nicht Putsch-isten (Teilnehmer am Staatsstreich), sondern Pusch-isten (Wegelagerer, Räuber)” das ist ein Dickicht, das sind Dickichtleute, aus dem Dickicht.
- Kluge
- Ach, Räuber. Wegelagerer. Wegelagerer. Ja. Ja. Gorbatschow (via Dolmetscher): Schiller.
- Kluge
- Und hier gibt es einen Moment, in dem… äh, ja, “Die Räuber”, von Schiller… und jetzt kommt der Präsident Nazarbayev zu Ihnen und sagt, ja: Der Präsident der Sowjetunion, Sie, haben noch Möglichkeiten, ja. Sie haben noch nicht alle Karten ausgespielt. Ist das wahr? Gorbatschow (via Dolmetscher): Wir hatten ein Gespräch an diesem Abend, in dieser Nacht, und er ist nicht da hingefahren in dieses Dickicht – das ist nämlich der Name bei Minsk – und am nächsten Morgen haben wir uns wieder getroffen mit Jelzin zusammen und Nazarbayev und haben dann zusammen gesprochen. Und ich habe die Tage genutzt, um über den obersten Sowjet und die obersten Sowjets diesen Prozess der Zerstörung der Union zu unterbinden. Und dann hat man mir gesagt, im Russischen Parlament, dass man dafür gestimmt hat nur mit einer Mehrheit im Russischen Parlament, mit sechs Stimmen. Wobei der Vorsitzende des Parlaments die russischen Kommunisten angesprochen hat, die russischen Kommunisten, damit sie das unterstützen. Und derjenige, der also die russische kommunistische Partei jetzt leitet, hat die Kommunisten aufgerufen, sich für, dafür einzusetzen, für dieses Abkommen. Das bedeutet, dass sie schreien: Die Sowjetunion wird zerstört, und ist zerstört worden! Und selbst handeln sie dann im obersten Sowjet gerade umgekehrt. Und dieses Abkommen ist nicht durchgekommen.
- Kluge
- Aber für eine historische Sekunde wäre etwas möglich gewesen, wäre es genauso gut möglich gewesen, dass es in die andere Richtung geht, dass eine Zentrale erhalten bleibt. Eine Sekunde. Gorbatschow (via Dolmetscher): Schwer zu sagen. Schwierige Frage und Prozess. Die Parteistrukturen, die im August, also die Putschisten im August unterstützt haben, auch die Parteistrukturen in Russland im obersten Sowjet haben dieses [UNVERSTÄNDLICH]-Abkommen unterstützt. Den Menschen, denen geht es jetzt so wie den Deutschen, als Deutschland noch geteilt war. 62% der Russen haben Verwandte in anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion, und sie können nicht ihre Verwandten besuchen, sie brauchen ein Visum. Zollkontrolle. Das ist nicht akzeptierbar.
- Heiner Müller
- Eine Frage: In den deutschen Zeitungen liest man seit Tagen über einen möglichen Putsch in Russland. Nun leben Zeitungen davon, dass sie solche Dinge aufbauen, solche Erwartungen aufbauen. Aber wenn so etwas jetzt denkbar wäre, welche Interessengruppen gibt es da, von welcher Richtung könnte so etwas kommen?
- Text
- Heiner Müller, Dramatiker Gorbatschow (via Dolmetscher): In der russischen Gesellschaft ist, also, kommt es nicht zu einer Konfrontation und zu einer Spaltung, der Bürgerkrieg wird nicht akzeptiert werden von der russischen Bevölkerung. Und in der Armee, und das ist ganz wichtig, ist man auch negativ eingestellt. Denn die Armee würde ja dann eingesetzt werden und würde dann auch gespalten werden. Russen gegen Russen, der Bruder gegen den Bruder. Das wäre ja ein zweiter Leidensweg, wie es Aleksey Tolstoy beschrieben hat. Das ist eine ganz starke Stimmung, also, dagegen. Es gibt natürlich Kräfte, die dazu aufrufen zu dieser Spaltung, wo aber diese Kräfte erfahren keine Unterstützung, die allerwenigste. Diese lauten, lärmenden Kommunisten, die zur Revanche aufrufen, verfügen vielleicht über 10 Prozent ja, der Menschen, die hinter ihnen stehen, also es wird nicht akzeptiert insgesamt gesehen.
- Text
- “Man spricht sehr oft von der russischen Seele - -”
- Kluge
- Man spricht sehr oft von der russischen Seele, ja, ducha. Wenn Sie einmal beschreiben, was ist russische Seele? Gorbatschow (via Dolmetscher): Ich weiß nicht, was das ist. Ich denke, Dostoyevsky hat doch Recht. Der von den Russen sprach, dass es vielleicht ein Herz, ein russisches gibt, das viel mehr mitfühlt mit anderen, mit anderen Menschen, mit anderen Nationen und Völkern, als andere es tun. Es sind Menschen, die sehr, sehr ihre Freiheit schätzen, und sie sind nicht so sehr geneigt, also das Materielle … aus dem Materiellen einen Fetisch zu machen. Die Kultur ist trotz allem, die Geschichte, die Lieder das Wichtigste, das was mit dem Menschen unmittelbar zusammenhängt, mit seinem Gedächtnis, und auch mit dem Traum eines Menschen. Das enthält der russische Charakter alles, aber dieser Charakter ist deformiert über die langen Jahre des Totalitarismus, und die Menschen sind außer Atem gekommen durch diese Freiheit, und sie wissen nicht, was sie tun sollen, erstens, und zweitens sind sie total durch die Alltagssorgen entkräftet. Mancher möchte die Geduld für sich nutzen, eine kolossale Geduld, ja, also zu widerstehen der ganzen Unbill und den Schwierigkeiten. Puschkin, zwei Menschen, und Bismarck, Kanzler Bismarck, haben immer gesagt und das erwähnt auf seine Art und seine Weise.
- Kluge
- Was haben sie gesagt? Gorbatschow (via Dolmetscher): Puschkin sagte: Das Schlimmste, das ist – also wie hieß das genau? – also dieses sinnlose, diese sinnlose und harte … nein, wenn man also bis an den Rand dieser Geduld getrieben wird, sagte der Puschkin, das wäre dann das Schlimmste.
- Kluge
- Das ist das Schlimmste. Dann kommt die Gegenbewegung. Gorbatschow (via Dolmetscher): Und dann geht’s nämlich mit dem Knüppel los. Aber Kanzler Bismarck hat das ja auch, diese Fähigkeit. Die Russen kann man lange, lange einspannen für irgend etwas, aber dann fahren sie ganz schnell. Das ist eben diese, dieses Beharrungsvermögen, dass man also aushält, und was den Russen auch irgendwie aufrecht erhält, der Widerstand leisten kann und alles ertragen kann. Aber wenn es dann… wenn man über eine Grenze schreitet, dann kommen ganz harte Eigenschaften, erbarmungslose Eigenschaften zum Zuge.
- Text
- Eine letzte Frage - -
- Müller
- Eine Frage noch, die auch eine Frage nach der russischen Seele ist. Es gibt eine These von dem britischen Historiker Toynbee über Lenin. Er sagt, es ging um die Industrialisierung Russlands, die Einleitung der Industrialisierung, und die einzige Möglichkeit Russland zu industrialisieren war mit einer westlichen Ideologie. Und das war die Funktion des Marxismus, Russland in den, eigentlich in den Kapitalismus zu treiben. Gorbatschow (via Dolmetscher): Und zwar ganz einfache Parolen. Das was beim frühen Marx auch zur Sprache kam, die Entfremdung zu überwinden des Menschen von der Macht, Entfremdung zu überwinden.
- Kluge
- Wie heißt das auf Russisch? Gorbatschow (via Dolmetscher): [отчужде́ние?]. Der Macht, dass diese Entfremdung berührt, des Eigentums und der Kultur. Also deshalb das Land den Bauern, die Betriebe den Arbeitern und die Macht den Sowjets. Das war es, und alles zur Verfügung gestellt …
- Text
- Am Tage der Premiere des Tristan in Bayreuth /
- Kluge
- Elektrifizierung, ja, eine kulturelle Leistung, ja?
- Text
- M.S. Gorbatschow ruft zur Rettung der Kultur in Rußland auf / Gorbatschow (via Dolmetscher): Ich möchte das jetzt nicht alles auf dem Scheiterhaufen verbrennen, was war, sondern man soll daraus seine Lehren ziehen.
- Text
- Danach befragte ihn PRIME TIME Spätausgabe: Über Räuber, über die russische Seele, Gorbatschow (via Dolmetscher): Etwas anderes ist es, wenn Menschen ganz bewusst Terror ausüben, Menschen vernichten …
- Text
- über Geduld und Härte russischer Menschen, was dachte Lenin unmittelbar vor seinem Tod?
- Kluge
- Aber Sie würden Lenin respektieren.
- Gorbatschow (via Dolmetscher)
- Ja, das was ganz am Schluss war, am Ende seines Lebens, das ist ein Schlüssel, um Lenin … für das Verständnis von Lenin.
- Text
- Gorbatschow in Bayreuth / Was weiß man von der russischen Seele? PRIME TIME. Spätausgabe Gorbatschow (via Dolmetscher): Er hat ja auch die neue ökonomische Politik ja eingeführt, Unternehmertum, Banken, Genossenschaften, etcetera.