Gorbatschow in Bayreuth
Gorbatschow in Bayreuth
Information
- Sammlung
- Heiner Müller
- Mit
- Müller's circle: Mikhail Gorbachev
- Dauer
- 00:16:17
- Datum
- 17 Okt. 1993
- Sendung
- Primetime
Beschreibung
In dieser „Prime Time“-Spätausgabe spricht Alexander Kluge mit dem russichen Politiker Michail Sergejewitsch Gorbatschow über seinen Besuch der Wagner-Festspiele in Bayreuth, die Bedeutung von „Öffentlichkeit“, Putschversuche und die „russische Seele“. Anwesend ist außerdem der Dramatiker Heiner Müller. Der Wortlaut Gorbatschows wird von einem Dolmetscher übersetzt. Ausgangspunkt ihres Gesprächs ist ein Besuch Gorbatschows bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth und sein Auftritt während eines öffentlichen Podiumsgesprächs am Tag der Premiere des „Tristan“.
„Öffentlichkeit” ist für Gorbatschow eine Tugend, etwas, das Russland als Nation auszeichne: „Das ist [...] etwas, was die russische Nation ausmacht, die Geistigkeit, das Mitleid, [...] das ist der Schlüssel dieser Gesellschaft, um Probleme zu lösen “. Seiner Meinung nach gibt es in der russischen Gesellschaft ein großes kulturelles Potential, was einzig durch die Probleme der Versorgung, die zur Zeit noch vorherrschen, zurückgehalten wird und nach und nach an die Oberfläche tritt, um sich dann explosionsartig auszubilden: „Das ist [...] ein Topf, ein russischer Topf, in dem diese Dinge dann gären.“
Auf Nachfrage Müllers spricht Gorbatschow über die in den europäischen Medien anhaltende Diskussion über einen Putsch in Russland. Obgleich es Kräfte und Stimmen gebe, die eine solche Spaltung motivierten, werde es, so Gorbatschow, im derzeitigen Russland nie zu dem Erfolg einer solchen Konfrontation kommen, denn ein Bürgerkrieg werde von der Bevölkerung nicht akzeptiert. Auch in der Armee - „und das ist ganz wichtig“ (Gorbatschow) - ist man einem solchen Umsturz negativ gesinnt. „Russen gegen Russen, der Bruder gegen den Bruder“ (Gorbatschow), einen „zweiten Leidensweg“ (Tolstoi), das wird es in Russland nicht geben.
Über die Existenz einer „russischen Seele“ ist sich Gorbatschow unsicher, allerdings gibt er Dostojewski recht, wenn dieser über das „russische Herz“ schreibt, „ [...] das viel mehr mitfühlt [...] mit anderen Menschen, mit anderen Nationen und Völkern, als andere es tun. “ (Gorbatschow). Er hebt besonders das Streben nach Freiheit und das Zurücktreten des Fetischs des Materiellen hervor; die Kultur - „ [...] die Geschichte, die Lieder [...]“ - sei das Wichtigste, das mit dem Menschen unmittelbar zusammenhänge. Dies sei der russische Charakter, der allerdings durch die langen Jahre des Totalitarismus deformiert erscheine. In den Vordergrund gerückt seien eher die Alltagssorgen und der schwierige Umgang mit der Freiheit.
Nach Müller besagt eine These Arnold J. Toynbees, dass eine westliche Ideologie die einzige Möglichkeit war, Russland zu industrialisieren - „das war die Funktion des Marxismus, Russland in den [...] Kapitalismus zu treiben“ (Müller). Beim frühen Marx seien dies, so Gorbatschow, vor allem einfache Parolen gewesen, die forderten, die Entfremdung zu überwinden.
Gorbatschow meint, er würde Lenin heute akzeptieren. Essentiell für ein richtiges Verständnis seiner Persönlichkeit sei „das was ganz am Schluss war“, am Ende seines Lebens, wie etwa die Einführung einer neuen ökonomischen Politik in Russland.