Härte war sein Gütezeichen
Transkript: Härte war sein Gütezeichen
- Text
- Ovids Metamorphosen handeln von Verwandlungen / Unerbittliche Leiden zwingen Götter und Menschen dazu, ihre Gestalt zu wechseln / Diese Texte, mit denen Ovid das bittere Schicksal der geschlagenen Trojaner beschreibt, nenn Heiner Müller dramatisch / Wie kommet es zu dem eigentümlichen Generationenvertrag, der 2000 Jahre alte Texte aktuell macht - - ?
- Text
- Härte war sein Gütezeichen! / Heiner Müller über Stoa, Anarchie, Drogenerfahrung und die vier Elemente
- Alexander Kluge
- Was nennt man stoisch? Also die Stoa heißt die Halle… Eine Wandelhalle, wo die Philosophen hin und her gehen. Das ist so die Vorstellung. Aber das ist ja nicht der Inhalt davon. Es ist eine Schule, die sich gegen die Politik, gegen den Staat absetzt, eine Kontinuität hält und irgendetwas aus Griechenland übernimmt, aber das Anarchische nicht, oder?
- Heiner Müller
- Es ist vielleicht eher eine Technik des Umgangs mit dem Anarchischen…
- Kluge
- Mit dem Staat, [unverständlich, 1:41] mit dem wechselnden Geschick…
- Müller
- Ja, das Anarchische ist eine Voraussetzung für die Stoa und die Stoa ist eine…
- Kluge
- Antwort darauf.
- Müller
- … Antwort darauf, ein Versuch damit umzugehen.
- Kluge
- Und da gibt es eine Grundeigenschaft: Ataraxia, die unerschütterliche Ruhe. Wie kann man sich so etwas vorstellen? Honecker im Zuchthaus Brandenburg, zimmert sich ab, befestigt sich, gegen jede Bestechung durch Gefängniswärter.
- Text
- Heiner Müller, Dramatiker
- Müller
- Ja, Honecker hatte es natürlich leichter, in Brandenburg und auch in Moabit.
- Kluge
- Er wurde stoisch gemacht.
- Müller
- Er wurde stoisch gemacht und es war für ihn leichter, weil er nicht sehr viel wusste. Er hatte einen Lebensrahmen und etwas, was er…
- Kluge
- …durchaus eine parteiliche Haltung, konnte von der auch nicht weg.
- Müller
- Etwas, was er für eine feste Überzeugung hielt und davon konnte er nicht weg und daran hat er alles gemessen. Obwohl es gab eine merkwürdige Äußerung von ihm, die ich ganz sympathisch fand eigentlich. Zum Beispiel: du hast ihn reden hören und reden sehen, es ist ihm ungeheuer schwer gefallen, öffentlich zu reden, das hatte zu tun offenbar… Wenn er eine halbe Stunde reden musste, hat er Blut gespuckt. Das war ein Ergebnis der Einzelhaft in Brandenburg, da gibt es offenbar dann eine Schwierigkeit mit der Stimme, mit der eigenen Stimme umzugehen, wenn man das lange ertragen muss. Und der Hermlin erzählte mir mal, er war bei Honecker aus irgendeinem Grund und Honecker sagte plötzlich: Weißt du Stephan, als wir als junge Kommunisten vor den Hotels standen und da waren die Pagen - also auch Proletariat-Jungs, mehr oder weniger, in den Uniformen, die die Türen aufmachen mussten und die Koffer schleppen und so - und da haben wir gedacht, bei uns wird das anders, wenn uns die Hotels gehören.
- Kluge
- Ach, so hat der da gestanden? Also wie Felix Krull bei Thomas Mann…
- Müller
- Ja, ja.
- Kluge
- …vor den Grand Hotels, den Luxus vor Augen.
- Müller
- Und wenn wir die Macht haben, dann wird das anders, dann werden unsere Proletarier da wohnen, in diesen Hotels. Und jetzt, was haben wir jetzt?
- Kluge
- Das ist kampfkräftig, aber nicht stoisch.
- Müller
- Ne, klar. Und jetzt, was haben wir jetzt und so… Und das war traurig dann, weil das war die Zeit, wo die Korruption anfing, also über die zweite Währung und Devisenhotels und so weiter… Wo eben die Proletarier draußen an der Scheibe standen, also die DDR-Bewohner und nicht reindurften. Also ich meine grundsätzlich bin ich da ja wirklich auf dem Standpunkt von Goethe. Du kennst diesen schönen Satz von Goethe: Gott schütze mich davor, mich selbst zu erkennen. Ich meine, du darfst das, aber ich kümmere mich darum eigentlich nicht. Und vielleicht ist das auch stoisch, kann sein. Das wäre meine Definition von Stoizismus.
- Kluge
- Wenn du mir mal sagst: Von was bist du Patriot? Ich gebe dir zwei Sachen vor: das eine ist Patriot, das klingt zwar nach Vater, hat aber mit Vater ja nicht viel zu tun, sondern etwas, worauf ich mich verlasse, was ich über die Generationen hinweg anerkannt wissen will und wofür ich notfalls auch mein Leben geben würde. Und das zweite ist Matremäeut (?) das hat mit Selbstaufopferung wenig zu tun, das ist Sokrates, die Hebamme. Ich kann auch als Hebamme oder Sanitäter tätig werden. Und beides kann man ja auch vereinigen, aber eine Frage: ein Mensch kann ein Patriot sein, das ist ein Status - wovon bist du das?
- Müller
- Letztlich geht die Frage doch darauf: wofür wäre ich bereit, mein Leben zu riskieren?
- Kluge
- Ja, genau.
- Müller
- Das ist die einzige Frage.
- Kluge
- Wie bei Kleist.
- Müller
- Und da fällt mir leider nichts weiter ein als meine Tochter. Das ist ganz dumm, aber es ist so.
- Kluge
- Aber in Konsequenz, daß die 2014 nicht untergeht, würdest du leicht aktiv.
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Bei allem Pessimismus, daß man nichts machen kann, würdest du aktiv werden. Und Hebammenkünstler, Matremäeut? Das kannst du ja bei deiner Tochter nicht mehr werden…
- Müller
- Das ist wahr, ja. Das kann ich aber für viele, glaube ich. Ich glaube schon, daß ich großen Wert darauf lege, daß ich… zum Beispiel im Theater, daß ich nicht alles alleine machen will. Und ich will auch nichts für mich behalten und ich will, daß andere weitermachen, daß andere das machen, was ich irgendwann nicht mehr machen kann… sie in Stand setzten, weiterzumachen…
- Kluge
- … sie zu beeinflussen, daß deren Interessen einfließen und so weiter… Findest du gar nichts Böses, wenn die dich zum Instrument machen, deine Zeit klauen, Lebenszeit klauen?
- Müller
- Das ist in Ordnung.
- Kluge
- …das ist in Ordnung, die wirken durch dich hindurch.
- Müller
- Klar.
- Kluge
- … du gibst dich auch als Membran hin.
- Müller
- Ja, das ist auch ganz wichtig, ja. Aber ich kann, in dem Sinne wie du das meinst, Patriot sein nur in ganz kleinen Zusammenhängen, nicht in einem Großen…
- Kluge
- ….homöopathischer Patriot…
- Müller
- Vielleicht ja…
- Kluge
- Also in einer Zelle, extreme Kantonalverfassung, Patriot eines Satzes.
- Kluge
- Es gibt viele Offiziere in der nationalen Volksarmee, die jetzt entlassen sind. Die kriegen Nierenprobleme, die kriegen Bluthochdruck, sie kriegen Herzinsuffizienz, das heißt sie werden physisch krank wegen Verlust eines, wenn du so willst - Vaterlandes, einer vaterländischen Aufgabe. Wie weit kannst du sagen, daß man Tragödien des Ostens hat, die sich nur noch physisch abspielen? Und wie kann man so was ausdrücken? Denn wenn die Tragik nicht mehr in der Öffentlichkeit ausgedrückt werden kann, wird der Körper sich ja ausdrücken…
- Müller
- Sicher ein Problem, ja…
- Kluge
- Und dann kann das Theater sie nicht retten und dann kann im Grunde die Klinik sie auch nicht retten, denn die kann nicht, was das Theater kann.
- Müller
- Aber interessant ist ja der Zusammenhang zwischen Körper und Ideen in dem, was du beschreibst. Solange die eine Idee hatten von etwas oder eine Illusion, haben sie ihre Körper überhaupt nicht bemerkt. Jetzt sind sie allein mit ihren Körpern und können denen nichts mehr sagen.
- Kluge
- Zwei übrig gebliebene Körper waren die von den aus dem Gefängnis entkommenen Straftätern, die ursprünglich mal aus dem Einsatzkommando der DDR stammten, die Bundesrepublik durcheilt haben und eigentlich erst im Moment der Erschöpfung in einem Wald eingefangen werden konnten. Das war der Rest von Körper.
- Müller
- Da gibt es bei Ovid auch einen Aspekt, glaube ich, um darauf zurückzukommen: diese Verwandlungen, also Verwandlungen in…
- Kluge
- …andere Körper, in keine Körper, in Bäume, in Steine…
- Müller
- …andere Körper, in keine Körper und so. Das ist auch ein Versuch, dieses Problem zu lösen.
- Kluge
- Es gibt also nicht den Tod und die Geburt nur, sondern es gibt in dem Sinne die Verwandlung, daß ich krank werde oder mich verändere, daß ich entweder befestige, in stoischer Art, den unmöglichen Ort - das wäre die Philosophie des Ostens, also unseres Ostens - in der Erwartung offen, einen Ort zu finden oder daß ich einen Ort im Leben habe.
- Müller
- Das hat aber auch etwas damit zu tun, daß diese doch relativ einfachen Strukturen im Osten, im Verhältnis zu den komplexeren in den westlichen Industrieländern. Sie führen oft… oder produzieren auch ein anderes Verhältnis zum Körper. Eigentlich ein wahrscheinlich mehr unmittelbares, so daß der Körper unmittelbar reagiert, schneller reagiert auf Krisen im Umfeld.
- Kluge
- Das heißt also, wir haben hier keine richtige Vollindustrie, sondern eine Rüstungsindustrie, eine angestrengte Industrie, eine probierte Industrie.
- Müller
- Ja. Mit ist das mal aufgefallen - ganz dumme Beobachtung vielleicht, das war vor acht oder neun Jahren. Ich war ziemlich bekifft, ich hatte, glaube ich, Haschisch geraucht oder irgendwas in Westberlin und fuhr zurück, sehr spät, mit der S-Bahn, dann mit der U-Bahn nach “Friedrichsfelde”. Da waren… Ich erinnere mich an den Weg zum Bahnhof Zoo zum Beispiel, wo ich plötzlich das Gefühl hatte, die Leute laufen auf Schienen…
- Kluge
- Nicht du fährst, sondern die Leute laufen…
- Müller
- Die Leute laufen auf Schienen an mir vorbei. Jeder hat eine Schiene und es gibt dazwischen keine Verbindung. Und dann in der S-Bahn war auch das Gefühl, jeder sitzt auf seiner Schiene oder auf seinem Platz und es gibt keine Verbindung. Dann wusste ich plötzlich nicht mehr: fahre ich jetzt in Richtung Westen oder in Richtung Osten? Das war sehr verwirrend. Ich war aber schon in der U-Bahn, glaube ich, über Alexanderplatz nach “Friedrichsfelde” und plötzlich war ein ganz anderes Gefühl, das war was Vegetatives, die Verbindung zwischen den Leuten: so eine etwas bedrohliche Wärme.
- Kluge
- Sie gingen ineinander über.
- Müller
- Ja. Es war warm, aber bedrohlich, weil es gab Kontakte, so unmerkbar, also die konnte man nicht festmachen…
- Kluge
- Die Membranen, mehr im Kopf.
- Müller
- Aber es gab so was. Das war sehr seltsam. Ich glaube, es hat damit zu tun: es war ein anderes Verhältnis auch zwischen den Körpern, eben wegen…
- Kluge
- Was hast du für Drogen genommen in deinem Leben?
- Müller
- Du, nicht sehr viel. Es war Marihuana, Haschisch und LSD habe ich mal genommen. Manchmal Kokain, aber das ist auch sehr lange her. Interessant war LSD, das fand ich schon ganz gut, aber das habe ich nur einmal genommen und das war in Bulgarien, auf dem Land, also in einer Landschaft und wir wohnten in einem Haus, was wir allein bewohnten. Es stand so irgendwo in der Landschaft und … das Zeug genommen, dann sind wir rausgegangen - da waren Berge und Hügel und auch ein bisschen Wald. Das erste Gefühl war eine veränderte Körperwahrnehmung, also Wärme und ich hatte plötzlich ein Fell, keine Haut mehr, sondern ein Gefühl von Fell und ich hatte kein Fleisch mehr, nur noch Muskeln und der Gang veränderte sich und die Wahrnehmung war so [Müller macht Handzeichen zur Verdeutlichung], also eine tierische Wahrnehmung, nicht mehr so [Müller macht Handzeichen zur Verdeutlichung], also 180 Grad…
- Kluge
- Kann es sein, daß du dich rückverwandelt hast?
- Müller
- Wahrscheinlich. Und ich hatte das Gefühl, ich bin irgendwas wie eine Raubkatze oder so vom Gang her. Nun war das Problem bei jedem größeren Abhang natürlich immer die Versuchung, zu fliegen, aber das hatte ich noch unter Kontrolle. Aber das Gefühl, daß man das kann. Und dann gab es so einen Moment, da war so ein kleiner Wasserfall und da haben wir uns drunter gestellt und plötzlich, ist ja eine blöde Assoziation, daß… - es war mit meiner bulgarischen Frau dann - daß wir zwei römische Legionäre sind, die durch diese Landschaft marschieren, schon mal da gewesen sind und so. Ganz doof, aber das ist so Bildungsgut, was dann…
- Kluge
- Das ist so etwas wie eine Zeitreise.
- Müller
- Und dann unter diesem Wasserfall…
- Kluge
- Sie hat das bestätigt…
- Müller
- Ja, ja.
- Kluge
- …das heißt das war nicht nur deine Idee, sondern…
- Müller
- Ne, ne, wir haben darüber gesprochen, ja. Und unter dem Wasserfall hatte sie plötzlich Schuppen. Und das wurde ein Tierkörper. Das nächste war: Ich war in dem Haus, sie schlief dann, glaube ich, und ich - das habe ich aufgeschrieben, aber das kennst du wahrscheinlich - diese “Tragische Sommer” da… Ist egal, jedenfalls in dem Haus war unten eine Waschküche, da war ein kleines Radio und ich habe das Radio angemacht und da war arabische Musik und eine Katze, die gehörte zum Haus. Und dann sah ich zu der arabischen Musik oben eine ziemlich große Heuschrecke am Türrahmen sitzen und ich habe die der Katze gezeigt und ich wusste, was ich mache in dem Moment. Irgendwann hatte die Katze natürlich die Heuschrecke, obwohl sie gar nicht da hoch konnte, mit ungeheurer Geduld und plötzlich hatte sie sie unten. Das habe ich nicht verfolgt, wie sie das gemacht hat. Und dann hat die Katze diese Heuschrecke langsam getötet, so die Kellertreppe hoch, durch den Garten und ähnlich… Ich hab das völlig fasziniert beobachtet. Immer zu der arabischen Musik, die sehr laut war und das war mir selbst ein bisschen umheimlich, also mein Genuss daran, das zu beobachten - die biss immer man ein Stück ab und ließ sie wieder laufen, immer ein bisschen zugeschlagen und so…
- Kluge
- Ist dieser Zustand etwas Wirkliches oder Unwirkliches?
- Müller
- Der war ziemlich wirklich. Ich meine, der Effekt ist ja einfach die Zeitdehnung, die Dehnung während der Wahrnehmung. Und dazwischen sah ich auch immer noch so einen Steinkohlenwald mit irgendwelchen Tierköpfen drüber und so… Und so im Dösen - und das werde ich nie vergessen, aber das habe ich aber auch schon mal aufgeschrieben, ist egal - so ein Bild von einer Steilwand, eine ganz steile Wand, eine ganz steile Felswand mit Spuren von Menschen, die da drangehangen haben oder da geklettert sind, also Hände, Schenkelabdrücke und so was. Das war das merkwürdigste Bild eigentlich.
- Kluge
- Was bedeutet Regen für dich, in deinem Leben? Kannst du dich an irgendeine Situation [erinnern]?
- Text
- Heiner Müller, Dramatiker
- Müller
- Ja, eine ganz frische sogar, das war merkwürdig. Ich stand in der Tür der Kneipe da in unserem Haus unten und da war dieser Platzregen, vorgestern, glaube ich, war das. Ungeheurer Regenguss und mir fiel plötzlich ein die - es war sehr schwül gewesen vorher - und mir fiel plötzlich ein die Szene aus dem Sartre-Stück “Huis Clos”, “Geschlossene Gesellschaft”, wo die Resistance-Leute da einen Jungen umbringen, damit er sie nicht verrät oder es ist nach einer Folterszene, ich bin nicht mehr sicher, was es war. Jedenfalls und dann der Regen danach und der Geruch des Regens, das fiel mir ein und das Gespenstische war: es stellte sich plötzlich neben mich ein Mann, den ich ganz gut kenne seit einiger Zeit, der da in der Gegend wohnt - ein ehemaliger Physiker, der in Göttingen gearbeitet hat und ein großer Computerspezialist - der war befreundet mit dem Raspe und als er hörte von dem Tod von Raspe hat er die ganze Computeranlage zerstört in seinem Institut, war dann zwei Jahre im Gefängnis… - und der stand plötzlich neben mir und erzählte mir die Szene aus dem Sartre-Stück, bei dem Regen, den ich hörte und sah. Das fand ich ganz merkwürdig!
- Kluge
- Wind. In deinem Leben: wo hast du Wind empfunden?
- Müller
- Am stärksten habe ich natürlich Wind empfunden im Grand Canyon. Das war überhaupt, diese USA-Reise, das war ‘75, ‘76, die erste, da war ich ein Dreivierteljahr in den USA…
- Kluge
- Da kommst du als DDR-Dichter mit Sondererlaubnis nach USA. Weil schon Majakowski im Grunde da studiert hat und gute Gedichte heimgebracht hat, wurdest du…
- Müller
- Und da stand ich so nachts über dem Grand Canyon und den Wind werde ich nicht vergessen, also das ist da ganz anders natürlich. Und da habe ich überhaupt zum ersten Mal bei dieser Reise - ich meine, wir waren überall: von Mexiko bis zur kanadischen Grenze und so - und das war eigentlich mein erster Eindruck von Landschaft und von der Wichtigkeit von Landschaft auch. Einfach, weil sie nicht wirklich domestizierbar ist da, die ist nicht zivilisierter, also da bleiben immer Reste.
- Kluge
- Also mit der sächsischen Schweiz nicht zu vergleichen…
- Müller
- Es ist nicht zu vergleichen, es ist eine Frage der Dimension, ja.
- Kluge
- Wie kommt das eigentlich? Also Asien ist doch groß genug?
- Müller
- Da war ich ja nie, in Asien. In Japan war ich. Japan ist… Da gibt es keine Landschaft mehr, das ist eine Stadt. Das ist auch imponierend, aber beim zweiten Mal eigentlich schon erschreckend. Ich war zweimal da. Beim ersten Mal fand ich es wirklich imponierend. New York ist ein Dorf gegen Tokyo, ist so der erste Eindruck, aber beim zweiten Mal ist es unheimlich, da wird es schon termitenhaft.
- Kluge
- Da konntest du den Eindruck Wind nicht identifizieren?
- Müller
- In Japan nicht, ne. Da gibt es zu viele Verkehrsmittel und die töten den Wind. Du bist immer irgendwie in einem Gefäß, was irgendwohin fährt.
- Kluge
- Feuer. Wann hast du Feuer sozusagen unmittelbar empfunden?
- Müller
- Ich kann… Ich weiß nicht wie alt ich war, sechs oder sieben, vielleicht in meinem Geburtsort… Ich kam vom Freibad, von der Badeanstalt und da brach ein Gewitter aus und diese Gewitter im Gebirge sind ja viel massiver als woanders und das war so ein Reihendorf mit den Bauernhöfen auf den Seiten, auf den Hügeln und in der Mitte das Dorf. Und ich lief da oben durch den Regen und es war ein Platzregen und Gewitter… Und hundert oder zweihundert Meter von mir entfernt schlug ein Blitz ein, in eine Scheune. Das war üblich, das kam öfter vor. Das war mein erster Eindruck von Feuer.
- Kluge
- Und die brannte?
- Müller
- Die brannte, ja. Und das war toll.
- Kluge
- Und wie alt bist du da etwa?
- Müller
- Da war ich sechs oder sieben. Ich glaube sieben, sieben Jahre.
- Kluge
- Du läufst da so entlang, wie so ein Hund, sagen wir mal, also im Dauerlauf so ein bisschen, willst nach Hause. Und jetzt starrst du auf dieses Feuer.
- Kluge
- Wenn du mal an den Sternenhimmel denkst. Wann hast du in deinem Leben… hast du mit dem als Kind oder Erwachsener Berührung gehabt? Man guckt ja schon hinein und wenn wir Hirten wären, 6000 Jahre zuvor, würde das für uns ein Lebenselement sein. In einer Großstadt siehst du den Himmel gar nicht.
- Müller
- Ja, auf dem Dorf sieht man ihn schon. Und das habe ich eigentlich sehr früh gesehen. Ich erinnere mich an meine erste Vorstellung von Welt war, daß da - ganz primitiv - ein Zaun ist und dahinter ist es zu Ende. So war meine erste Vorstellung.
- Kluge
- Kann man durchkriechen?
- Müller
- Ne, man konnte nur drüber klettern.
- Kluge
- Drüber klettern…
- Müller
- Aber man durfte nicht drüber, weil danach war nichts mehr. Das war die erste Vorstellung und den Sternenhimmel sah man immer. Es hab so Plumpsklos hinterm Haus da und immer wenn man im Dunkeln aufs Klo ging, war man dem Sternenhimmel ausgeliefert.
- Text
- Härte war sein Gütezeichen! / Heiner Müller über Stoa, Anarchie, Drogenerfahrung und die vier Elemente