Lesebuch für Städtebewohner Ost
Transkript: Lesebuch für Städtebewohner Ost
- Song
- Halbstark, oh Baby Baby halbstark, oh Baby Baby halbstark, halbstark nennt man sie, yeah, yeah, yeah, yeah! Halbstark, oh Baby Baby halbstark,
- Junge
- Mann, wie oft [unverständlich] denn noch [unverständlich]
- Text
- Zwischen der mitteldeutschen Großstadt Halle a.d. Saale
- Frau
- Kommst du bitte her hier?
- Mann
- Ne, seh ich überhaupt nicht ein.
- Text
- und dem Chemiekomplex LEUNA liegt die Plattenbausiedlung HALLE-NEUSTADT/
- Frau
- Ja ja, kein Problem. Thomas Heise, Film- und Theaterregisseur aus dem Umkreis von Heiner Müller, hat die Menschen von NEUSTADT in einem eindrucksstarken Film dokumentiert - -
- Mann
- Der Traum einer Generation.
- Text
- LESEBUCH FÜR STÄDTEBEWOHNER OST/ Thomas Heises eindrucksstarker Film NEUSTADT (Stau – der Stand der Dinge)
- Voice-over
- Es war einmal ein Volk, das lebte in einem großen Land. Viele Große und Edle hatten es im Laufe der Zeit regiert. Dieses Land war einmal groß, und dann auch wieder klein, wie das nach den Kriegen so üblich war. In diesem Volke lebten unter seinen Menschen viele Künstler, Sänger, Dichter, Baumeister, aber auch Ingenieure und viele frohe Handwerker. Die Menschen alle waren sehr fleißig, denn sie hatten immer Freude an ihrer Arbeit. Irgendwann, wenn die Stunde gekommen ist, wird dieses Volk einmal wieder seine neu geschmiedeten und unbesiegbaren Schwerter erheben. Und wenn sich dann der Strahl der Sonne auf den Klingen bricht und zurückfällt auf die Erde, wird der Feind unter diesem Strahl verglühen.
- Alexander Kluge
- Und das ist Halle-Neustadt. Was bedeutet Halle-Neustadt? Halle ist ’ne Stadt, nicht? In Sachsen-Anhalt, ja? Die zweite Hauptstadt davon, ja? Und Neustadt?
- Thomas Heise
- Neustadt ist ein Anhängsel von Halle, ganz einfach. Und sagen wir mal … Neustadt ist ja gebaut worden als Wohnstadt für die Arbeiter von Leuna. Und Leuna hat inzwischen erheblich weniger Arbeitskräfte, und deswegen wohnen dort sehr viele Leute, die keine Arbeit haben. Und um die Leute geht’s. Also nicht so sehr um die Leute …
- Kluge
- Also Leuna ist ja mal das Glanzstück der chemischen Industrie gewesen, nicht, also richtig eine Perle, ja, nicht? War’s auch noch in der DDR, nicht, ja? Ein Großkombinat.
- Heise
- Ja, da sind junge Leute hingezogen, weil die dort mehr Geld verdient haben, ganz praktisch.
- Kluge
- Und dann wird das übernommen, ja? Mit oder ohne Bestechung. Ja.
- Heise
- Ja.
- Kluge
- Und wird jetzt rationalisiert, und eigentlich gelöscht und neu gebaut, ist das richtig?
- Heise
- Na, Leuna wird umgebaut im Moment. Also es gibt ganz viel leere Flächen, wenn man jetzt sich Leuna ankuckt, das kommt im Film als Fabrik sag ich jetzt mal nicht vor. Aber es ist so, dass eben, wenn man an Leuna vorbeifährt oder so, man sehen kann, wie sich das verändert, ne. Wie also aus diesen Ruinen, die es vorher waren, die produzierenden Ruinen, wie daraus also ein großer Lampenladen wird, wenn man sichs nachts ankuckt, dann ist das ungeheuer hell und licht und schön. So … aber es ist eben mit sehr viel weniger Leuten. Und die, die überflüssig sind, die wohnen in dieser Stadt.
- Kluge
- Die werden entsorgt… oder nicht entsorgt… aufbewahrt. In Warteschleife.
- Heise
- Na, warten tun die Leute sowieso. Also das ist mir aufgefallen, dass es speziell in Halle so war, dass die Leute immer auf etwas warten, das ihnen sagt, was sie tun sollen. Weil sie selber dazu nicht in der Lage sind, was zu tun. Und sie versuchen sich sozusagen an das neue Leben, was immer das sein soll, anzupassen, und damit klar zu kommen, dass das funktioniert nicht.
- Kluge
- Und das beschreiben Sie. Und warum sagten Sie Liebesgeschichten vorhin?
- Heise
- Na, das hat einfach damit zu tun, dass die Leute, die wir dort getroffen haben, bei allem, womit sie sich beschäftigen, auch in der vielen freien Zeit, die sie haben, das einfach ’ne ganz große Rolle spielt. Natürlich sind’s immer… wenn die Arbeit wegfällt, wenn Schulden entstehen, wenn sie Probleme haben, ökonomisch klar zu kommen, dann spielen die anderen Dinge immer ’ne größere Rolle. Sie brauchen irgendjemanden.
- Kluge
- Nimmt die Liebe so zu?
- Heise
- Und ich hab ganz viele einsame Menschen dort getroffen, also auf der Suche danach, ne.
- Kluge
- Und Sie sagen hier, an einer Stelle, dass die Stadt bedeutet Erschöpfung, und die Metaphernwelt, die dazu passt, die steht in Brechts “Lesebuch für Städtebewohner”. Was ist das “Lesebuch für Städtebewohner” von Brecht?
- Heise
- Das ist ein Zyklus von sechs, sieben Gedichten, was den Weg des Menschen nach unten beschreibt. Was bei Brecht ja ganz häufig vorkommt, das Trichterbild, ne, das was sozusagen oben offen ist und dann geht es runter.
- Kluge
- So geht ’ne Gesellschaft, nicht? Und man rutscht aber nach unten ab.
- Heise
- Ja. Und am Ende ist man unter der Erde, klar. Also dein Weg führt nach unten, ist sozusagen immer der Refrain in diesem Text.
- Kluge
- Was Brecht hier dichtet, bezieht sich ja eigentlich auf die 20er Jahre, nicht? Also das ist seine Grunderfahrung, ja? Und Sie sagen hier sinngemäß, dass Halle-Neustadt, ja, ’ne Erfahrung der 20er Jahre, der Depression enthält.
- Heise
- Ich würde mich drüber streiten, ob’s nur Halle-Neustadt ist, also ich sehs glaub ich allgemeiner, aber vom Grunde ist es natürlich so. Dass man auf einmal, wenn man nach Halle-Neustadt fährt, in eine Industriestadt der 60er Jahre, mal Sachen wiederfindet, die man in den 20ern sehen konnte und die Brecht dort beschrieben hat. Was natürlich damit zu tun hat, dass …
- Kluge
- Als inhaltlichen Zusammenhang haben wir also die Zeit nach Versailles, ja, nicht? Die Depressionszeit nach dem Schwarzen Freitag, und gleichzeitig den Boom. Die Zeit vor ‘29 und die Zeit nach ‘29, haben wir alle gleichzeitig. Und das ist das, was Sie …
- Heise
- Ich glaube, dass das was ist, was wir dort gesehen haben und was wir auch beschreiben.
- Mann 1
- Aber mit 22 Jahren, was hab ich denn da zu suchen?
- Mann 2
- Ja. Denen ist doch das egal. Die Zahl, die hinten rauskommt, die ist wichtig. Hier haben Beamte gelebt, Eisenbahner und und und, alles so mittlere Schicht. Und jetzt verkommt das alles. Asylanten treiben sich hier rum, irgendwelche Leute … hier ist bestimmt keiner, der irgendwie, wie sagt man, ausländerfeindlich ist, aber wenn dann auf ein Mal geballt zu viel, und wenn man selber Sorgen um die Existenz hat, dann kann ich mir vorstellen, dass bei manchen die Existenznot in Existenzangst umschlägt, das ist nun mal so. Da sind wir hier nicht die ersten, die da sagen würden …
- Kluge
- Sie haben einmal einen Film gemacht, den ich sehr bewundert habe. Der ging über ein Polizeirevier in Berlin-Ost, ja, als das noch Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik war, ja?
- Heise
- Kluge
- Und das ist ein Polizeirevier,
- Text
- Ein Film von Thomas Heise über ein Polizeirevier (1985)
- Kluge
- das noch richtig sozusagen auf paternalistische Weise, ja, wie so ’n Landgut, seinen Bezirk da verwaltet. Sie brauchen ja eigentlich ’ne ungeheure Geduld, die nicht mehr sehr häufig ist unter den Intellektuellen. Würden Sie sich eigentlich selber als Intellektuellen bezeichnen, oder wie würden Sie Ihren Beruf bezeichnen?
- Heise
- Natürlich bin ich ein kleinbürgerlicher Intellektueller, klar.
- Kluge
- So ist die Einteilung. Und woher kommt diese quasi landwirtschaftliche, bäuerliche Geduld, mit der Sie solche Leute, also eigentlich von Ihnen aus gesehen Fremde, beobachten. Das ist ja ’ne Aufmerksamkeit, die man normalerweise nicht hat, sie ist völlig gegen jede Börse.
- Heise
- Weiß ich nicht, also, das hat mit meinem Interesse ganz einfach zu tun. Und das braucht Zeit. Also, wenn ich von jemandem etwas erfahren will, muss ich mir die Zeit nehmen, mich hinzustellen oder hinzusetzen oder irgendwas, und so lange zu warten, bis ich wahrgenommen werde und jemand bereit ist, mir was zu erzählen. Also ich kann nicht hingehen und kann sagen: Du, mach mal, mach mal, mach mal… sondern ich muss warten. Also warte ich.
- Kluge
- Das ist ja, was ein Regisseur normalerweise dem Typ nach tut, ne? Er stellt was auf, er präsentiert sich übrigens …
- Heise
- Das versuch ich eher nicht zu tun.
- Kluge
- Also kein besonderes Ich im Vordergrund.
- Heise
- Ne, ich glaub, dass es wichtig ist, im Dokumentarfilm zu lernen, von sich abzusehen. Im Theater übrigens auch oft.
- Kluge
- Ich bin, weil ich davon absehen kann, dass ich Ich bin. Woher kommt so etwas? Wo kommen Ihre Vorfahren her?
- Heise
- Fragen Sie jetzt nach meinen Eltern, Großeltern?
- Kluge
- Ja, Eltern, Großeltern, Ahnen.
- Heise
- Meine Urgroßeltern kamen von der einen Linie aus Mecklenburg, waren also arme Landarbeiter. Und der andere Teil, also der jüdische Teil der Familie, der kam aus jetzt den lettischen Staaten. Und die sind nach Wien gegangen, und der andere Teil ist nach Berlin gegangen, und dann gabs dann später irgendwann mal ’ne Verbindung, so dass also die Wiener Jüdin den Kommunisten aus Berlin geheiratet hat, und das waren also meine Großeltern, und so …
- Kluge
- Das Ich steckt sich ganz in eine Aufgabe, in eine Geduld, ja? Daran kann man ja einen Heise-Film, ja, erkennen, ja, dass er geduldig von Anfang bis zum Ende beobachtet, nicht unparteilich, das kann man nicht sagen, nicht?
- Heise
- Ne. Ne, es hat was zu tun mit Notieren, ne. Also es hat was zu tun mit so … Früher gabs so was wie Reiseliteratur, was dann also irgendwann mal nicht mehr so existierte, was ja auch mit den Medien da zu tun hatte, also Seume oder solche Leute, und die haben einfach beschrieben, was sie gesehen haben. Und ich glaub, es ist notwendig… also für mich, einfach… also, hat ja auch was Aufklärerisches, also … aber dass man einfach Dinge beschreibt und einfach benennt und das anderen Leuten zugänglich macht, also dass man sozusagen selber als ’ne Art Übersetzer funktioniert, also das geht durch den Kopf durch und kommt dann vorne wieder raus, und man versucht es dicht zu kriegen, ohne da groß …
- Kluge
- Also der Bote, also der die Botschaften des Kaisers an den letzten Menschen bringt und immer rennt, rennt, rennt …
- Heise
- Gut.
- Kluge
- … also der braucht ja auch Geduld und Kontinuität.
- Heise
- Naja, es hat einfach mit diesem … den allerersten Film, den ich gemacht habe, ne, der ist ja noch deutlich vor dem Polizei-Film gewesen, das war der einzige, den ich an der Filmhochschule in Babelsberg seiner Zeit vollendet habe, der hieß “Wozu denn über diese Leute einen Film?”. Und das war die Frage des Dozenten, als ich diesen Film machen wollte, und dann habe ich das zum Titel gemacht, und letzen Endes ist das wenn man so will immer so weiter gegangen. Wenn man sich immer fragt: Warum immer diese komischen Leute, warum mit dieser Geduld, warum auch mit diesen… ob das jetzt Neo-Nazis sind oder was anderes, also warum macht man das, ne? Das geht schon darum, denen ne Sprache zu geben.
- Text
- Ausschnitt aus dem Film NEUSTADT (Stau – der Stand der Dinge) von Thomas Heise
- Junger Mann 1
- [Unverständlich]
- Junger Mann 2
- Da regen sich die Bullen auf.
- Mädchen 1
- In der Zeitung steht, die Deutschen greifen die Neger an. Das ist gar nicht so. Die Neger, die greifen uns an, die fangen Schießereien an und was weiß ich nicht alles.
- Junger Mann 2
- Und dann regen sich die Bullen auf.
- Mädchen 1
- Und im Endeffekt sind wir… wir machen gar nichts. Wir stehen hier und unterhalten uns und was weiß ich nicht und sonst alles. Und wir sinds im Endeffekt wieder, greifen die Ausländer an. Und – eh, ne, das kann nicht sein. Wie letztens am Freitag. Die Neger haben uns angegriffen.
- Mädchen 2
- Na, dich nicht direkt.
- Mädchen 1
- Naja, mich nicht direkt, ich war auch nicht dabei, aber wir habens erfahren.
- Junger Mann 2
- Aber ich war dabei! Ich!
- Mädchen 1
- Wir warens wieder! Die Ausländer, die sind doch immer die, die als Schutzengel wahrgenommen werden. Na, ist doch so!
- Junger Mann
- Anga stimmt an!
- Gesang Gruppe
- Ein junges Volk steht auf, zum Sturm bereit! Reißt die Fahnen höher, Kameraden! Wir fühlen nahen unsere Zeit, die Zeit der jungen Soldaten! Vor uns marschieren mit sturmzerfetzten Fahnen, die toten Helden der jungen Nation und über uns die Heldenahnen, Deutschland, Vaterland, wir kommen schon!
- Kluge
- Wenn Sie einem Marsmenschen, oder eher einem Menschen auf einem ganz anderen Kontinent erklären müssten, was Halle ist, wie würden Sie diese Stadt beschreiben?
- Heise
- Halle … um da jetzt mal was Großes zu haben, wo der Abstand ganz groß ist, dass das, was man in Halle sehen kann, in Berlin durch Bewegung, oder durch Zeug einfach zugeschmiert ist, man kann die selben Dinge in Berlin finden, das ist überhaupt kein Problem, aber in solchen Städten wie Halle, insbesondere Halle-Neustadt, kommt alles an die Oberfläche, das heißt man muss nicht den ganzen Müll erst wegschlagen oder wegräumen, sondern das ist von vornherein schon da, und das macht es spannend.
- Kluge
- Aber beschreiben Sie mir mal Halle, ja, als einem, der nicht weiß, was das ist.
- Heise
- Na, Halle hat ’n riesen Problem. Halle ist an der Grenze des Landes Sachsen-Anhalt zu Sachsen. 20, 25 Kilometer weg ist Leipzig, ne große prosperierende Stadt, ne richtige Stadt. Und Halle hat immer darunter gelitten, dass es sozusagen nur die zweite Linie war. Wäre Halle jetzt die Hauptstadt von Sachsen-Anhalt, wäre das möglicherweise einfacher, also für die Stadt. Aber dadurch haben die Leute immer das Gefühl gehabt, oder sie haben’s, oder man merkt’s sehr oft, dass sie überflüssig sind. Und sie sind es real auch. Also niemand braucht diese Menschen in Halle. Man könnte die ganze Stadt verschwinden lassen von einem Tag auf den anderen und es würde für die deutsche Industrie oder für die Politik oder sonst was gar nichts bedeuten.
- Kluge
- Und dabei hatten sie früher durch Leuna, ja, einen metropolitanen industriellen Standort, ja. Als Universität Halle waren sie Glanzpunkt des preußischen Staates.
- Heise
- Ist lange her.
- Kluge
- Als napoleonische Gründung, zu Westfalen zu dem Zeitpunkt glaub ich gehört, wären sie neben Erfurt, ja, die Stoßgruppe gewesen Frankreichs, um ein vereintes Europa zu entwickeln.
- Heise
- Na das Problem ist, wenn man in Halle ist, und wenn man sich mit den Leuten unterhält, oder wenn man Leute trifft, die auch in Halle waren, dann winken die Leute alle ab und sagen: Da wird man ja depressiv. Das hat was zu tun mit diesem unklaren Punkt, das ist wie ’ne Blase innerhalb von dem Land, das hat mit Deutschland relativ wenig zu tun, das ist wie was Eigenes, wie ’ne Insel – und das funktioniert wie ’ne Insel innerhalb dieses riesigen Industrielandes Deutschlands, ne. Und das funktioniert anders.
- Kluge
- Heißt nach Salzbergwerken, die’s dort gar nicht mehr gibt. In einem Zeitalter, in dem man Salz nicht braucht.
- Heise
- Ist auch überflüssig, ja.
- Kluge
- Die Verkehrswege gingen auch ohne Halle.
- Heise
- Geht alles dran vorbei, braucht man nicht. Aber es gibt die Leute, die sind halt noch da.
- Kluge
- Alle Überflüssigen der Welt, vereinigt Euch– hat das irgendeine politische Kraft?
- Heise
- Das könnte eine haben, ich weiß nicht, ob ich die dann haben will, diese politische Kraft, die dann entsteht, weil das wandert natürlich sofort nach rechts. Das ist das, was man da sehen kann, ne, wenn Armut zusammen kommt, also jetzt im weitesten Sinne, also nicht nur im ökonomischen, sondern auch vom Kopf her, dann kann man sehen, wie das sich in so ’ne Rechtsbewegung hin entwickelt.
- Kluge
- Marschkolonne nach rechts.
- Heise
- Na klar. Und das war … also ich war vor sieben Jahren schon mal in Halle und Halle-Neustadt und hab dort gedreht, da war das ein Problem einer radikalen Randgruppe, sag ich mal– also was unter Skinheads und etcetera liefen – und inzwischen ist diese Art von Argumentation und auch diese Art zu denken weit in die Mitte gewandert und findet dort mit großer Selbstverständlichkeit statt. Das ist das was daraus entsteht. Und das kann man da ganz genau sehen. Man muss in diese Gesichter kucken, die man sieht, wenn man mit der Straßenbahn fährt, diese längste Straßenbahnstrecke Europas …
- Kluge
- Die geht durch Halle?
- Heise
- Die fährt in Halle, ja. Die fährt von Halle raus nach Bad Dürrenberg. Kann man über ’ne Stunde mit der Straßenbahn fahren. Wenn man dort den Leuten ins Gesicht kuckt, kann man diese gesamte Problematik auch in einem stummen Gesicht sehen, wenn man also an Leuna vorbeifährt.
- Kluge
- Einen Flughafen hat die Stadt?
- Heise
- Na, das ist dieser Flughafen Leipzig, das gehört da mit dazu, die haben keinen eigenen.
- Kluge
- Was hat die Stadt an Eigenheit, außer das Händel dort geboren ist?
- Heise
- Naja, es ist nicht so, dass es gar nichts gibt. Also es gibt natürlich Giebichenstein, es gibt auch ein Theater, es gibt alles Mögliche… aber das sind wiederum Inseln innerhalb dieser Insel Halle, die versuchen, ihren … also wo Leute von Halle versuchen, den Anschluss zu kriegen an den Rest von Deutschland, ne. Das hat aber eigentlich mit dem Gros der Bevölkerung möglicherweise nicht so sehr viel zu tun, also ist zumindest mein Eindruck, wenn man da hinfährt.
- Kluge
- Was ist grundsätzlich an Leipzig da anders, von dem sie ja nicht so viel Hoffnung haben.
- Heise
- Leipzig ist ne funktionierende Stadt. So wie Berlin auch ne funktionierende Stadt ist, auch bei allen Problemen.
- Kluge
- Was ist eine funktionierende Stadt? Es ist irgendwas in der Fließgeschwindigkeit anders, nicht? Am Hoffnungshorizont anders.
- Heise
- Naja, in einer funktionierenden Stadt geht alles gleichzeitig. Und es kann auch arme Leute geben, es kann auch Bettler geben, es kann alles geben, aber sie haben immer ne Chance, da wieder rauszukommen. Während wenn man in Halle ist man nicht das Gefühl hat, dass die Leute ’ne Chance hätten, dass sie aus so ’ner … dass sie wenn sie mal in ’ner schlechten Situation sind, dass sie jemals ne Chance hätten da wieder rauszukommen. Das ist ein äußerlicher Eindruck, dass müsste man prüfen, inwieweit das jetzt hundert Prozent stimmt, aber das was sich sofort erstmal zeigt oder einem so darstellt …
- Kluge
- Sie sind ein städtischer Mensch.
- Heise
- Ja.
- Kluge
- Mit ner gewissen Leidenschaft für sozusagen den Lärmpegel, den Bewegungspegel, die Geschwindigkeiten einer Stadt.
- Heise
- Ja.
- Kluge
- Aber Ihre Geduld ist landwirtschaftlich. Kann man das sagen?
- Heise
- Ob die landwirtschaftlich ist, weiß ich nicht. Also ich kann gut Geduld haben, obwohl ich gelegentlich auch als sehr ungeduldig gelte.
- Song
- When I was born, you know. I couldn’t speak and go. My mother worked each day, and she learned me to say …
- Text
- Ausschnitt aus dem Film NEUSTADT (Stau – Stand der Dinge) von Thomas Heise Mother and father and son, sister and uncle have fun, and she learned me to say, life is so hard each day. Poor boy you must know,
- Plakat
- Prost mein Engel
- Song
- poor boy life is so hard to go …
- Voice-over (Mädchen)
- Ich gehe deshalb nicht in die Offensive, indem ich mich deutlich vor ’ner Kamera zeige, weil ich anstrebe, Jura zu studieren und Rechtsanwältin zu werden. Und dieser Beruf, Rechtsanwältin soll natürlich auch unserer Sache zugute zu kommen. Und sollte man mich aber in diesem Film und in diesem Zusammenhang erkennen und sehen, wird man es bestimmt zu verhindern wissen, mich diesen Beruf ausüben zu lassen, das heißt, dass dieser auch nicht der Sache zugute kommen kann. Und die so genannte Demokratie, die hier herrscht, ist eigentlich gar keine Demokratie.
- Mann
- Ja, wir können uns vielleicht über das Thema dann vielleicht beim nächsten Kamaradschaftsabend nochmal näher unterhalten, oder dann bei einer von unseren Schulungen, je nachdem. Ja dann möchte ich bitten, den nächsten Vortrag zu starten.
- Voice-over (Mädchen)
- Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit seit dem Anschluss Mitteldeutschlands an das kapitalistische System der Bundesrepublik Deutschland war und ist wohl eine der entscheidendsten Veränderungen…
- Song
- When I was born, you know.
- Text
- LESEBUCH FÜR STÄDTEBEWOHNER OST/ Thomas Heises eindrucksstarker Film NEUSTADT (Stau – der Stand der Dinge)
- Song
- My mother worked each day, and she learned me to say …
- Text
- 10 vor 11. TEN TO ELEVEN.
- Song
- Mother and father and son, sister and uncle have fun …