Explosion of a Memory
Transkript: Explosion of a Memory
- Text
- 10 vor 11: TEN TO ELEVEN
- Text
- In seinem Marschgepäck zum Todesort trug Heiner Müller die METAMORPHOSEN DES OVID mit sich / Aus Shakespeares Texten wandelt Müller starke Worte ins Deutsche / Nochmals steigern sie sich durch die Übersetzung ins Amerikanische / Sein New Yorker Verleger Gautam Dasgupta bezeichnet Heiner Müller als “ERSTEN DICHTER DES DIGITALEN ZEITALTERS” EXPLOSION OF A MEMORY / Heiner Müller zum 70. Geburtstag (1929 – 1999)
- Text
- Heiner Müller, Dramatiker
- Text
- “Tod bleibt grün im Gedächtnis.” Shakespeare Factory 2: Hamlet Gautam Dasgupta (via Dolmetscherin): Als wir zum ersten Mal “Die Hamletmaschine” veröffentlicht haben in Buchform, war ich sicher, dass die ersten 2.000 Exemplare bis zum 21. Jahrtausend erst verkauft sein würden. Aber, ob Sie’s glauben oder nicht, das Buch ist jetzt schon etwa zum fünften Mal aufgelegt worden, hat mehr als 15.000 Exemplare bis jetzt verkauft.
- Alexander Kluge
- Also für amerikanische Verhältnisse enorm viel. Dasgupta (via Dolmetscherin): Ja, in der Tat. Sogar bevor Bob Wilson sich mit Heiner Müller assoziiert hatte, haben wir seine Bücher schon verkauft an Universitäten, an Studenten, an die Theaterschaffenden in Amerika, die am fortschrittlichsten waren, und vielleicht können wir zu einem späteren Zeitpunkt darüber sprechen, warum Heiner in Amerika so akzeptiert wurde …
- Kluge
- Ja, das … Dasgupta (via Dolmetscherin): Möchten Sie gerne, dass ich darüber jetzt spreche? Ich glaube, Teil des Grundes liegt sicherlich in den formalen Experimenten, die Heiner Müller durchgeführt hat bezüglich seiner Dramaturgie. Ich glaube, grade für viele junge Studenten war Naturalismus, Realismus eine Sackgasse. Sie hatten das Gefühl, dass auf seltsame Art und Weise Heiner Müller vielleicht der erste, was ich zumindest den ersten digitalen Schriftsteller nennen würde, oder Schriftsteller des digitalen Zeitalters. Und obwohl die meisten der Studenten vielleicht nicht reif genug waren, Heiners politische Ideen zu verstehen, die Bezüge die er macht, ihnen gefiel die Kompaktheit seiner Arbeit, die Fragmentierung des Schaffens, auch die Anleihen von anderen literarischen Texten, die er machte, seine Poesie … ich meine nicht seine Poetik, sondern wirklich seine Dichtung. Sie haben versucht, eine andere Art und Weise zu finden, sich mit Emotionen zu verbinden, die eben anders war als die naturalistische, realistische Art und Weise, mit Emotionen umzugehen, sie wollten größere Emotionen.
- Text
- Hamletmaschine/ Eingangstext Dasgupta (via Dolmetscherin): Das ist aus der “Hamletmaschine”, aus dem ersten Teil, mit dem Titel “Familienbuch”: “Ich war Hamlet. Ich stand am Strand und sprach mit der Gischt, bla bla, die Ruinen Europas hinter mir. Die Glocken läuteten zum Staatsbegräbnis, Mörder und Witwe ein Paar, die Räte im Stechschritt hinter dem hochrangigen Leichnam im Sarg mit schlechtbezahltem Jammer, weinend. Wer ist der Leichnam in diesem Sarg, um den es so viel Geschrei gibt? Es ist der Leichnam eines großen Almosengebers. Er, die Bevölkerung, er der Schöpfer der Staatsmannschaft. Er, der Mann, der ihnen alles für alles gab. Ich hielt die Begräbnisprozession an, öffnete den Sarg mit meinem Schwert. Die Schneide brach, trotzdem ist es mir gelungen, ihn zu öffnen, und ich habe meinen toten Erschaffer auf den Weg geschickt. Fleisch bleibt gerne in der Gesellschaft von Fleisch, unter all den Dummen um mich herum. Das Trauern ging in Entzücken, das Entzücken in Lippenküssen, oben auf dem leeren Sarg war der Mörder auf der Witwe. Hey, lass mich dir aufhelfen, Onkel. Öffne deine Beine, Mutter. Ich lag auf dem Boden und hörte der Welt zu, wie sie im Gleichschritt mit der Verwesung maschierte.”
- Kluge
- Was ist da das Prinzip von ihm, nimmt er das Realitätsprinzip weg?
- Dasgupta (via Dolmetscherin)
- Ja, ich glaube, diese Vorstellungen des real existierenden Sozialismus, das ja etwas war, das so sehr Bestandteil des soziopolitischen Umfeldes Ostdeutschlands war, und Heiner hat natürlich reagiert gegen diesen real existierenden Sozialismus in Deutschland, aber nicht nur gegen den real existierenden Sozialismus, ich glaube, Heiner hat gegen alle existierenden Systeme welcher Art auch immer reagiert, ob die nun aus dem Osten oder Westen kamen. Er war ein Rebell …
- Kluge
- Er ist ein Anti-Realist.
- Dasgupta (via Dolmetscherin)
- Ein Anti-Realist – ja, ganz bestimmt. Und das hat ihn auch so lieb gemacht den Menschen, den Studenten, auch der Öffentlichkeit in Amerika.
- Kluge
- Also das Gefühl, dies wurde gebraucht. Also, es ist so wie in der Französischen Revolution, wenn man sich von dem König entfernt, so entfernt man sich heute von den Zwängen, dass die Realität behauptet, sie sei etwas Realistisches. Heiner Müller würde sagen: Die Realität ist unrealistisch.
- Dasgupta (via Dolmetscherin)
- Absolut. Ich glaube sogar, dass Heiner Müller, wie Sie ja sehr genau wissen, wenn er darüber spricht, dass die menschliche Geschichte noch nicht begonnen hat, dies meint: Die menschliche Geschichte, so Müller, wird nur dann beginnen, wenn alle Ungerechtigkeit und dergleichen mehr verschwunden sind. Und für viele meiner Studenten, um ein Beispiel zu geben, ist das etwas, auf das sie sich einlassen können, ganz egal aus welcher Gesellschaftsschicht sie stammen
- Kluge
- Würden Sie sagen, er hat gewisse Angewohnheiten von Propheten im Alten Testament? Dasgupta (via Dolmetscherin): Auf jeden Fall. Ganz kürzlich habe ich in der Beilage für den Tagesspiegel geschrieben, und dort hab ich gesagt, dass Heiner sich selbst wie diesen Narren im “König Lear” sieht, und ich glaube, ich sehe ihn auch in diesem Lichte, als den Narren des “König Lear”, den weisen Narren.
- Kluge
- Wenn Sie mal die Formenwelt beschreiben, die Heiner Müller bevorzugt als Dichter, und die er auch zum Teil neu eingeführt hat. Die Fragmentisierung: Ein Fragment ist wahrer als das Ganze.
- Dasgupta (via Dolmetscherin)
- Ja, ich glaube nämlich auch, dass Heiner, wie Sie sagen, an die Wahrheit des Fragmentes mehr als die des Ganzen geglaubt hat, denn ich glaube, im Ganzen, hat Heiner immer gesagt, spielt Ideologie eine Rolle, und in gewisser Weise, genau wie wir vorher gesagt haben, dass Heiner gegen die Realität war, glaube ich, dass Heiner auch gegen diese Vorstellung von Echtzeit oder Realzeit war, und deshalb glaube ich, gibt es in seinen Dramen solche Zusammenflüsse von Dingen aus unterschiedlichsten Zeiten, selbst aus einer imaginären Zukunft und dergleichen mehr. Denn ich glaube, er glaubte einfach nicht daran, dass die organische Natur der Erfahrung, das normale Wesen der Erfahrung in der Lage war, Wahrheiten zu generieren. Und ich glaube, aus diesem Grund ist Heiner auch im Osten geblieben, weil es diesen Druck des Erfahrung-Machen gab, die Extremerfahrungen, die er machte, und ich glaube, das ist etwas, auf das er reagierte, das er vielleicht kreativer empfand als eine normalere Erfahrung durch Zeit und Raum. Die blutigen Kometen sind am himmel anstatt der frommen Sterne aufgezogen und blitzen dunkel in die Welt hinein / Die guten Mittel sind erschöpft, es kommen die Bösen Und erst, wenn Siegfrieds Tod gerochen ist gibts wieder Missetaten auf der Erde / Solange aber is das Recht verhüllt / Kriemhild Ihr habt mein Fleisch gegessen und mein Blut getrunken durch zehn Länder mich gejagt und meine Haut gespannt auf eure Trommel Seid mein Gäste jetzt zur letzten Mahlzeit Esst eure Toten und löscht euren Durst mit ihrem Blut der Tisch wird reich gedeckt sein und feiert eure Hochzeit
- Heiner Müller
- KRIEMHILD aus: GERMANIA III
- Kluge
- Er ist rücksichtslos gegenüber Missverständlichkeiten. Tetx: RÜCKSICHTSLOS gegenüber Mißverständnissen
- Dasgupta (via Dolmetscherin)
- Heiner hat das eigentlich immer gemocht. Er glaubte, dass Missverständnisse tatsächlich sehr kreativ sind. Und ich glaube, Missverständnisse haben es Heiner selbst erlaubt, und das würde er auch von seinen eigenen Lesern erwarten, eine Perspektive zu erlangen, die nicht erlangt werden könnte, wenn man etwas gelesen hätte, das in traditioneller Bedeutsamkeit verfasst wäre. Ich kann mich erinnern, einmal, als Heiner mich besuchte –wenn er nach New York kam, hat er immer bei mir gewohnt– und einmal ging er die Bücher in meinem Regal durch, und dann nahm er sich ein Buch heraus, und las nur einen Satz oder zwei, völlig wahllos, und dann kommt er in mein Zimmer und sagt mir: Das Buch hab ich gelesen. Er hatte einen unglaublichen Appetit, eine Vorstellung, Literatur wirklich zu essen, er konnte Literatur und Erfahrung wirklich verzehren, und man kann nur Fragmente verzehren, nicht das Ganze. Und ich glaube, er glaubte sehr stark daran, Literatur wirklich auf diese Art und Weise in sich aufzunehmen, Erfahrungen in sich aufzunehmen auf diese Art, denn er glaubte, auf diese Art kann man es wirklich besser verdauen.
- Kluge
- So wie man im 12. Jahrhundert aus 17 Zeilen eines aristotelischen Fragments eine ganze Wissenschaft entwickelt. Er hat mir mal erzählt, Abelard hat 80 Bände Kommentare zu den 17 Zeilen des Aristoteles geschrieben, und diese 17 Zeilen waren noch gefälscht. Die enthielten Fehler. Das ist eigentlich sein Ideal. Dasgupta (via Dolmetscherin): Oh ja. In gewisser Weise war das natürlich auch dem ähnlich, was Brecht getan hatte, als es den großen Angriff gab damals um “Die Dreigroschenoper”, wo gesagt wurde, er hat auch von François Villon gestohlen. Ich glaube, es war Alfred Kerr, der sich beschwert hatte, dass Brecht Zeilen dem entnommen hatte. Und dann hat Brecht ein Gedicht gegen Alfred Kerr geschrieben und gesagt: Nun, Villon hat 650 Zeilen geschrieben und ich habe nur 25 dieser Zeilen mir geborgt. Natürlich war Heiner jemand, der auch Collagen gemacht hat, der hat sehr viel aus dem Kubismus entnommen, aus Kubofuturismus, sicherlich war einer seiner größten Helden Mayakovsky, der glaubte an diese Art von geradezu knappen, fast schussförmigen Zeilen, ganz knapp, ganz genau, stakkato.
- Kluge
- Was heißt bullet lines? Was heißt das, bullet lines? Dasgupta (via Dolmetscherin): Wie Geschosse, wie Kugeln aus einer Waffe. Sie waren ganz abrupt, sie hatten die Geschwindigkeit einer Kugel, die gerade abgefeuert wurde. Sie waren sehr kompakt, er war auch ein sehr kompakter Schriftsteller. In gewisser Art und Weise meine ich, dass jedes Stück, das er geschrieben hat, auch ein Teil der Geschichte der Menschheit war, das er hier schrieb. Er konnte den gesamten Weltkrieg oder das Eiszeitalter nehmen, das Ganze konnte er verdichten in die Erfahrung des Momentes. Und in diesem Sinne war das wirklich eine Explosion, so war das immer, seine Zeilen waren explosiv.
- Kluge
- Und daher … Explosion einer Erinnerung. Deswegen ist das der Titel, den Sie gewählt haben.
- Text
- Explosion einer Erinnerung
- Dasgupta (via Dolmetscherin)
- Ja, darum haben wir den Titel gewählt. Explosion einer Erinnerung.
- Kluge
- Und in der Realität entsteht immer wieder Implosion of Erinnerung. Geschichtsentzug. Enteignung von Erfahrung.
- Dasgupta (via Dolmetscherin)
- Ja, aber dann natürlich würde er das gleichzeitig auch aus sich heraussprudeln lassen. Also, auf der einen Seite verdaut er es, auf der anderen Seite sprudelt es aus ihm heraus, und ich glaube, in diesem Ausspeien, da kommen dann diese Funkenschläge. Und ja, Sie haben Recht, es war eine Implosion, dann, wenn er all diese Erfahrungen in sich aufnahm, die es um ihn gab. Aber dann würde Heiner das Ganze verdauen und dann wieder ausspeien und dieses war dann die Explosion.
- Text
- UNTERSCHIED zu BRECHT/ “Stimme der Toten”
- Dasgupta (via Dolmetscherin)
- Und ich hatte immer das Gefühl, dass Heiner auf ganz paradoxe Art und Weise sich sehr nahe befand zu dem Wesen des Nicht-Menschlichen oder Unmenschlichen. Ich hatte immer das Gefühl, Heiner hat eine Stimme gegeben den Toten in dieser Welt, er hat eine Stimme gegeben den nichtbelebten Objekten in dieser Welt. In diesem Sinne war er vielleicht viel demokratischer, oder anders ausgedrückt war er ein viel besserer Kommunist. Denn Heiner war völlig interessiert an der Gleichstellung aller Lebensformen. Also wenn Heiner so etwas schreibt wie “Landschaft mit Argonauten”, dann ist das für mich … Sie können sehen dass die Natur dieser Landschaft für Heiner sehr wichtig wird, das Wesen der Menschen, die dort begraben sind, Ich glaube, Heiner war jemand, der auch für Felsen, für Pflanzen, für, wie Sie gesagt haben, Tacitus, ich möchte Lucretius erwähnen, ich glaube Heiner war wirklich jemand, der Lucretius, wenn man so will, einen Menschen finden würde, mit dem er eine Seelengemeinschaft hat.
- Kluge
- Wenn Sie den Heiner Müller mit einem Tier vergleichen sollten – das soll man nicht tun, aber es gibt ja Wappentiere, ja, es gibt die Wiedergeburt, ja – mit welchem Tier würden Sie ihn vergleichen? Dasgupta (via Dolmetscherin): Einen knuddligen Hund. Und ich muss auch sagen, warum. Also die Frage hat mich natürlich etwas verblüfft, daher ist die Antwort sehr spontan gekommen. Aber nachdem ich jetzt gesagt habe, er wäre für mich wie knuddliger Hund, erinnere ich mich an zwei Dinge. Das eine ist ein Satz von Gertrude Stein, die einmal, ich glaube in irgendeiner ihrer Schriften, gesagt hat: Ich bin Ich, weil mein Hund mich erkennt.
- Text
- “Ich bin Ich, weil mein Hund mich erkennt” Gertrude Stein Und in gewisser Art und Weise, jetzt, wo ich es gesagt habe, glaube ich, dass ich mich selbst auch besser kennen gelernt habe und auch den Wunsch hatte, mich besser kennen zu lernen, wenn ich in der Gegenwart von Heiner war. Und ich vermisse Heiner wirklich sehr. Und auch, weil glaube ich Heiner sehr stark geglaubt hat an Frauen, daran, dass Frauen diejenigen sind, die die Menschheit retten. Ich glaube wirklich, er war geistig sehr verwandt, mit der Figur von Rosa Luxemburg…
- Kluge
- Und seiner Mutter? Dasgupta (via Dolmetscherin): Oh ja. Und auch an Ulrike Meinhof. Ich habe ihn einmal gefragt: Heiner, was wärst du geworden, wenn du nicht Dramatiker geworden wärst? Und in seiner unnachahmlichen Art sagte Heiner: Ich wäre gerne Gynäkologe geworden.
- Kluge
- Wie meint er das? und sozusagen die Geschichte der… noch an die Geschichte des Geborenwerdens nachschauen.
- Kluge
- Also er will eigentlich in die Unterwelt. Er will das Frühere zeigen, die Unterwelt. Er ist ein Anti-Kolumbus. Dasgupta (via Dolmetscherin): Oh ja, ganz genau.
- Kluge
- Nicht neugierig nach neuer Welt. Dasgupta (via Dolmetscherin): Ja, das wirklich.
- Kluge
- Hat er die größere Chance in englischer Sprache oder in deutscher Sprache? Sie sagten, dass er im 21. Jahrhundert zu den Hauptdichtern gehört. In Englisch? Dasgupta (via Dolmetscherin): Ja, ich glaube.
- Kluge
- Eingeschlossen alle Missverständnisse.
- Dasgupta (via Dolmetscherin)
- Ja, ich glaube eingeschlossen aller Missverständnisse wird er das erreichen.
- Text
- EXPLOSION OF A MEMORY/ Heiner Müller zum 70. Geburtstag (1929-1999) Dasgupta (via Dolmetscherin): Teilweise vielleicht deshalb, weil dass was Heiner macht selbst hier bei der Eröffnung, bei den ersten Sätzen von “Hamletmaschine”, wo er sagt: Ich war Hamlet, da will Heiner immer das Individuum in gewisser Weise wieder zur Vergangenheit re-dirigieren ….