Wer raucht sieht kaltblütig aus
Transkript: Wer raucht sieht kaltblütig aus
- Tafel
- “Es ist ein Irrtum, daß die Toten tot sind” 1929 - 1995
- Textband
- “Sich verwandeln in unbedrohbaren Staub” (B. Brecht) / Am 30.12.1995 ist Heiner Müller gestorben / In dem Gespräch vom Herbst ‘95 geht es um Atem, Hitler, Immanuel Kant, den Generationenvertrag, um Trost durch Verwandlung und um Tabak - -
- Tafel
- “WER RAUCHT, SIEHT KALTBLÜTIG AUS und wer raucht wird kaltblütig” Gespräch mit Heiner Müller
- Kluge
- Du kennst den Ausdruck Pneuma, der Atem, griechisch. Wenn du sozusagen atmest, an der Zigarre, atmest du ja immer ein.
- Müller
- Aber nicht den Rauch, der Rauch geht nur bis in die Mundhöhle, dann geht er wieder raus. Dann pustest du aus. Ja. Weil du von Atem redest. Ich hab einen ganz tollen Satz gelesen gerade, in einem Kriminalroman von einer amerikanischen Autorin. Der Sheriff - der ist der Protagonist - geht auf den Friedhof und gießt wie immer am nationalen Gedenktag ein Coors, ein Bier, auf dem Grab seines Bruders aus, der in Vietnam gefallen ist, und plötzlich hat er das Gefühl, daß sein Atem zu laut ist, weil die Toten können nicht mehr atmen und er fühlt sich ganz indiskret, weil er so laut atmet. Das fand ich einen tollen Satz.
- Kluge
- Sag mir doch mal, wenn du rauchst - dein Arzt hat dir gesagt, du sollst ruhig rauchen, und: was ist das?
- Müller
- Du, es ist einmal ein Genuß, es schmeckt gut. Und die Lunge hat keine Geschmacksorgane, also man braucht das nicht in der Lunge. Die Geschmacksorgane sind in der Mundhöhle, am Gaumen. Und wahrscheinlich ist es ein Vehikel für die Stoa, wenn man raucht. Es gibt bei Brecht im “Ui” so einen Satz: “Wer raucht, sieht kaltblütig aus. Und wer raucht, wird kaltblütig.” Vielleicht ist es das. Weil du schließt dich kurz mit deiner Sexualität, wenn du rauchst, besonders Zigarren. Zigaretten - könnte ich wenig damit anfangen.
- Kluge
- Kann auch so sein, also der Sauerstoffentzug, das wär ja der Tod. Aber in dem Maße, in dem ich an eine fremde Luft, die des Tabaks, der Begeisterung … das ist ja ein geistiges Mittel, dann bin ich vom Tod doch etwas entfernt.
- Müller
- Das könnte sein, ja.
- Kluge
- Die Trennlinie wird scharf nochmal gezeichnet.
- Tafel
- Begegnung mit Rolf Hochhuth / “Krösus der Materialien”
- Müller
- Wir haben jetzt vor ein paar Tagen uns getroffen, aber ganz privat. Wir haben kein Wort verloren über den juristischen Aspekt oder über die Eigentumsprobleme, darüber rede ich nicht und er auch nicht mit mir, das ist eine Sache der Anwälte, das geht mich nichts an. Und das finde ich auch fair, dabei zu bleiben. Wir haben darüber gesprochen, daß er vor Jahren versprochen hat der Marianne Hoppe einen Text, und zwar einen Monolog von Effi Briest. Und ich hab wieder gestaunt, wieviel er weiß darüber. Er hat über das Problem Effi Briest gesprochen mit Manfred von Ardenne, der ja ein Verwandter von Effi Briest ist. Und die ist mit, ich weiß nicht, 96 Jahren in Lindau gestorben, glaube ich, am Bodensee, entgegen der Fontane-Version. Das interessiert ihn und das fänd ich auch interessant, wenn er das schreibt. Das kann man dann machen. Und in so einer Besetzung wär das interessant. Die hat zuletzt als Krankenschwester gearbeitet hauptsächlich, und sein Ausgangspunkt ist eine Szene mit einem jungen Soldaten, der stirbt, und dabei entwickelt sich ihr großer Lebensmonolog. Aber erstaunlich ist, wieviel er weiß darüber, er hat total recherchiert alles, was man darüber wissen kann, und mit allen Verwandten gesprochen, die es noch gibt…
- Kluge
- …dieses Material, dieses Interesse, das fesselt ihn so, er ist so ernsthaft interessiert an den Tatsachen, daß er diese kunstvoll von Fontane hergestellte Verschlüsselung…
- Müller
- …aufbrechen kann, ja…
- Kluge
- …aufbrechen kann. Daß aus der Trauer, von Effi Briests Tod und dem Hund, der sich auf ihr Grab setzt, daß daraus ein Interesse für eine Ehe und eine Ehescheidung entsteht. Das verwirft er, - das wäre das dramatische Element - das verwirft er und ist jetzt ein Krösus der Materialien.
- Müller
- Ja…ja…ja. Oder zum Beispiel eine Geschichte, die er mir erzählte. Ich hatte die gehört schon, aber nicht so detailliert im Zusammenhang mit der Arbeit an “Ui”, also an der Inszenierung. Ich wusste aber nicht die genauen Details, und die hat er erzählt. Es gibt von einem Pflichtverteidiger aus der Nazizeit - ich weiß den Namen nicht des Buches, es ist bei Siedler erschienen - einen Bericht über die Fälle, mit denen er zu tun hatte. Die Nazis haben ja immer Pflichtverteidiger bestallt für die politischen Angeklagten, und der erzählt so seine Hauptfälle, die endeten meistens mit der Hinrichtung des Patienten natürlich. Und der Fall, von dem Hochhuth erzählte, war der Fall Wasa. Ein Mann namens Wasa hat 1941 nach Stalingrad gesagt, “es ist kein Wunder, daß wir den Krieg verlieren oder daß Deutschland den Krieg verliert, mit einem Führer, der nur noch einen halben Schwanz hat.” Und dieser Mann, Wasa, ist dafür hingerichtet worden, natürlich. Der war aber dabei, als in Braunau, der ist in Braunau geboren wohl und aufgewachsen, als so drei, vier Jungs zusammen mit Adolf Hitler, die haben gespielt mit einem Ziegenbock. Das ist eine groteske Geschichte, aber es ist in dem Buch belegt. Die haben den Ziegenbock mit dem Schwanz an ein Scheunentor gebunden und drei haben ihm das Maul aufgehalten und der jeweils vierte hat reingepinkelt. Und als der kleine Adolf dran war, haben die anderen losgelassen, ob aus Versehen oder mit Absicht, das ist ungeklärt. Und der Ziegenbock hat zugebissen.
- Kluge
- Der Schwanz war zwar intakt und er hätte abgehen können und dem Gerücht…
- Müller
- …Nene, er war wohl ziemlich…
- Kluge
- …verletzt…
- Müller
- …halbiert, also es fehlte ein Stück. Das ist die Geschichte vom…
- Kluge
- Also der Legende nach, es wäre die Hälfte, ja…
- Müller
- …Jaja, klar. Und da gibt’s so viele Versionen darüber, die Kriegsverletzungen und so… und das scheint aber die…
- Kluge
- …Man sagt ja, daß die Haltung von ihm…: er schützt den letzten Arbeitslosen in Deutschland.
- Müller
- Jaja, genau, jaja.
- Tafel
- Die dramatische Arbeit Schillers / “Theater handelt vom Sterben - \-”
- Kluge
- Wenn du mal die dramatische Arbeit von Friedrich Schiller, die ja auch sehr stark Substanzen, also Kolportageelemente mitentfaltet, also etwas, worüber er sich erregt, das verwaltet er in Form von Dialogen. Wenn du das mal vergleichst, hat das eine Ähnlichkeit?
- Müller
- Das hat es absolut. Vor allem auch der moralische Impetus, den Hochhuth auf jeden Fall hat, das war auch der von Schiller. Also die Weltgeschichte ist das Weltgericht, und das Theater ist das Vehikel für das Weltgericht.
- Kluge
- Was ist deine Meinung vom Theater?
- Müller
- Keine so hohe jedenfalls. Keine so moralische. Es ist vielleicht…
- Kluge
- …es ist das Beerdigungsinstitut der Weltgeschichte…
- Müller
- …Beerdigungsinstitut ja, kann man auch schwer sagen. Aber es ist vielleicht eine Möglichkeit, kollektive Erfahrungen festzuschreiben und tradierbar zu machen.
- Kluge
- Sichtbar zu halten.
- Müller
- Sichtbar und dadurch tradierbar zu machen. Über die Erfahrung des Zuschauers, wenn man Glück hat.
- Kluge
- Also eine Generation gibt der anderen, ja…
- Müller
- …ihre Erfahrungen weiter…
- Kluge
- …ihre Erfahrungen weiter, es ist also nicht so, daß die Bühne mit dem Zuschauerraum korrespondiert, sondern eigentlich ist es so, daß beide korrespondieren mit den Nachfahren und den Vorfahren. Ist das richtig? Sodaß es eigentlich eine Zeitreise ist, die man im Theater macht.
- Müller
- Ja und das wesentliche am Theater ist ja dann, da sind wir beinahe bei Ovid wieder, das wesentliche ist die Verwandlung, und die letzte Verwandlung ist der Tod, das Sterben. Und die Angst vor dieser letzten Verwandlung ist allgemein, auf die kann man sich verlassen, auf die kann man bauen und das ist auch die Angst des Schauspielers und die Angst des Zuschauers. Und das Spezifische am Theater ist eben nicht die Präsenz des lebenden Schauspielers oder des lebenden Zuschauers, sondern die Präsenz des potentiell Sterbenden.
- Kluge
- Wenn du einen Satz hören würdest von Kant: “Der gestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir”, was würdest du assoziieren?
- Müller
- Das ist eigentlich Terror.
- Kluge
- …Terror…
- Müller
- …Der Satz, ist Terror…
- Kluge
- …Terror, ja, die Kombination ist der Terror, ja?
- Müller
- Jaja, ich glaube ja.
- Kluge
- “Der gestirnte Himmel über mir” könnte sein, aber er wäre ein Freibrief. Er wär die Erlaubnis zu allen möglichen Übertretungen des Moralgesetzes.
- Müller
- Bei Kant habe ich sowieso ein gestörtes Verhältnis, weil ich hab mit zehn Jahren zum ersten Mal Kant gelesen und zwar - das hatte mein Vater da rumstehen - und das war “Metaphysik der Sitten”. Und ich hab natürlich als erstes das Kapitel über die Onanie gelesen. Das hat mich tief gekränkt, weil der fand die absolut verwerflich und überhaupt das Letzte und Menschenunwürdigste, was es gibt…
- Kluge
- Wie begründet er das?
- Müller
- Das ist gegen die Naturgesetze, gegen Gottes Verfügung…
- Kluge
- Wenn die Natur dem Menschen die Zeugungsfähigkeit gegeben hat, dann ist es verwerflich ist, sie nicht zu benutzen.
- Müller
- Genau, das hat mich tief beunruhigt damals. Und dann war ich so glücklich, daß ich Jahre später irgendeine Anekdote gelesen habe, daß Kant angeblich jede Woche einmal oder sogar öfter an der gleichen Eiche in dem Park, in dem er immer spazierenging, onaniert hat. Das hat mich dann wieder beruhigt. Von da ab habe ich mich für Kant nicht mehr so sehr interessiert.
- Kluge
- Er war widerlegt.
- Müller
- Er war widerlegt, ja.
- Kluge
- Ist die DDR eigentlich durch ihren Puritanismus eher oder ihre ökonomische Schwäche zugrunde gegangen?
- Müller
- Naja, Puritanismus war ja nur Programm, das war ja keine Realität.
- Kluge
- Aber du schreibst von Fickzellen, also zu klein gebauten Wohnungen…
- Müller
- Das ganze Problem bei dieser Architektur war, das haben Statiker ausgerechnet, man konnte das Bett immer nur in die eine Ecke stellen in diesen Zehn-, Zwölf-, Vierzehn-Etagen-Häusern. Und wenn die alle gleichzeitig gefickt hätten, wäre die Statik ernsthaft gefährdet worden.
- Tafel
- Wie lange gilt der GENERATIONEN-VERTRAG? / Ovids Metamorphosen, 2000 Jahre alt
- Kluge
- Wie weit geht so ein Generationenvertrag eigentlich? Also, wenn du dir jetzt so ein Ovid-Buch kaufst, geht der ja über 2000 Jahre, nicht? Also der Mann, der da keine Beamtenkarriere einschlug, weil er, egal welche Schriftsätze er schrieb, es kamen Verse raus. Der den einen als leichtfertig gilt, der uns aber jetzt als abgründig gilt und aufsässig, und nicht staatsfromm. Der ist so, als wäre er dein Cousin.
- Müller
- Das Schreckliche daran ist ja eigentlich… Ich habe gestern Nacht, weil ich irgendwann aufgewacht bin, nicht einschlafen konnte, habe ich irgendwo ein Buch rausgezogen. Es war so ein triviales Buch über Grausamkeit und Sexualität, also die Folterwerkzeuge, Foltermethoden, die es so in der Geschichte der Menschheit gab, also von den Persern bis über Rom, bis heute. Und das ist schon gespenstisch, wenn man das mal so durchblättert, was da alles erfunden worden ist, und das steht alles bei Ovid schon im Grunde.
- Kluge
- In der freundlichsten Gestalt.
- Müller
- Und höchst elegant formuliert.
- Kluge
- Aber ohne jeden Rabatt.
- Müller
- Ja. Und das ist schon merkwürdig und da verstehe ich schon, was der Klaus Heinrich meint, daß der Ovid diese “Metamorphosen”… als Versuch eine Zivilisation zu konstituieren, zu begründen. Es klappt aber nie.
- Tafel
- “Tröstung ist die VERWANDLUNG” / Wenn man Stein wird, kann nichts mehr passieren
- Müller
- Die Tröstung ist die Verwandlung. Also wenn man ein Baum wird, kann einem nichts mehr passieren. Wenn man ein Stein wird, kann einem auch nichts mehr passieren.
- Kluge
- Wenn man stirbt, kann einem nichts mehr passieren…
- Müller
- …Kann einem auch nichts mehr passieren. Jedenfalls gehen wir davon aus, aufgrund unserer Unkenntnis der Situation nach dem Tod.
- Kluge
- Kommt bei dir die Sturheit, die du manchmal hast, die Beharrlichkeit, aus so einer Überlegung auch?
- Müller
- Das kann sein. Ich find zum Beispiel in dem Zusammenhang - also Ovid, die Verwandlung - es gibt von Brecht ein Gedicht, das sehr viel mit Kafka zu tun hat, von der Haltung her.
- Tafel
- “WER RAUCHT, SIEHT KALTBLÜTIG AUS und wer raucht wird kaltblütig” / Gespräch mit Heiner Müller
- Müller
- Daß er mitteilt, er will jetzt nur noch Papier sein, auf das etwas geschrieben wird,