Es waren irgendwelche Schattenmaschinen, die da forbeifuhren
Transkript: Es waren irgendwelche Schattenmaschinen, die da forbeifuhren
- Texttafel
- Der Dramatiker Heiner Müller über seine Wahrnehmung vom Kriegsende / Aus dem Film Ukrainskaja Rapsodija von Sergej Paraganow - “Es waren irgendwelche Schattenmaschinen, die da vorbeifuhren–” 2000 Kilometer nördlich von Samarkand: Kino, Beethoven, Rote Armee -
- Filmausschnitt
- Filmausschnitt Monolog eines Liebhabers (Russisch):
- Erzählerstimme
- “Oksana, ich schreibe dir von der Frontlinie. Mir ist leicht, weil ich an dich denke. Stelle dir vor: ein zerstörtes Theater, strenge Soldatengesichter, wunderliche Reste eines Bühnenbildes. Und all das scheint in erhabenen Klängen Beethovens Musik zu schweben. Beethoven, er ist auch Deutscher… Früher habe ich Beethoven selten gehört. Wenn er nur die “Mondscheinsonata” komponiert hätte, hätte der Krieg auch vor ihr aufhören müssen. Ich höre sie, und Nächte, mondhelle Nächte in unserem Heimatdorf entstehen in meiner Vorstellung.” Schwester… Schwester, warum hören Sie mir nicht zu?\! \- Krankenschwester: Ich höre alles. Sprechen Sie. Ich merke mir alles. Schreiben Sie: “Sibirsk, Konservatorium, an Oksana Martschenko.” \-Soldatenstimme: Panzer\!
- Kluge
- Sag mal, Du hast in der TAZ einen Artikel geschrieben, anläßlich von Malapartes Buch…
- Müller
- Es war kein Artikel entstanden. Es ist so, ich hatte das Buch gelesen und das war vergriffen, also nicht mehr zu kriegen, und traf zufällig über eine Bekannte einen Lektor von Kiepenheuer, der war an dem Buch interessiert, nachdem was ich ihm darüber erzählt hatte. Er fragte, ob ich dazu ein Vor\- oder Nachwort schreiben würde und dann würden sie die Rechte kaufen. Und so entstand das. Ich habe das natürlich im Grunde auch benutzt, um Dinge zu sagen, die ich sowieso sagen wollte - deswegen dieser Aufhänger des Moskau-Aufenthalts. Ich fand es schon sehr wichtig, auch im Zusammenhang mit Erinnerungen, die ich hab an das Kriegsende und danach, diesen Aspekt von Malaparte mit den zwei Arbeiter-Armeen…
- Kluge
- Die deutsche und die sowjetische.
- Müller
- …der erste Krieg von Arbeiter-Armeen und auch dieser merkwürdige Rest von sogar feudaler Ritterlichkeit zwischen den voll mechanisierten Truppen, also die Panzerverbände als die Übersetzung der Kavallerie ins 20. Jahrhundert und ganz genau die Episode mit der Schraube.
- Kluge
- Wie geht die?
- Müller
- Eine deutsche Panzereinheit sitzt am Feuer abends und die haben einen sowjetischen Panzerleutnant als Gefangenen da, einen Maschinenschlosser oder Werkzeugmechaniker aus Magnitogorsk und der guckt so nebenbei mal auf die deutschen Panzer mit dem Blick des Fachmanns und sein Blick bleibt hängen an einer Stelle und ein Deutscher sieht das, es ist sein Panzer, und er springt auf und zieht eine Schraube fest und dann beschreibt er, wie der Russe sich ärgert, daß er da hingeguckt hat. Es findet ja eigentlich alles nur noch in militärischen Kategorien statt, die sind natürlich ins Ökonomische übersetzt oder übergegangen in den ökonomischen Bereich, aber es ist nach wie vor Krieg. …und wenn ich mich erinnere, was ich meinte mit ‘45….auch dieser Punkt…. Es gab eine Diskussion einmal im relativ kleinen Kreis im Maxim Gorki-Theater, da war der Maxim Valentin Intendant, der die ganze Zeit in der Emigration war in der Sowjetunion. Er hat vorher diese roten Agitationstruppen, wie hieß das noch? Kolonne links und so das waren so kommunistische Agitation bis ‘33. Da ging es um das Problem der Vergewaltigung, also des sowjetischen Terrors ‘45 bis ‘46 auf dem Gebiet der DDR. Und er erzählte eine Episode, er war noch in Kiew, als die ersten Züge zurückkamen, Truppentransporte mit Soldaten aus Deutschland und der ganze Bahnsteig voller Frauen, also Mütter und Frauen, und die hatten gehört von diesen Vergewaltigungen in Deutschland, und haben erst einmal ihre Männer geohrfeigt zur Begrüßung. Das war das eine und das andere was er erzählt und das habe ich auch selbst ziemlich genau mitkriegen können….
- Kluge
- Ach, die russischen Soldaten kommen zurück…
- Müller
- … und die Frauen haben gehört von den Vergewaltigungen und ohrfeigen ihre Männer erstmal, bevor sie sie wieder in die Arme schließen. Und der eine Punkt, der eben auch bei Malaparte sehr deutlich beschrieben ist, also dieser Einschnitt nach dem Verschleiß dieser Arbeiter-Armee, also gerade der motorisierten Verbände, dann kamen die asiatischen Truppen und da fing ein anderer Krieg an.
- Kluge
- Schreibt der.
- Müller
- Es kann sein, gar nicht in dem Buch, sondern in dem andern über den finnischen Krieg…
- Kluge
- Über den finnischen Krieg, denn da bricht der Winter ein. Das ist ja noch vor Moskau das Erlebnis, daß die ganzen rollenden Fabriken, die zur Industrie-Armee gehören, die Panzerverbände, die bleiben ja im Winter stehen, ab 45° Kälte fährt da überhaupt nichts.
- Müller
- Der Maxim Valentin erzählte dann, und das habe ich selbst auch in Mecklenburg beobachten können, es gab bei den sog. Panzerspitzen-\- also zuerst kamen die Panzertruppen-\- da gabe es keine Vergewaltigungen und nichts.
- Kluge
- Spezialisten… Und danach kamen die Truppen also die Infanterie und da ging es los. Und das waren Asiaten sehr oft, jedenfalls ganz wenig Russen dabei.
- Texttafel
- “Der Triumph Asiens - \-” Paraganow, Tiflis “Die Festung Surami” (1988)
- Kluge
- Wie sahen diese russischen Panzer aus? Wenn du einmal versuchst ein genaues Bild zu beschreiben.
- Müller
- Es gibt kein genaues Bild, es waren Schatten, wenn ich so darüber nachdenke, ich muß irgendwann darüber schreiben. Ich habe diesen ganzen Krieg, es war kein wirklicher Krieg mehr, das Haupterlebnis waren Angriffe von Tieffliegern dann, das war unangenehm, aber auch das war alles ein Schattenerlebnis und es war im halluzinatorischen Zustand, selbst bei diesen Tiefflieger-Angriffen. Man hat sich automatisch in den Graben geworfen oder irgendwohin und man war halbwach oder ich war in einem Zug, denn das war schon, nachdem unser Oberkommandierender uns entlassen hatte. Es war auch eine schöne Szene, auf einem verlassenen Bauernhof in Mecklenburg vor Schwerin traten wir an und der Chef teilte uns mit, der Führer sei also den Heldentod gestorben und die Verräter-Clique um Dönitz hat kapituliert. Er kann uns keine Befehle mehr geben - also ganz korrekt - aber wer ein Mann ist, ein deutscher Mann, der kann sich mit ihm in die Wälder schlagen und weiter kämpfen und die anderen können nach Hause gehen. Es gab acht Männer, die traten zu ihm und gingen in die Wälder, ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, und die anderen zerstreuten sich so in die Gegend. Dann geriet ich irgendwann an einen Bahndamm und da stand ein Zug und der fuhr oder war jedenfalls von der Lokomotive her in Richtung Westen geplannt, es war die einzige Richtung, die es gab. Ich stieg also da ein, da saßen eine ganze Menge deutsche Soldaten drin, dann fuhr der ein Stück und dann hörte man ein Brüllen vorne und ein paar Schüsse und dann standen so zwei, drei Russen da mit Maschinenpistolen und stoppten den Zug. Zwei Soldaten, die mit mir im Abteil saßen, sprangen rechts raus und rollten dann den Abhang hinunter, die Russen schossen ein bißchen hinterher, automatisch bin ich auch mit ausgestiegen, das war eigentlich das Ende des Kriegs. Dann kamen die Amerikaner und haben uns gefangen genommen. Aber dieser halbwache Zustand ist es eigentlich, ich kann dir keinen dieser Panzer beschreiben. Wenn du mir eine Abbildung zeigst, erinnere ich mich, aber es waren irgendwelche Schattenmaschinen, die da vorbeifuhren.
- Texttafel
- “Es waren irgendwelche Schattenmaschinen, die da vorbeifuhren - \-” Der Dramatiker Heiner Müller über seine Wahrnehmung vom Kriegsende /