Pflugschar des Bösen

Transkript: Pflugschar des Bösen

Textband
“Funktion der Intelligenz” / “Die Aufgabe der Intelligenz ist es, Chaos zu stiften” / “Intelligenz entsteht dort, wo Menschen von ihren Äckern losgerissen werden” / “Lenin beim Pilzesuchen im Wald” / “Wer in den letzten 2000 Jahren kann von sich behaupten, er hätte nicht versagt - - ?”
Tafel
“Die Pflugschar des Bösen” /
Müller
Heiner Müller zu Chaos und Intelligenz … Ich hatte neulich ein Gespräch mit Schirrmacher … das fand ich ganz gut … wo er plötzlich als neue Erkenntnis mir sagte, er fängt jetzt an zu verstehen, daß mit der DDR auch die Bundesrepublik verschwunden ist. Mit dem Osten ist der Westen verschwunden. Das ist interessant.
Kluge
Wenn ich das richtig verstehe, ist also sozusagen die Intelligenz ein agrarischer Beruf. Er kultiviert etwas. Er macht Pflanzstätten wie die Kameralisten …
Müller
Es gibt von Nietzsche so eine schöne Formulierung: ‘Die Pflugschar des Bösen.’ Immer wieder muß die Pflugschar des Bösen kommen.
Kluge
Das machen Intelligenzler. Was macht die Pflugschar des Bösen?
Müller
Die muß einfach alle …
Kluge
Die gräbt das ganze um?
Müller
…alle Illusionen … alle Koalitionen … alle Allianzen …
Kluge
… zerstören…?
Müller
… in Frage stellen.
Kluge
In der Erwartung, daß sich lebendige, neue Koalitionen
Müller
… daß daraus andere sich ergeben. Aber die Aufgabe der Intelligenz ist Chaos zu schaffen, glaube ich. Und, also, die Ordnungsvorstellungen, die ja immer illusionär sind, immer Verengungen von Sichten sind, die zu stören.
Kluge
Aber du würdest eigentlich diese Humantexte, daß man sagt, das Gute siegt: wir müssen jetzt Artikel Eins Menschenwürde garantieren, Artikel Zwei weitermachen, und so weiter. Das wäre jetzt zu zögerlich.
Müller
Irgendwie ist das Unsinn. Ist das nicht eine Frage der falschen Erwartungen: wer hat nicht versagt in den letzten Jahrtausenden? Die Politiker haben auf jeden Fall immer alle versagt. Das ist ihre Aufgabe zu versagen.
Kluge
Die Bauern?
Müller
Die Bauern, das ist was anderes. Die Bauern können gar nicht versagen. Die müssen ihre Arbeit machen, sonst hat keiner was zu fressen.
Kluge
In einem fremden Gebiet kann es sein, daß sie versagen. Wenn sie nach Ostpreußen einmarschieren sollen…
Müller
Ja, dann versagen sie.
Kluge
… als russische Bauern, wo sie nicht hinwollten… dann versagen sie. Auf richtigem Gebiet, auf ihrem eigenen Acker, versagen sie nicht.
Müller
Das Problem des Versagens der Intellektuellen, ist ja, daß sie ihr Gebiet verlassen haben, wahrscheinlich.
Kluge
Es gibt da ein anderes Beispiel, das du nanntest, von einem russischen General, der in seinem Flugzeug umherfliegt, dort eine volle Atomausrüstung mit sich trägt, und sagt, er ist jetzt zum Islam übergetreten. Was ist das für ein Fall? Das ist ja auch so ein imaginärer Punkt.
Müller
Du, ich weiß leider nicht viel mehr als das, was du gesagt hast jetzt. Das ist ein ehemaliger Luftwaffengeneral oder \-chef, der in einem privaten Flugzeug jetzt um die Welt fliegt, das war die Meldung in Le Monde, mit Atombomben an Bord, und als Muslim, der er jetzt geworden ist, oder wieder geworden ist, seinen Muslimbrüdern in Bosnien helfen will. Und er will auch nach Washington fliegen, damit die seinen Muslimbrüdern helfen, aber immer mit der Drohung seiner Bomben an Bord.
Kluge
So daß also gewissermaßen…
Müller
… es ist eine Freisetzung auch von Wahnsinn… von Chaos.
Kluge
Wir haben im Grunde früher immer gedacht, daß Spurenelemente von Vernunft, über die Welt fragmentarisch verteilt, irgendwann die Aufklärung hervorbringen. Und jetzt könnte man sagen, daß also…
Müller
… die Spurenelemente von Chaos…
Kluge
… die Spurenelemente von Chaos vielleicht doch die Aufklärung hervorbringen.
Müller
Das glaub’ ich schon. Irgendwann muß man was finden dagegen.
Kluge
Ja.
Müller
Ich kann dir das ganz persönlich beschreiben. Ich wurde von der “Frankfurter Rundschau” gefragt nach einem Beitrag über Rostock. Ich weiß nicht, ob du ihn gelesen hast.
Kluge
Nein. Was hast du da geschrieben?
Müller
Es war in der “Rundschau.” Und da gab’s gleich einen Kommentar dazu von der Redaktion, daß ich mich zu den Blutsäufern geselle … also Heinz Bohrer und Biermann und so weiter… ist gar nicht wichtig, aber…
Kluge
Daß du dazu zählst?
Müller
Ja, ja. Es ist auch…es war eigentlich nur der Versuch, etwas nicht zu verstehen, was ich geschrieben habe. Zum Beispiel, daß die beste Beschreibung des Jugoslawien-Problems und des Jugoslawien-Kriegs, ist “Weekend” von Godard. Das ist Jugoslawien. Das hat er präzis beschrieben. Und diesen Film habe ich gesehen in Paris - damit fing dieser Text an - in einem kleinen Kino in Saint Germain. Da saßen drei Amerikaner und ich.
Kluge
Wann hast du das gesehen?
Müller
Das war vor sieben…acht…oder…
Kluge
Also relativ spät.
Müller
Acht Jahren ungefähr.
Kluge
Das ist ja sehr viel früher entstanden. Das ist ja in den 60er Jahren entstanden…
Müller
Ich habe ihn vorher schon mal gesehen, aber dann in Paris noch mal. Und da saßen drei Amerikaner und ich, und niemand mehr. Und der jugoslawische Krieg hatte viel mehr Zuschauer. Ist schon mal so ein Problem. Aber die beste Beschreibung ist “Weekend.” Oder, so eine Geschichte, die erzählte mir ein Jugoslawe: die Männer in Belgrad fahren zum Wochenende zum Schießen nach Bosnien. Es ist normal. Es ist “Weekend.” Und ich meine, und am Schluß bleibt dir nichts anderes übrig als - das wollte ich dir eigentlich sagen - wenn ich jetzt denke an Brigitte und daß sie ein Kind kriegt, und daß es mein Kind ist, dann bin ich natürlich mit der Frage konfrontiert, all diese Endzeitszenarien, die man sehr gut beschreiben kann, und die sind auch völlig logisch und schlüssig–\- aber wie soll man das seinem Kind erklären? Und da fiel mir da nichts mehr ein als so ein Satz, daß diese Einsamkeit vielleicht eine Hoffnung ist. Daß man mit dieser Frage einsam ist und allein ist.
Kluge
Wie meinst du das jetzt?
Müller
Mit der Frage, wie man das seinem Kind erklärt… diese Situation, die gesamte Weltlage, wie erklärst du diese Weltlage deinem Kind? Und mit dieser Frage bist du allein. Da mußt du was finden.
Kluge
Da hast du recht. Wie erklärst du’s deinem Kind?
Kluge
Da hast du sehr recht.
Müller
Und vielleicht ist diese Einsamkeit eine Hoffnung. Da muß einem was einfallen. Nur das ist ganz irrational.
Kluge
Das wäre dein Impuls sozusagen, gesehen auf 2014… daß wir nicht nur 2014, sondern 1914 hätten. Hab’ ich das richtig verstanden?
Müller
Ja, genau.
Kluge
Nun wirst du deinem Kind…nur… in einer gewissen Zeit von Jahren begegnen.
Müller
Ja, genau. Aber in der Zeit wird es mich fragen.
Tafel
“I like Chaos / But I don’t know whether Chaos likes me - - " / Pläne im Berliner Ensemble
Kluge
Wenn du mal ausgehst von Berliner Ensemble: was hast du da vor? Das ist ja ein auratischer Ort?
Müller
Ja, ja. Was ich da vorhabe, ist ganz simpel. Ich will meine Stücke da inszeniert sehen, das ist ganz privat, ganz egoistisch. Ich glaube, nicht nur egoistisch, weil ich glaube, es ist ganz wichtig, daß man einen Ort hat, auch ein Theater hat, in dem Geschichte aufgearbeitet wird, und ein Theater, was nicht nur einen Repertoirebetrieb hat, das nicht nur einfach Produkte verkauft für den Tag, für die Aktualität. Das ist die Idee. Das setzt voraus, daß man en suite spielt, daß man nicht Repertoirebetrieb macht. Es ist alles ungeheuer schwierig. Es geht gegen alle deutschen Strukturen, gegen alle deutschen Theaterstrukturen, es ist sicher sehr schwer. Aber ich glaube, es ist ganz wichtig, daß man das Theater behauptet als einen Ort von Geschichtsschreibung. Das ist eigentlich das Konzept.
Kluge
Kannst du dir vorstellen, daß man zwei Abteilungen macht: die eine macht die Geschichtsschreibung, die andere macht die wissenschaftliche Herstellung von Skandalen?
Müller
Ja, absolut. Klar.
Kluge
Müßtest du dafür die zweite Hälfte privatisieren?
Müller
Das wird ja privatisiert. Das ist die Voraussetzung dafür. Ob uns das gelingt, ist zum großen Teil leider eine Geldfrage. Aber das ist die Idee. Dabei, ich stelle mir vor, so ein Projekt: es gibt einen Regisseur aus Wien, den du nicht kennst, Joseph Seiler, der hat jetzt in Tokio die Hamletmaschine inszeniert. Und es ist sicher eine ganz terroristische Inszenierung – ich hab’s nicht gesehen, ich kenne andere Arbeiten von ihm. Einmal dauert es zwölf Stunden, einmal dauert es eine halbe Stunde. Und es war offenbar für die Japaner eine Provokation, auch eine Sensation. Und ich möchte gern, daß der die Möglichkeit hat, zum Beispiel – das ist eine alte Idee von mir: es gibt eine Kneipe, oder eine Diskothek, hinter der Theke steht Stalin, macht die Cocktails, die Getränke. Der Kellner ist Lenin.
Kluge
Als Barkeeper?
Müller
Er ist Barkeeper. Der Kellner ist Lenin. Dann gibt’s eine Dame, die macht Striptease. Das ist die Rosa Luxemburg. Und da sitzt ein Herr—der ist Marat. Und dann gibt’s ein jugendliches Publikum. Und irgendwann wird Marat von einem Mädchen erstochen, weil die eine bestimmte Musik hören will. Und die mag der Marat nicht.
Kluge
Und darauf kommt eine Handlung in Gang, die 300 Jahre dauert.
Müller
Aber was mich interessiert daran ist, daß man da nichts schreibt, sondern daß ein Regisseur mit Schauspielern und auch allein, wie du willst, da eine Sache entwickelt, nur mit Originaltexten, also Lenin spricht nur Lenin, Rosa Luxemburg spricht nur Rosa Luxemburg, Stalin spricht nur Stalin, und so was. Und so was muß möglich sein im Theater.
Kluge
Du hast hier einmal in einem Gedicht … hast du Napoleon und Lenin in ein Gedicht zusammengebracht, obwohl du nicht irgendwie behauptet hättest, daß die irgend etwas Denkbares mit einander zu tun haben. Sie sind so verschiedene Charaktere, Lenin ist nie bonapartistisch gewesen, aber du hast eins angedeutet, nämlich, daß der berühmte Mann, der Staatengründer, der Systemgründer, der große Politiker eigentlich zu lebenden Zeiten ein Denkmal ist und sein Motto schrie.
Müller
Es heißt: “NAPOLEON ZUM BEISPIEL weinte, als Bei Wagram seine Garde ihren Fluchtweg Uber die eigenen Blessierten nahm.” Da hätte er noch nicht geweint. Er hat geweint wegen der nächsten Zeile.
Kluge und Müller
“Als die Blessierten schrieen VIVE L’EMPEREUR.”
Kluge
Das heißt, weil das durchhält. Weil er irgendwie eine Sekunde lang mehr wert ist als er’s ist.
Müller
Genau, da hätte er geweint.
Kluge
Beschämt weinte er.
Müller
Ja, ja. Vielleicht nicht beschämt, vielleicht geschmeichelt. Man kann auch geschmeichelt weinen.
Kluge
Er weinte in Wirklichkeit in dieser Schlacht, weil sein Marschall, Lannes, sein Bein verloren hatte. Und hier diese Beinwunde: ein zerquetschtes, zermatschtes Gerippe.
Müller
Es ist auch vielleicht ein falscher Bericht.
Kluge
Auch falsch. Vielleicht weinte er überhaupt nicht?
Müller
Nee, er weinte wahrscheinlich aus Rührung, weil die immer noch diesen Jubelruf für ihn hatten.
Kluge
Jetzt hat dieses Gedicht einen Abgesang.
Müller
Und er weinte aus Narzißmus.
Kluge
Aus Empfindung.
Müller
Ja, ja.
Kluge
Und jetzt gibt es einen Nachgesang hier.
Müller
Mit Lenin, ja. “LENIN, auf die Hasenjagd, gelenkt Von seinem Fahrer, sonstige Begleitung: Keine. Das war sein Urlaub. Lenin traf einen Bauern, der den Wald nach Pilzen abging. Seine Jagd fiel aus. Der Alte schimpfte auf die Sowietmacht Im Dorf, Oben und Unten immer noch Viel Reden, wenig Mehl. Die Pilze auch knapp.” Der Punkt ist wichtig, weil für alles, was nicht mehr funktionierte, wurde…
Kluge
… wird der Staat verantwortlich gemacht.
Müller
…auch wenn weniger Pilze wuchsen, war die Partei dafür verantwortlich. Auch wenn es regnete zum falschen Zeitpunkt, es war die Partei. “Lachte, als Lenin die Beschwerden aufschrieb Das Dorf, Namen und Fehler der Genossen. Er hatte sich auch schon beschwert. Nicht zweimal.” Das muß ich nicht erklären, ist klar. “Wer sind wir. Wenn du Lenin wärst zum Beispiel, Und Lenin wär ein Mann wie du der zuhört. Man könnte glauben daß es anders wird Aber du bist nicht Lenin und so bleibt es.”
Textband
“Funktion der Intelligenz” / “Die Aufgabe der Intelligenz ist es, Chaos zu stiften” / “Intelligenz entsteht dort, wo Menschen von ihren Äckern losgerissen werden” / “Napoleon nach der Schlacht von Wagram”
Tafel
“Die Pflugschar des Bösen” /