Herzkönigin am jüngsten Tag

Transkript: Herzkönigin am jüngsten Tag

Textband
Heiner Müller schreibt an neuen Texten/ Das Gespräch findet in seinen Arbeitsräumen statt/ Es geht um die Mutter des Helden Parsifal und den werktätigen Helden Herkules \\
Tafel
Herzkönigin am jüngsten Tag / Gespräch mit Heiner Müller über Patriotismus “Wütende Liebe zu meinem Land \-”
Kluge
Du hast hier ein Gedicht geschrieben in der FAZ, “Welcome to Santa Monica”, das muß also jüngst gewesen sein.
Müller
Ja, das war in Santa Monica.
Kluge
Es heißt da “Ein sterbender Mann betritt das Hotelfoyer/ Wo die andern Sterbenden ihre Zeit totschlagen/ Kurz oder lang zwischen Geburt und Tod”. Das betrifft alle. Das ganze Gemäuer ist eigentlich sozusagen Wartestand. Das ist eine Betrachtungsweise, die Du ziemlich lange hast. Das ist ja ein historischer Gedankengang. Kannst du dich entsinnen, daß du das als Kind hattest schon?
Müller
Ich weiß nur, eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist: Ich schlief in einer Dachkammer in dem Haus meiner Großeltern. Es war ziemlich klein und ziemlich steil die Treppe dahin. Da gab’s natürlich einen Nachttopf, weil da oben gab’s kein Klo. Und ich saß auf dem Nachttopf, und da fiel mir zum ersten Mal ein, daß ich irgendwann sterben werde. Also auf dem Nachtopf, ganz im Sinne von Freud. Das war mein erster Gedanke daran.
Kluge
Das ist kein sentimentaler Gedanke.
Müller
Nein, das war einfach eine Erkenntnis.
Kluge
Wie ist deine Mutter gestorben?
Müller
Das war ziemlich blöd, ich habe sie nicht mehr gesehen. Wir waren in Italien und hörten, daß sie im Krankenhaus ist auf der Intensivstation am Tropf. Als wir zurückkamen, habe ich - das ist so ein Schuldgefühl bei mir naturlich - ich habe zwei Tage gebraucht, um mich hier wieder zu akklimatisieren und habe sie nicht besucht. Und als ich am dritten Tag hin wollte, war sie schon gestorben.
Kluge
War deine Tochter da schon geboren?
Müller
Ja. Ich erinnere mich an einen Satz von Ernst Jünger, der mir immer sehr gefallen hat: “Die Blindheit des Willens gehört zur großen Politik.” Und die Blindheit des Willens gehört auch zu so einer Figur wie Herakles.
Kluge
Und insofern ist er nicht nur der Kraftmensch. Sondern er ist eigentlich etwas, was man jetzt auch sozusagen in Faust 5. Akt einfüttern kann, als engster Mitatbeiter oder Ersatz dieses verruckten Faust Und es ist noch nicht gesagt, daß das entweder Prometheus sein muß mit all diesen Nachteilen, oder Stalin oder Zeus sein muß oder Zeus’ Sohn sein muß, und daß dieses Verhängnis ewig immer dasselbe sein muß . Es kann bei diesem Repetieren vieler Neuanfänge irgendwann einmal auch aus diesem Herakles etwas sehr Schönes werden, denn gewissenhaft ist dieser Mann.
Müller
Aber die Bedingung für die Gewissenhaftigkeit ist die Blindheit des Willens.
Kluge
Die Blindheit des Willens. Das ist ein Dauerthema von dir. 1957 hast du angefangen, und zwar mit einem relativ offensiven, positiven Theaterstück.
Müller
‘56.
Kluge
‘56. “Zehn Tage, die die Welt erschütterten.” Das ist über die Revolution 1917.
Müller
Das war das zweite Stück.
Kluge
Aber in der Zeit bist du sozusagen nicht ohne Optimismus in der Willensebene.
Müller
Ja. Klar.
Kluge
Blind, aber willenskräftig.
Müller
Ja, ja.
Kluge
Jetzt geht es um einen großen Bogen.
Müller
Du kennst diese Formel von Gramsci, die fand ich immer sehr gut, “Optimismus des Willens. Pessimismus des Intellekts” das ist eigentlich die Formel für so eine Arbeit.
Kluge
Und wie so ein Artist auf einem Seil zwischen zwei Polen läuft und sonst gar nicht laufen könnte und gar keine Artistik üben könnte: Ist das sozusagen eine Grundbedingung, daß man da eine Zitterbewegung zwischen den beiden Polen hat?
Müller
Ja, ja.
Kluge
Und da hat der Herakles, als Typ, eine etwas wenig pessimistische Seite des Intellekts, er reflektiert kaum. Der Theseus manipuliert seinen Intellekt, der kann denken, aber denkt immer so, daß es Nutzen bringt.
Müller
Du meinst Perseus.
Kluge
Der auch. Theseus sorgte dafür, daß er im richtigen Moment sich irrt, die falschen Segel setzt und sein Vater in dem Moment stirbt, in dem er in der Heimat landet. Er ist immer sozusagen bereit, sich im rechten Moment zu irren. Während der Perseus noch etwas Direkteres macht. Er spiegelt, er setzt den Intellekt bewußt, aber indirekt ein, er irrt sich nicht über seinen Vorteil. Und er vernichtet seine Gegner nicht durch Intellekt, nicht mal durch List, sondern wenn man so will, eigentlich brutal…
Müller
…durch Arroganz.
Kluge
Durch Arroganz und dadurch, daß er das Gorgonenhaupt, das alle Gegner zum Erstarren bringt, zeigt, und die Gebrauchsanweisung dafür den anderen nicht sagt. Er ist einfach ein Stück davor, vor den andern und nutzt diesen Platzvorteil, den er genetisch hat, den er in der Entwicklungslinie hat, brutal aus.
Müller
Du kennst die Skulptur in Florenz, von Cellini, Perseus?
Kluge
…der die Andromeda, eine Traumfrau erobert mit List und Tücke und Kaft….
Müller
… und sie tötet.
Kluge
Du hast einmal ein ganz kurzes Gedicht geschrieben: Du sitzt im Flugzeug, es wird Whisky gereicht, du hast ein bestimmtes Gefühl, das dir vom “Spiegel” zugeschrieben ist und das du jetzt auch plötzlich nachträglich wirklich hast. Eine plötzliche Unterbrechung der Blindheit, sozusagen. Würdest du das aufrechterhalten?
Müller
Ich weiß, was du meinst.
Kluge
Du sprichst einmal von Frankreich, in einem deiner Stücke: Sieh sie dir an, mein Frankreich. Und jetzt wird dieses Frankreich als Frau von deinen Darstellern beschrieben, die Brüste ausgelaugt - ein totes Schiff in der Brandung des neuen Jahrhunderts. Also ein lebendiges Schiff im 18. Jahrhundert, hoffnungsvoll die Segel setzend in die Revolution hinein. Und jetzt im neuen Jahrhundert, selbst der Bonaparte ist hinweg, oder er ist da, was noch schlimmer ist. Du sagst nicht, es sei gestrandet. Aber es fährt wie so ein fliegende Holländer da weiter. Wie würdest du dein Land, was immer das ist, wie würdest du das vergleichen? Würdest du es mit einer Frau vergleichen so wie Frankreich?
Müller
Das ist eine Frage, auf die ich überhaupt nicht gefaßt bin. Aber ich würde es natürlich mit einer Frau vergleichen, ja. Auf keinen Fall mit einem Vater oder mit einem Mann. Das ist schon eine Frau.
Kluge
Du könntest es ja auch mit einer Sache oder einem Apparat oder einem Buch vergleichen oder einem Gebäude …
Müller
Nein, das ist schon eine Frau.
Kluge
Und wie sieht diese Frau aus? Wie auf den Fünf-Mark-Scheinen des Dritten Reichs, bei der Währungsreform, eine Arbeiterin?
Müller
Ich glaube, es ist einfach eine schöne Frau.
Kluge
Eine Kellnerin? Küchen? Kassen?
Müller
Eine Kellnerin könnte es sein, ja.
Kluge
Arbeitende Bevölkerung, nicht eine Prinzessin oder irgendsoetwas, keine Jeanne d’Arc, keine bewaffnete Frau wie Frankreich, denn Frankreich hat ja eine phrygische Mütze auf und ein Schwert in der Hand, oder eine Fahne meist.
Müller
Nein, eine Kellnerin ist gut. “Manchmal wenn ich meine Privilegien genieße Zum Beispiel im Flugzeug Whisky von Frankfurt nach (West)Berlin Überfällt mich was die Idioten vom SPIEGEL meine wütende Liebe zu meinem Land nennen Wild wie die Umarmung einer totgeglaubten Herzkönigin am Jüngsten Tag”
Kluge
Wenn du hier arbeitest, in deinem Arbeitszimmer, hier nebenan, dann gibt es auf der einen Seite dieses Pult, dann gibt es die Schreibmaschine, das relativ kahle Fenster, und dazwischen bewegst du dich. Arbeitest du früh oder nachts?
Müller
Lieber früh. Jetzt manchmal nachts, weil es nicht anders geht. Aber früh ist besser. Du kennst diese Unterscheidung zwischen Tag\- und Nacht-Schreibern. Man kann es festmachen an Tolstoi und Dostojewski. Tolstoi hat am Tag geschrieben, Dostojewski nachts. Das sind zwei Grundtypen, glaube ich, von Autoren.
Kluge
Du bist doch vom Typ her eher in die Dostojewski-Richtung zu zählen? Kürzer, deutlich kürzer?
Müller
Ich weiß nicht, an sich schreibe ich lieber früh als nachts. Aber das hat sich geändert…
Kluge
…das war deine Absicht: aufbauende, realistische Texte, und machen tust du…
Müller
…das Gegenteil. Ja, klar.
Kluge
Du sabotierst den Realismus?
Müller
Ja, auch mich selbst.
Kluge
Aber das sind hier zwei Seelen. Also die eine Seele, die bauende, die ist in den Stücken, als du noch an der Arbeitsfront hier gearbeitet hast. Wie nannte man das - in der Produktion. Das ist doch eine Zeit, die für dich etwas bedeutet.
Müller
Wobei das Problem war ja immer, ich habe nie das geschrieben, was ich schreiben wollte oder was ich glaubte zu schreiben. Und bei “Lohndrücker” zum Beispiel ist mir das ganz deutlich geworden, als ich das inszeniert habe am Deutschen Theater. Das war ‘87, glaube ich. Also 30, 31 Jahre nach der Entstehung des Stücks habe ich das inszeniert, da war es plötzlich ein ganz anderes Stück. Ich habe mich noch erinnert an meine Intention beim Schreiben des Stücks, und die Intention hat mit dem Text nichts zu tun oder der Text nichts mit den Intentionen. Es war eine Diagnose, eine sehr pessimistische Diagnose, was ich dann bei der Inszenierung entdeckt habe. Gedacht war es aber als aufbauend, optimistischer Beitrag zum Aufbau von irgendwas. Geschrieben habe ich aber ein Krankheitsbild. Müller, am Schreibpult, rauchend, liest einen Text, den er auf der Intensivstation schrieb. Währenddessen Bilder vom Heereszug Heinrichs VI, Vater des Stauferkaisers Friedrich II., nach Sizilien: “Die wilden Tiere in Sizilien vertragen sich unter der Herrschaft Heinrichs VI. wie im Paradies / Hier sieht man sie, die Rebhühner, die Löwen, die Hirsche, die Panther, an der gleichen Quelle trinken–” Traumwald. Ein neuer Text von Heiner Müller Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum Er war voll Grauen Nach dem Alphabet Mit leeren Augen die kein Blick versteht Standen die Tiere zwischen Baum und Baum Vom Frost in Stein gehaun Aus dem Spalier Der Fichten mir entgegen durch den Schnee Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt Die letzte Tagesspur ein goldner Strich Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.
Kluge
Erinnert an Parsifal.
Müller
Ja, ich wußte das nicht, als ich es geschrieben habe. Das habe ich wirklich im Krankenhaus geschrieben.
Kluge
So was machst du ja nicht oft, das reimt sich ja alles doppelt. Das ist ja ein ganz strenges Gedicht.
Müller
Das ist ein Sonett. Ich habe das im Krankenhaus entdeckt, darüber haben wir, glaube ich, gesprochen. Nur strenge Formen helfen gegen Schmerzen, reimlose Gedichte reichen da nicht aus.
Texttafel
Parsifal, zerlegt in sechs Stücke / Japanische Version (Bunraku)
Kluge
Wenn du den Parsifal nach den Regeln von Bunraku inszenieren solltest, sagen wir mal den zweiten Akt, nicht Klingsor.
Müller
Auf jeden Fall müßte man trennen die Kundry-Geschichte von der Parsifal-Geschichte.
Kluge
Jetzt nehmen wir einfach nur die Kundry-Geschichte und lassen die ganze übrige Oper weg. Die Festungsinhaber sind in einem anderen Fragment beheimatet, in einem nächsten Stück sieht man die Geschichte, wie der Schwan umgebracht wird. Eine dritte, ein Tableau, beschreibt diese ganzen Kreuzritter, den Endkampf in einer Ritterburg. Käme danach die Innenwelt der Reichskanzlei, wenn nur das seelische Geschehen die Rolle spielt? Man würde also nicht die psychologische Handlung, die äußere Handlung der Reichskanzlei spielen, sondern die Stimmen, die inneren Stimmen der letzten drei Tage. Das wäre eigentlich eine mächtige, interessante Oper.
Müller
Das Problem ist ja überhaupt diese Demut vor dem sogenannten Realismus, ein ganz falscher Begriff von Realität liegt ja auch diesem Realismusbegriff zugrunde. Die Realität sehen kann man nur, wenn man sie in Teile zerlegt, in Segmente zerlegt. Wenn jeder Zuschauer die Möglichkeit hat, sie neu zusammenzusetzen, diese Segmente, zu eigenen Realität, in Verbindung auch mit der eigenen Traumrealität Das wäre das ideale Theater. Ob wir das noch erleben, weiß ich nicht. Das war auch ein Traum von Brecht, und er hat es nie gemacht. Weil das Schreckliche ist am Theater, du stehst einem Apparat gegenüber, der einen ungeheuren Sog, eine ungeheuere Macht hat.
Kluge
…und zu einer abbildrealistischen Abendvorstellung zwingt, hintendiert. Er macht ja in der Diskussion alles mit. Und dieses hier wird doch, auch nach deinen Erfahrungen in der Oper, anders, denn abbildrealistisch ist die ja sowieso nicht.
Müller
Nein, da ist eine Chance in der Oper, das zu probieren.
Kluge
Man hat nur den Zwang, dass die Musik nicht aufhört.
Müller
Du wirst natürlich totgeschlagen, wenn du das machst als erster.
Kluge
Aber wenn man die Musik fragmentieren kann, indem man die einzelnen Personen herauslöst. Also jede Person ist ein Drama für sich.
Müller
Bloß, da brauchst du im Grunde, entschuldige, eine kommunistische Gesellschaft. Es gibt da ein Urheberrecht.
Kluge
Mit toten Komponisten dürftest du es
Müller
Mit ganz toten Komponisten darfst du das, aber Wagner ist nicht ganz tot, es gibt noch die Firma Wagner.
Kluge
Aber das können sie dir nicht verbieten.
Müller
Die können das eigentlich nicht verbieten. Aber die Konvention verbietet es.
Kluge
Also wenn du alle Wettermusiken von Wagner herauslöst und sagst, ich mache jetzt einen Wetterfilm, mit der Walküre beginnend, dann wäre das erlaubt.
Müller
Oper Onassis, Erfinder der Totenschiffe, die Callas, schönste Stimme des Jahrhunderts, teilte sein Bett. Eine gute Formel für Patriotismus In einer Kneipe in Pankow sitzt ein älterer Alkoholiker, ein Asozialer oder was immer, das war Ende der 80er Jahre oder Anfang der 80er Jahre. Der lebte davon, daß er nur Leuten zuhörte, die ihn dann zu einem Bier einluden. Er saß an einem Tisch, und da kam ein älterer Angestellter, der war aus irgendeinem Ministerium und wollte unbedingt erzählen, daß er in Paris gewesen war. Das war das große Erfolgserlebnis, Visum nach Paris und Dienstreise und so. Und der erzählte ihm von Paris, vom Montparnasse und Montmartre und alles Mögliche. Und irgendwann in der Begeisterung über Montmartre oder Montparnasse fegte der Angestellte das Bier vom Tisch, und es war verschüttet. Und dann sagte der Alkoholiker: Scheiß Paris\! Sein Bier war verschüttet worden durch diesen Reisebericht. Das finde ich, ist eine gute Formel für Partriotismus.