Garather Gespräch mit Heiner Müller
Transkript: Garather Gespräch mit Heiner Müller
- Titel
- Garather Gespräch mit Heiner Müller
- Textband
- Ausschnitt aus einem siebenstündigen Gespräch / Der Geräuschpegel der Wende dringt ins Theater vor / “Verabschiedung des Prinzips Hamlet zu Gunsten der freien Marktwirtschaft” / Eindrücke am 4. November auf dem Alexanderplatz / Warum Brecht nie von Volk, sondern von Bevölkerung spricht / “Panzerzug der Revolution” - -
- Kluge
- Sag mal, was hast du an deiner Hand da gemacht?
- Müller
- Ganz simpel, ich habe versucht mit dem mir angeborenen technischen Geschick ein Feuerzeug zu füllen.
- Kluge
- Verbrannt?
- Müller
- Ja, und dann habe ich es angezündet, da war aber so viel Benzin an dem Feuerzeug, was übergelaufen war, daß meine Hand in Flammen stand. Das sah sehr gut aus.
- Kluge
- Und was ist das für eine elegante Vorkehrung da?
- Müller
- Dieser Verband? Das ein Chirurg hier mit japanischem Namen. Offenbar ist das eine japanische Methode. Und er hat natürlich recht, gestern hatte ich noch einen Gesamtverband, und es ist natürlich besser, die Finger einzeln zu bearbeiten. Und dann kannst du wenigstens . . . Aber es ist sonst kein Problem.
- Kluge
- Du schreibst aber nicht mit der Hand?
- Müller
- Doch. Aber ich kann mit beiden Händen …
- Kluge
- Bist du Linkshänder oder Rechtshänder?
- Müller
- Linkshänder eigentlich.
- Kluge
- Sag mal, wieviel Interviews hast du seit Oktober/November letzten Jahres gegeben?
- Müller
- Es ist entsetzlich. Ich weiß es nicht, wieviel, ich habe das nicht gezählt, aber es war ganz schwer, das zu vermeiden, gerade wenn man erreichbar ist im Theater jeden Tag. Das hat mir aber sehr geholfen, jetzt diese Inszenierung machen zu müssen in der Zeit. Das war schon sehr merkwürdig.
- Kluge
- Hamlet - wie lang ist das?
- Müller
- Das ist jetzt siebeneinhalb Stunden mit drei Pausen. Mit einer langen Pause und zwei kurzen Pausen.
- Kluge
- Und was hast du da alles gebracht?
- Müller
- Der “Hamlet” ist das längste Stück der Weltliteratur, also von der Textmenge her. Und es ist fast nichts gestrichen. Weil fast alles jetzt wichtig ist in dem Stück. Und das war auch die Überlegung 88, also nach “Lohndrücker”, ob ich vielleicht noch etwas machen muß, um das Ensemble zusammenzuhalten, weil diese sogenannte Wende hat sich natürlich schon lange vorbereitet und angekündigt. Und schon 88 war klar, daß diese Ensembles auseinanderfliegen, wenn man nicht etwas macht. Das war eigentlich die Überlegung noch etwas zu machen deswegen, damit ein paar gute Leute zusammenbleiben, und da fiel mir eigentlich nur “Hamlet” ein, weil ich das Gefühl hatte, das ist das aktuellste Stück zur Zeit in der DDR. Ich hätte überhaupt keinen Grund gesehen und keine Idee gehabt, warum und wie Hamlet hier in der Bundesrepublik inszenieren. Das ist sinnlos.
- Kluge
- Aber sag mal: “Aktuell” - daß gerade Hamlet von Wittenberg kommt? Er kommt ja direkt von den Pfarrern.
- Müller
- Nein, das ist etwas viel Simpleres. Das ist ein Stück über einen jungen Mann, der einmal Mitglied der herrschenden Schicht ist und der durch Wittenberg auch ein Intellektueller ist. Und da geht es um einen Riß zwischen zwei Epochen. Und in diesem Riß geht er unter. Interessant ist dann auch, das Alte ist ihm dubios natürlich, obwohl es etwas Zwingendes hat, also die Vaterfigur. Und das Neue schmeckt ihm auch nicht. Deswegen dann dieses blinde Massaker am Schluß, also die Flucht in eine blinde Praxis. Die Schauspieler haben jeden Morgen alle Zeitungen gelesen und alle Nachrichten gehört, und darum ging’s zunächst. Es war oft sehr schwer, noch konzentriert zu arbeiten, aber das ging dann eben in die Arbeit ein..
- Kluge
- Die sind auch politisch aufgetreten, wahrscheinlich?
- Müller
- Ja, diese Demonstration am 4. November ging zurück auf einen Vorschlag der Schauspieler des Deutschen Theaters. 1988 in der Zeit unmittelbar nach “Lohndrücker” gab es einen Auftritt von Schabowski im Deutschen Theater, der damit endete, daß Schabowski nur noch brüllen konnte, weil ihm nichts mehr einfiel. Es war schon klar, was da kommt. Das war eigentlich kaum noch aufzuhalten.
- Kluge
- Wie würdest du den Schabowski beschreiben? Du hast ihn von nahem gesehen.
- Müller
- Schabowski ist so ein spätrömischer Typ, ein Provinz-Caracalla, aber interessant, sehr wendig, nicht dumm.
- Kluge
- Aber beschreib mal, als was hast du ihn gesehen, da war er Bezirkssekretär in Berlin.
- Müller
- Persönlich habe ich ihn nie gesehen vor dem 4. November, wo wir beide unter anderen auftraten. Er war lange vor mir dran und hielt eine Rede, die sehr interessant war. Es gab riesige Proteste gegen ihn, also Buh-Chöre - gegen mich auch dann, aber aus anderen Gründen - und Pfeifkonzerte. Er hat das aber eigentlich mit einer sehr guten Haltung durchgestanden. Ich erinnere mich, vorher trafen wir uns in einem Café trafen, gleich am Alexanderplatz. Da begrüßte er mich, wir hatten uns persönlich nie kennengelernt, aber er legte Wert darauf, mich am 4. November kennenzulernen. Und er sah sich natürlich als den kommenden Mann da noch am 4. November.
- Kluge
- Wenn du sagst Caracalla? Wie sieht der Schabowski physisch aus, breit, schmal?
- Müller
- Es gibt so einen … was ich meine mit spätrömisch. So eine etwas weiche Unterpartie, so ein bißchen blasiert
- Kluge
- … wie ein amerikanischer Senator.
- Müller
- …und auch ein bißchen magenkrank. Die Augen sind auch ein bißchen apoplektisch, so eine Mischung aus Brutalität und Weichheit und Sentimentalität vielleicht sogar.
- Kluge
- Sensibilität sogar?
- Müller
- Sensibilität ist da auch, ja. Es ist durchaus kein Betongesicht.
- Kluge
- Wie kommt der da rein?
- Müller
- Der war wahrscheinlich einer der wenigen Intellektuellen im Politbüro. Er war vorher Chefredakteur im Neuen Deutschland, und das bedingte häufige Auslandsreisen auch in den Westen. Er war oft in Frankreich. Es war nicht so eng wie bei den anderen. Die anderen sind alle Handwerker von der Mentalität und von der Ausbildung her.
- Kluge
- Wenn du die politische mögliche Linie für diese wenigen Wochen, in denen Schabowski die Pressekonferenzen leitete, wenn du mal annimmst, er wäre der neue Mann. Was wäre seine Linie gewesen ungefähr?
- Müller
- Ich glaube, seine Linie wäre die von Gorbatschow gewesen. Jeden Tag um zehn fing die Probe an und ging bis zwei, und ab und zu gab’s noch Abendproben.
- Kluge
- Da sitzt du also im dunklen Theaterraum. Wann kommst du da mal raus?
- Müller
- Im Grunde nicht. Interessant war’s schon, gerade in der Probebühne. In der ganzen Probenzeit hörte man Polizeisirenen ab und zu und Hubschrauber. Alles die Geräusche, das hat auch sehr viel inspiriert für den Tonteppich der Aufführung.
- Kluge
- Und jetzt berichten dir deine Mitarbeiter, die Schauspieler erst einmal, was sie im Radio gehört haben, was die neuesten Nachrichten sind. Wird das dann diskutiert gleich?
- Müller
- Ja. Die Probe fing fast immer verspätet an dadurch.
- Kluge
- Waren da Forderungen, das jetzt umzusetzen künstlerisch in die Inszenierung? Oder arbeiteten die anschließend diszipliniert?
- Müller
- Keins von beidem. Sie haben oft Witze mit dem Text gemacht. Verdrehungen, die mit der Isolation zu tun hatten.
- Kluge
- Wie geht das? Etwas ist faul im Staate Dänemark?
- Müller
- Nein, z. B. eignet sich hervorragend so eine Stelle, wenn da ein Gentleman, nicht namentlich benannt bei Shakespeare, auftritt, und dem Claudius die Nachricht vom Volksaufstand bringt. Und sagt dann, die Menge schreit: Wir wählen. Das war ein ungeheurer Gag, diese zwei Worte: Wir wählen.
- Kluge
- Haben sie das jetzt betont und rausgearbeitet, oder was hat man da für einen Regie-Einfall?
- Müller
- Das wird dann ein obszöner Text. Wir wählen. Das macht der Schauspieler von sich aus natürlich. Das war ein politisch sehr interessierter Schauspieler, der nach wie vor auch noch in der PDS ist und da auch bleiben will. Und der hat natürlich dann auch ausgespielt diese Möglichkeiten, wenn er z. B. zitiert, das Volk schreit, Laertes soll König sein. Laertes König. Und dann überlegt er, ob es nicht doch besser ist, sich rechtzeitig von Claudius abzusetzen. Geht einmal nach da ab, kommt wieder, und guckt und geht wieder. Man versteht sofort, was er meint, daß er die Partei wechselt vorsichtshalber.
- Kluge
- Kannst du mir noch mal “Hamlet” in Erinnerung rufen? Also was ist die Handlung von Hamlet?
- Müller
- Der alte Hamlet ist gestorben unter etwas dunklen Umständen. Man weiß nicht so genau, was passiert ist und wie er gestorben ist. Es gibt Gerüchte oder Vermutungen. Sein Bruder heiratet die Witwe, wird damit der neue König, obwohl nach der Verfassung Hamlet der Thronfolger wäre. Hamlet ist aus Wittenberg gekommen zum Begräbnis und kommt auch gleich rechtzeitig zur Hochzeit. Dann erfährt Hamlet, daß sein Vater als Geist herumspukt, also offenbar irgendeine Information loswerden will. Dann kommt die Begegnung mit dem Geist des Vaters, und der Vater erzählt ihm, daß er vergiftet worden ist von Claudius. Und jetzt hat er das Problem, daß er in Wittenberg studiert hat, kann man einem Gespenst trauen?. Das kann ja irgendein teuflisches Machwerk sein. Da ist auch ein Riß, der nie ganz geklärt ist, so ein Durcheinander von protestantischen und katholischen Vorstellungen in dem Stück. Das spielt auch eine Rolle. Das Interessanteste ist eigentlich die Unklarheit im Stück. Es ist kein perfektes Stück. Es geht sehr durcheinander.
- Kluge
- Und wie endet das Stück?
- Müller
- Das Stück endet damit, daß der Claudius arrangiert hat ein Duell zwischen Laertes, der ja an sich den Volksaufstand gegen ihn in Gang gebracht hatte, den er aber umgedreht hat. Und dem Laertes hat er beigebracht, daß Hamlet den Polonius gekillt hat, also den Vater von Laertes, was auch stimmt. Er sorgt dafür, daß Laertes ein vergiftetes Schwert kriegt, sorgt noch dafür, daß auch ein vergifteter Wein da ist, ein Pokal mit vergiftetem Wein, damit es auf jeden Fall klappt, Hamlet umzubringen. Aber im Duell tauschen die dann natürlich ihre Schwerter oder Degen, so daß sie beide sterben, also Laertes und Hamlet. Und Hamlet dann im letzten Moment kann noch rund um sich töten, was er haßt. Wir haben das natürlich so gemacht, daß er fast alle auf der Bühne umbringt in einem blinden Massaker. Aber es ist kein Kalkül. Es gab vorher immer dieses Hin und Her um die Rache oder nicht Rache. Und das erste Mal, wo er etwas tut, ist es eigentlich was Blindes und was Unkalkuliertes. Es ist kein Plan mehr, es ist nur noch blinde Praxis.
- Kluge
- Und nun hast du da auch eigene Texte hineingearbeitet in kräftigem Maßstab?
- Müller
- Ja, Texte aus “Hamletmaschine”. Das ergab sich zum Teil aus Vorschlägen auch von den Schauspielern. Das hatte mit der Situation zu tun, z. B. er hatte das Bedürfnis ganz am Anfang, nach seinen ersten Texten, wo Claudius ihn anspricht: “Hängen noch die Wolken über Euch?” Also warum bist du so depressiv, wende dich dem Leben zu. Da hatte er den Vorschlag, seinen letzten Text zu sagen dazwischen, und zwar “Ich sterbe Horatio” bis “Der Rest ist Schweigen”. Also er spricht den Schlußtext im Anfang schon. Und dann kamen immer wieder Einschübe aus “Hamletmaschine” in bestimmten Szenen .
- Kluge
- Warum heißt das eigentlich “Hamletmaschine”?
- Müller
- Das war ganz simpel. Ich hab’ ein paar Shakespeare-Sachen übersetzt und bearbeitet, und das ist natürlich immer wieder ein Material und Thema gewesen. Gerade in Zeiten von nachlassender Inspiration ist es eine Bluttransfusion, mit Shakespeare sich zu beschäftigen. Ich hatte geplant diese Bände hier, die jetzt auch erschienen, “Shakespeare-Factory”, und da sollte im ersten Band die “Hamletmaschine” drin sein. Das sollte noch bei Suhrkamp erscheinen.
- Kluge
- Ach, sozusagen die Vorstellung einer Fabrik, in der die Dichtungen, die sich auch eh wiederholen
- Müller
- Ja, und ich hatte keinen Titel für den Text, und daraus kam dann automatisch der Titel “Hamletmaschine”, also als Teil dieser Factory, dieser Fabrik.
- Kluge
- Ist das so gemeint, daß diese “Hamletmaschine” - man könnte auch Ödipus-Maschine sagen \-, und man könnte die grundlegenden Dramen auf ewige Schleife legen…
- Müller
- Jaja, das sind Maschinen, an die man immer neue Maschinen anschließen kann, oder wo man immer neue Leute reinschicken kann. Von Anfang an habe ich, ohne genau zu wissen warum, oder ohne daß ich’s genau sagen konnte, wußte ich, daß Fortinbras nicht auftreten darf. Also ich hatte keine Besetzung für Fortinbras, das war erst einmal wirklich eine Verlegenheit. Ich wußte keinen Schauspieler, der mir geeignet schien dafür. Aber das ist ja auch die Hauptfrage an jede “Hamlet”-Inszenierung oder \-Interpretation: Wer ist Fortinbras, wofür steht Fortinbras?
- Kluge
- Der ist ja doch sehr kurz, er kommt zum Schluß mit seinen Truppen an.
- Müller
- Wenn Hamlet nach England fährt, trifft er ihn, und da ist er gerade unterwegs nach Polen. Und am Schluß kommt er abräumen, also der Konkursverwalter. Bei Shakespeare ging es ganz schlicht darum, die Leichen von der Bühne zu bringen, also einen Schluß zu haben, damit man das nächste machen kann. Aber es ist immer ein Problem die Bewertung dieser Fortinbras-Figur. Sehr häufig ist er mit einem Kind besetzt worden …,
- Kluge
- … um die Hoffnung darzustellen…
- Müller
- …aber er war immer militärisch. Und da wir keine Besetzung hatten, stand das automatisch im Zusammenhang natürlich auch mit den Ereignissen. Am Schluß kommt dann der Mann, der den Geist gespielt hat - der Geist ist im wesentlichen nackt bis auf ein paar Rüstungsteile - mit einer goldenen Maske in einem Maßanzug. Ganz simpel könnte man sagen, vorher war es Stalin, also die Vaterfigur, und am Schluß kommt die Deutsche Bank. Und der ruft den toten Hamlet ab und hält ihm eine goldene Tafel vor’s Gesicht. Und dann kommt ein Text, der nicht von mir ist und auch nicht von Shakespeare, den ich aber genau richtig fand in der Zeit: von Zbigniew Herbert. Das ist eine Rede von Fortinbras an den toten Hamlet. Also die Verabschiedung des Prinzips Hamlet zugunsten der freien Marktwirtschaft eigentlich. Es ist so direkt, wie man’s heute macht. So heißt es darin: Hamlet, du glaubtest an die Kristallbegriffe und - sinngemäß - du konntest nicht leben, du konntest nicht mehr richtig atmen. Aber ich muß ein neues Kanalisationsprojekt entwerfen, ich muß neue Gesetze machen für die Prostituierten und Bettler, usw. Das war eine neue Ordnung der Gesellschaft. Das kommt natürlich aus der polnischen Erfahrung, also aus einer osteuropäischen Erfahrung, dieser Text. Und Hamlet eben, der Intellektuelle, der Ideen hatte … Das habe ich dir sicher mal erzählt, das hat mir sehr gefallen, in München am Gebäude der Deutschen Bank, dieser brutale Spruch: Aus Ideen werden Märkte.
- Kluge
- Steht das da dran?
- Müller
- Das steht da dran, ja. Das ist eine der brutalsten Formulierungen, die ich gelesen habe in der Richtung.
- Kluge
- Was heißt Kristallbegriffe?
- Müller
- Na, es ist so eine poetische Formulierung für Idealvorstellungen von Realitäten, also würde ich annehmen, Ansprüche an die Realität zu machen, die dann nicht einlösbar sind.
- Kluge
- Wenn du Interviews führst, hast du eine bestimmte Technik? Wie verhältst du dich eigentlich in Interviews?
- Müller
- Ich bin da wahrscheinlich viel zu sehr Schauspieler und deswegen ungeheuer abhängig von dem Interviewpartner, also von dem, der mich fragt, und da gibt’s eben Leute, wo ich völlig mechanisch werde oder keine Lust habe. Das Schlimmste dabei ist die ewige Wiederholung der Fragen vom gleichen Typ.
- Kluge
- Sag mal ein Beispiel, was du so gefragt wirst.
- Müller
- Ja, Herr Müller, wie stehen Sie zur Revolution in der DDR? Wie stehen Sie zur Wiedervereinigung? Wie stehen Sie zur Währungsunion, oder wie haben Sie als Privilegierter diese DDR-Zeit erfahren und was meinen Sie dazu, Sie konnten reisen, Sie konnten ja immer reisen, Sie hatten Privilegien, die anderen Menschen konnten das nicht, und wie haben Sie das erfahren, wie haben Sie das empfunden oder solche Geschichten. Also eigentlich so Voyeurfragen. Und ganz verschiedene, das hängt von der Stimmung ab. Oder vom Partner. Es ist ganz schwer, das ernst zu nehmen. Ich meine, du kannst mich ja fragen, dann kann ich dir antworten, das ist wieder ganz etwas anderes.
- Kluge
- Wie stehst du zu der Revolution in der DDR?
- Müller
- Mir war doch ziemlich früh klar, wenn gesagt wird: “Wir sind das Volk”, dann wird daraus sehr schnell: “Wir sind ein Volk”, und daraus wird dann genauso schnell: “Du sollst keine anderen Völker haben neben mir”. Und da habe ich sehr gut verstanden, warum der Brecht so mißtrauisch war gegen das Wort Volk.
- Kluge
- Der sagt doch nie “Volk”.
- Müller
- Der hat nie Volk gesagt, nur Bevölkerung. Andererseits kannst du keine Massen bewegen mit dem Spruch: “Wir sind die Bevölkerung”. Das ist ja das Schlimme. Deswegen habe ich grundsätzlich einen Verdacht gegen Massenbewegungen. Aber das kommt schon aus meiner Kindheit. Du fragst nach Alexanderplatz. Du stehst da oben und sprichst zu 500 000 Menschen, und du kennst vielleicht hundert von denen. Mit dem Rest hast du eigentlich nichts zu tun. Das ist eine völlig abstrakte Situation.
- Kluge
- Man stellt Vermutungen an?
- Müller
- Ja, vielleicht nicht mal. Da merkt man das Problem von Politikern. Daß die zu tun haben mit Fremden, mit fremden Massen.
- Kluge
- Und dies wiederum steigert sich in dem Moment, in dem sie nicht den Alexanderplatz vor sich haben. Denn auch für sie ist das ein seltenes Ereignis, sondern das Fernsehen.
- Müller
- Genau. Da fällt mir wiederum ein Text von Ernst Jünger ein, entschuldige, aber der ist wirklich interessant. In “Gärten und Straßen”, glaube ich, dem Kriegstagebuch aus Frankreich, beschreibt er, wie er an der Spitze seiner Kompanie oder was immer auf eine Schlacht zu reitet. Man sieht die Schlacht, man hört die Schlacht, und sie sieht schon ziemlich gewaltig aus und hört sich gewaltig an und sehr gefährlich. Aber er denkt die ganze Zeit überhaupt nicht an die Schlacht, sondern nur an einen Artikel im “Völkischen Beobachter”, wo etwas Negatives über ihn drinstand. Und dann beschreibt er die Differenz zwischen Mut im Krieg und Mut im Bürgerkrieg. Mut im Krieg ist eine Frage der Ausbildung, Mut im Bürgerkrieg ist was ungeheuer Seltenes und an die Person gebunden.
- Kluge
- Was hast du jetzt vorgetragen konkret? Du hast also ein Papier vorgetragen, das dir im Café vorher überreicht worden war? Hast dich also zum Boten gemacht?
- Müller
- Jaja, klar.
- Kluge
- Du wurdest auch nicht angekündigt. Du wurdest auch für einen Boten nur gehalten?
- Müller
- Das war ein technischer Lapsus, weil ich bin einfach dahin gegangen bin, bevor der mich ankündigen konnte. Das habe ich verpatzt. Ich wurde dann für einen Boten gehalten.
- Kluge
- Nun entspricht das dem Niveau deiner Botschaft.
- Müller
- Jaja, das ist okay. Ich fand das auch völlig in Ordnung, daß ich nicht als Person genommen wurde von den meisten.
- Kluge
- Du hast eine Basisgruppe vertreten, die keine Chancen für Mehrheiten in der DDR hatte.
- Müller
- Vor allem, weil wichtig war an der ganzen Geschichte, an der ganzen Bewegung, daß die Sprachlosen sprechen, und nicht, daß die Sprecher der Nation jetzt für die Sprachlosen reden. Das war der große Irrtum der Intellektuellen, wie so oft, daß sie sich wieder zum Sprachrohr des Zeitgeistes machen müßten. Und das geht nicht mehr. Diese Rolle ist vorbei.
- Kluge
- Wie sieht das genau genommen aus? Ist das ein Abend oder ist das nachmittags gewesen am Alexanderplatz?
- Müller
- Das war ein Vormittag, ein Sonntagvormittag. Und es dauerte acht Stunden, und man mußte lange warten.
- Kluge
- Sind da Musikkapellen dabei?
- Müller
- Nein, nein, keine Musik, nur die Reden.
- Kluge
- Und die Menschen harren acht Stunden aus?
- Müller
- Ja, aber damals gab es noch eine wirkliche Hoffnung, das war die Motivation der Leute, auf eine andere DDR, also auf eine Alternative zur Bundesrepublik. Das war der Basiskonsens für die meisten.
- Kluge
- Und wo sind die Pissoirs?
- Müller
- Es gibt in jedem U-Bahnschacht welche, da gibt’s zwei oder drei U-Bahn-Eingänge, es gibt Hotels am Alexanderplatz…
- Kluge
- Das sind eine Menge Menschen.
- Müller
- Also das war kein Problem.
- Kluge
- Wer eröffnet diese Veranstaltung?
- Müller
- Die erste Rede war die eines Schauspielers. Das ist Ulrich Mühe, der den Hamlet spielt bei mir jetzt. Der war insofern der richtige für den Anfang, weil er hatte im Deutschen Theater eine Lesung gemacht aus dem Buch von Janka.
- Kluge
- Und jetzt kommen Dichter?
- Müller
- Ja, gut, die freuen sich alle über das Volk und über den Aufbruch und das alles. Das war eigentlich sehr traurig schon, weil es war schon abzusehen, was daraus wird.
- Kluge
- Wie kommt es eigentlich, daß man von der Dichtkunst irgendwelche politische Aufklärung erwartet?
- Müller
- Das ist die linke Illusion, glaube ich, der letzten Jahrzehnte der europäischen Intellektuellen oder besonders Literaten, daß es eine Interessengemeinschaft von Kunst und Politik geben könnte und sollte. Kunst ist letztlich nicht kontrollierbar. Oder kann sich ständig der Kontrolle entziehen. Und deswegen war sie fast automatisch subversiv in so einer Struktur.
- Kluge
- Das ist sie übrigens wirklich. Subversiv ist sie immer gewesen, ob sie progressiv ist oder nicht …
- Müller
- Sie gibt natürlich ihre subversive Qualität auf, sobald sie versucht, unmittelbar politisch zu werden, das ist das Problem. Und das war der allgemeine Fehler, das war die Falle.
- Kluge
- Und wer spricht jetzt?
- Müller
- Wer hat da alles gesprochen? Christoph Hein z. B., Christa Wolf, Stefan Heym. Christoph Hein hat da vorgeschlagen bei dieser Demonstration, die Stadt Leipzig Heldenstadt zu nennen. Das hat er inzwischen sehr bereut.
- Kluge
- Wie sieht der Himmel aus?
- Müller
- Der Himmel war, glaube ich, eher blau. Und weniger grau als sonst. Aber ich meine, ich kann es eigentilich nur von mir aus beschreiben. Es gibt einen Punkt, deswegen sprach ich von Mut im Krieg, Mut im Bürgerkrieg: dieser halbwache, halluzinatorische Zustand wie im Krieg, der ist da nicht. Man sieht ja Teile dieser Masse, man sieht Transparente. Ich habe jedenfalls sehr stark empfunden die Unmöglichkeit, mit 500 000 Menschen zu reden. Ich kann nicht gleichzeitig mit 500 000 Menschen reden. Das war eher das Gefühl, das ist nicht mein Volk. Ich war fast erleichtert, als die gebuht und gepfiffen haben bei bestimmten Sätzen. Es war klar, daß das auch organisiert war. Da war ein Staatssicherheitsblock auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ein - vielleicht - Arbeiterblock. Da gab es verschiedene Reaktionen. Man erschrickt natürlich erst mal, wenn von 500 000 vielleicht 20 000 “Buh” rufen, aber dann macht es auch plötzlich Spaß, dann wird es wieder Krieg, dann ist es gut. Und überhaupt, das Kriegerische ist eine Grundfrage in allen gesellschaftlichen Begegnungen und Verhältnissen. Und da müßte man vielleicht irgendwann mal darüber nachdenken.
- Kluge
- Was ist Krieg?
- Müller
- Daß der Krieg eigentlich nicht aufgehört hat.
- Kluge
- Aber was ist Krieg?
- Müller
- Es gibt in der “Wolokolamsker Chaussee” diesen Satz: “In meinem Kopf der Krieg hört nicht mehr auf.” Wenn man ihn einmal erlebt hat, hört er nicht mehr auf." Ein Krieg ist zunächst mal ein Interessenkonflikt. Und es war für mich völlig klar, daß ich da als ein Mensch stehe, der die letzten DDR-Jahrzehnte als Privilegierter erlebt und erfahren hat. Und ich weiß genau, die Mehrheit dieser Leute da unten hat überhaupt keinen Grund hat, mich sympathisch zu finden, weil ich ihnen etwas voraus hatte für Jahrzehnte, was sie an diesem 4. November noch nicht hatten. Das hatten sie erst am 9., die Möglichkeit, wie man so im Volksmund sagt, den Westen zu sehen. Das ist eine stehende Wendung.
- Kluge
- Wie sieht so etwas visuell aus, so eine Menschenmasse, die in der Ferne verschwindet und die Gebäude verdeckt.
- Müller
- Das kriegt natürlich was Tierisches.
- Kluge
- Wie eine Wiese?
- Müller
- Es ist keine Wiese, nee, es ist eher ein Tier, etwas, was so ein paar Wellen und Atembewegungen hat.
- Kluge
- Ist das Tier mächtig?
- Müller
- Na, das ist die eine Seite vielleicht, aber der andere Aspekt ist, daß du natürlich ein Machtgefühl kriegst mit so einer Tonanlage und daß es dann eine Konfrontation wird, wenn diese Menge mit ihrem Originalton gegen dich reagiert, und du hast diesen elektronisch verstärkten Ton. Das ist sogar ein Spiel. Da verstehe ich jetzt sehr gut diesen Größenwahn von Popsängern. Da ist schon was dran, wenn du so ein Instrument hast, mit dem du Massen überschwemmen kannst.
- Kluge
- Hast du je aufgrund von Nachrichten eine Geschichte geschrieben?
- Müller
- Ich glaube nie. Nein. Aber was ich meine ist, Kunst entsteht eigentlich nur aus dem Einverständnis. Das ist dieser Horkheimer-Punkt. Aus Polemik entsteht überhaupt keine Kunst.
- Kluge
- Nein. Auch aus Abgrenzung nicht.
- Müller
- Nein, auch aus Abgrenzung nicht. Du mußt einverstanden sein auch mit der Gewalt, mit der Grausamkeit, damit du sie beschreiben kannst. Was dann andere damit machen, und daraus für sich machen, ist eine ganz andere Frage. Aber ohne das Einverständnis auch mit der Brutalität, auch mit Gewalt, kannst du sie nicht beschreiben. Das ist sicher ein Problem, worüber man reden oder streiten kann: ob Kunst überhaupt human ist. Sie ist es nicht. Sie hat nichts damit zu tun.
- Kluge
- Wie würdest du den Ausdruck human auflösen, wenn du da mehrere Worte zu sagen würdest?
- Müller
- Human wäre z. B., wenn man in einem solchen Fall Rücksicht nimmt auf die Interessen der Leute, die hier zu Kunst verarbeitet werden. Das wäre vielleicht human, aber es wäre vom Macher her unmoralisch.
- Kluge
- Weil es nicht mehr authentisch ist? Also ich habe die Sentimentalität etwas gemildert und da habe ich mich wie der liebe Gott verhalten.
- Müller
- Genau. Und dann habe ich gelogen, und ich habe etwas unterlassen, was nur ich in dem Kontext machen kann. Auch wenn ich mich selbst dagegen sträube, manchmal gegen Texte, gegen Sätze, die ich furchtbar finde, aber ich muß sie hinschreiben, wenn sie mir einfallen.
- Kluge
- Nun hast du einen einmal Satz gesagt: Was spricht eigentlich gegen Auschwitz, wenn es machbar ist?
- Müller
- Ja, ja. Das ganze Problem unserer Zivilisation ist, eine Alternative zu Auschwitz zu entwickeln, und es gibt keine. Es gibt kein Argument gegen Auschwitz. Also wenn du mal Auschwitz nimmst als die - ja, Metapher ist ein sehr barbarisches Wort \-, aber die Realität der Selektion. Und Selektion ist das Prinzip der Politik global. Es gibt noch keine Alternative zu Auschwitz. Man kann das variieren, mildern, differenzieren, was immer.
- Kluge
- Man kann sich vornehmen, daß es niemals geschehen werde. Es wird auf diese Weise genau an der unbeabsichtigten Stelle geschehen. Liegt da bei dir jetzt die Betonung, wenn du singst, auf “machbar”? Daß du also den Begriff der Machbarkeit herausstellst, die ja der Gentechnologie, der Tschernobyl zugrunde liegt, die der Apartheidspolitik in Südafrika zugrunde liegt, die in den verborgenen Strömungen, die noch irgend etwas erfinden werden … also der Schoß ist fruchtbar noch?
- Müller
- Ich meine einfach, daß alles, was denkbar ist, ist machbar. Und alles, was machbar ist, wird gemacht. Auf irgendeine Weise, irgendwann, von irgendwem.
- Kluge
- Das mußt du jetzt in einen Satz kleiden, der unverdaulich ist. Denn sonst ist es ein Verrat.
- Müller
- Ja, ja, ja.
- Kluge
- Und dies ist genau das, was eine plurale Gesellschaft nicht aushält. Sie fordert die Sentimentalisierung, so wie sie die Industrialisierung vertritt, und so wie sie den Volkskrieg macht.
- Müller
- Ich habe in der letzten Zeit oft darüber gesprochen, aber sehr unqualifiziert eigentlich. Wie günstig für’s Theater z.B. diese Folie von Diktatur war in der DDR. Nun ist es für mich eine doppelte Folie: Ich bin aufgewachsen in einer Diktatur, hineingewachsen in die andere und konnte über mein Rachebedürfnis für meine einigermaßen demolierte Kindheit mich mit der zweiten eine Zeitlang identifizieren, obwohl ich alles über sie wußte. Das war ein ganz primitiver Racheimpuls.
- Kluge
- Rache-Szenario.
- Müller
- Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist das so ein Vorgang: du hast eine Wand, die ist undurchdringlich, dieses Gefühl, man kann eigentlich nichts machen. Dadurch prallst du dauernd daran ab und kriegst eine Geschwindigkeit in der eigenen Arbeit durch das Abprallen. Du wirst dann irgendwie zu einem Geschoß. Die Texte werden Munition. Und das Geschütz oder das Gewehr, aus dem diese Munition abgeschossen wird, bist du nicht. Das ist das Publikum. Könnte man sagen, ja. Aber das hat voriges Jahr auch schon stattgefunden und vielleicht vor zehn Jahren. Es findet immer statt. Aber sicher nie so oder selten so manifest wie im Augenblick hier.
- Tafel
- Ausschnitt aus einem Film des Berliner Dokumentarfilmers Gregor über Proben zu “Hamletmaschine”:
- Schauspieler
- Mein Drama, wenn es noch stattfinden würde, fände in der Zeit des Aufstands statt. Der Aufstand beginnt als Spaziergang. Gegen die Verkehrsordnung während der Arbeitszeit. Die Straße gehört den Fußgängern. Hier und da wird ein Auto umgeworfen. Langsame Fahrt durch eine Einbahnstraße auf einen unwiderruflichen Parkplatz zu, der von bewaffneten Fußgängern umstellt ist. Polizisten, wenn sie im Weg stehn, werden an den Straßenrand gespült. Wenn der Zug sich dem Regierungsviertel nähert, kommt er an einem Polizeikordon zum Stehen. Gruppen bilden sich, aus denen Redner aufsteigen. Auf dem Balkon eines Regierungsgebäudes erscheint ein Mann mit schlecht sitzendem Frack und beginnt ebenfalls zu reden. Wenn ihn der erste Stein trifft, zieht auch er sich hinter die Flügeltür aus Panzerglas zurück. Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung.
- Müller
- [aus der Rede auf dem Alexanderplatz am 4.11.89] Wir dürfen uns nicht mehr organisieren lassen …
- Schauspieler
- Man beginnt die Polizisten zu entwaffnen, …
- Müller
- Wir müssen uns selbst organisieren …
- Schauspieler
- …stürmt zwei drei Gebäude,
- Müller
- Die Preise werden steigen, die Löhne kaum.
- Schauspieler
- … ein Gefängnis eine Polizeistation ein Büro der Geheimpolizei,
- Müller
- Die Daumenschrauben sollen angezogen werden.
- Schauspieler
- … hängt ein Dutzend Handlanger der Macht an den Füßen auf,
- Müller
- Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken.
- Schauspieler
- …die Regierung setzt Truppen ein, Panzer. Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber. Ich stehe im Schweißgeruch der Menge und werfe Steine auf Polizisten Soldaten Panzer Panzerglas. Ich blicke durch die Flügeltür aus Panzerglas auf die andrängende Menge und rieche meinen Angstschweiß. Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust gegen mich, der hinter dem Panzerglas steht. Ich sehe, geschüttelt von Furcht und Verachtung, in der andrängenden Menge mich, Schaum vor meinem Mund, meine Faust gegen mich schütteln. Ich hänge mein uniformiertes Fleisch an den Füßen auf. Ich bin der Soldat im Panzerturm, mein Kopf ist leer unter dem Helm, ich bin der erstickte Schrei unter den Ketten. Ich bin die Schreibmaschine. Ich knüpfe die Schlinge, wenn die Rädelsführer aufgehängt werden, ziehe den Schemel weg, breche mein Genick.
- Kluge
- Du schreibst einmal “Panzerzug der Revolution”, als Metapher. Was ist das? Was siehst du dabei?
- Müller
- Na, es ist das gleiche, nur vielleicht mit einer Differenz. Die Geschwindigkeit würde ich da abstreichen, der Panzerzug ist langsam.
- Kluge
- Weil es Eisenbahn ist, die wird an jeder Weiche angehalten.
- Müller
- Aber sonst, Schutz und Gefängnis stimmt. Es ist Gefängnis als Schutz und der Schutz als Gefängnis. Da fällt mir ein anderer Punkt ein, was mich sehr interessiert in der letzten Zeit: das Problem, das Verhältnis zwischen Verlangsamung und Beschleunigung. Man kann ja das, was jetzt weggefallen ist, also der Eiserne Vorhang, alles was dafür steht, die Mauer, das war ja auch ein Instrument der Verlangsamung eines historischen Prozesses. Und Stalin so als der letzte Bremser, und Hitler der große Beschleuniger.
- Kluge
- \- Oder auch Bremser, man weiß es nicht genau.
- Müller
- Na, ich würde ihn jetzt doch eher als Beschleuniger sehen.
- Kluge
- Als was bezeichnest du eigentlich das, was sich im Oktober, vor allem im November abgespielt hat? War das - in der FAZ stand es öfter - das Wort Revolution? Ich habe gehört einen Vergleich mit dem “Thermidor”, der Beendigung einer Revolution.
- Müller
- In der letzten Zeit hat mich das gerade beschäftigt. Es gibt diese tradierte Vorstellung von Revolution als Beschleunigungsmoment. Vielleicht stimmt das gar nicht, vielleicht geht’s immer um Zeit anhalten, um Verlangsamung.
- Kluge
- Bei den Bauernkriegen, die du vorhin nanntest, ist es Verlangsamung.
- Müller
- In der Commune ging’s auch um Verlangsamung.
- Kluge
- Das alte Recht soll wieder hergestellt werden.
- Müller
- Das Auf-die-Uhren-Schießen z. B., Zeit anhalten. Und die Zeit anhalten heißt ja auch Zeit gewinnen und heißt den Untergang aufhalten und das Ende aufhalten oder verzögern.
- Kluge
- Was ja das Leben tut. In dem Sinne ist das ganze Leben ein einziger Bremsvorgang. Eine Energiefalle, die alle Vorgänge langsam macht, auf unserem schönen blauen Planeten.