Die Stimme des Dramatikers
Transkript: Die Stimme des Dramatikers
- Textband
- Heiner Müller erhielt kürzlich den höchsten Dramatikerpreis Europas / Die Stimme des Dramatikers klingt verkrächzt / Folge einer lebensrettenden Radikaloperation, die eines der Stimmbänder lähmte / Die Texte, um die es in unserem Magazin geht, sind am Tage vor und nach der Operation geschrieben -
- Tafel
- DIE STIMME DES DRAMATIKERS Postoperative Texte von Heiner Müller
- Kluge
- Ich habe mal durchgezählt, also was du da an Anspielungen hast aus der Antike, daß eigentlich immer alle ernsten Momente haben griechische Namen bei dir.
- Müller
- Wobei interessant fand ich unter anderem jetzt im Krankenhaus - du erinnerst dich an das Motto von dem Gedicht, das ist so ein Spruch aus den 70er Jahren der DDR, glaube ich.
- Kluge
- Babypille fauler Zauber, Ajax macht das Becken sauber.
- Müller
- Hält das Becken sauber. Das war so ein DDR-Spruch. Und interessant finde ich überhaupt - ein normaler 10-jähriger oder 14-jähriger kennt das Wort Ajax, aber natürlich nur das Putzmittel. Im Krankenhaus kriegte ich so ein Granulat zu jedem Essen, zur Produktion von Enzymen, also Unterstützung von Magensekretion. Das heißt “Kreon”. Das gehört irgendwie zu unserer etwas perversen Zivilisation, daß man diese antiken Begriffe und Namen …
- Tafel
- Kreon von Theben, der Antigone umbrachte -
- Kluge
- Sie haben ein zähes Überleben, auf diese Weise.
- Müller
- …auf diese Weise verwendet.
- Kluge
- Also, als Markenzeichen. Und wenn jetzt, sagen wir mal du beschreibst: … Ajax, gibt’s zwei, den kleinen Ajax und den großen Ajax. Was macht Ajax?
- Müller
- Na, das Wesentliche war eigentlich, daß er betrogen wurde um einen Kampfpreis, der ihm versprochen war.
- Kluge
- Hektors… - Achilles’ Tod.
- Müller
- Achilles’ Tod. Und es gab eine …
- Kluge
- Man hat die Leiche herbeigezogen und dabei jede Menge Trojaner umgebracht. Eigentlich ist Troja deswegen gefallen, weil sie den Achill rächen. Und jetzt ist Streit um die Beute.
- Müller
- Es gab eine Art Ausschreibung, einen Wettbewerb, wer die Waffen und die Rüstung von Achilles …
- Kluge
- Sklavinnen …
- Müller
- …und die Leiche zurückholt, aus dem Trojanerpulk, der kriegt die Waffen und die Rüstung. Und Ajax hat das gemacht. Ajax war der Berufsschläger in der Armee.
- Tafel
- Ajax, ein Berufsschläger
- Kluge
- Der große Ajax \–noch.
- Müller
- Dazu gehört auch die Dummheit, und der hat das gemacht. Aber Odysseus …
- Tafel
- Odysseus, der Sitzriese -
- Kluge
- Nimmt es in Anspruch.
- Müller
- Nimmt es in Anspruch. Und kann gut reden, Odysseus war ein Sitzriese, wie du weißt. Und er wurde also betrogen um diesen Preis.
- Kluge
- Und die Trojaner, also gefangene Feinde als Schiedsrichter, was ja auch eine Unverschämtheit ist.
- Müller
- Und der Ajax hat dann im Rausch - er hat sich betrunken - und hat nachts angefangen, die Griechen zu massakrieren, wie er glaubte.
- Kluge
- Einer gegen alle. Er schlägt einen Griechen …
- Müller
- Es war aber nur das Beutevieh. Schafe, Kühe, usw.
- Kluge
- Wacht auf aus der Bewußtseinsnarkose, gewissermaßen. Und hat - mitten in einer Schafherde hat er Schafe umgebracht \–wie Don Quijotte
- Müller
- Wacht auf mit dem Blut der Tiere…
- Kluge
- Schämt sich?
- Müller
- Und alle lachen über ihn, und er schämt sich und geht sich umbringen.
- Kluge
- Am Strand.
- Müller
- Am Strand.
- Kluge
- Stürzt sich ins Schwert, eigentlich wie ein Römer.
- Müller
- Was nicht so leicht ist. Das wird auch sehr gut beschrieben da. Die Schwierigkeit, das Schwert zu befestigen im Boden. Nun war das offenbar auch Sandboden an der Küste, sehr schwer.
- Kluge
- Der wilde Mann überlebt als Putzmittel.
- Müller
- Ja, ja.
- Kluge
- Jetzt hast du auch Polydor hier drin. Das ist eine Schallplattenfirma inzwischen.
- Tafel
- Der jung ermordete Polydor
- Kluge
- Auch aus dem Trojanischen Krieg.
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Ein spätgeborener, nachgeborener Sohn von Priamos und Hekuba.
- Tafel
- Letzter Sohn des Königs von Troja
- Kluge
- Und die bringen - dieses alternde Königspaar, das Troja beherrscht - bringt diesen spätgeborenen Lieblingssohn in Sicherheit. Zu Polymestor nach Kleinasien. Und dieser Betrüger will die Schätze haben, die dem Kind mitgegeben sind. Und tötet es und schmeißt den Leichnam ins Meer. Dort findet ihn die Mutter. Nach Trojas Niederlage.
- Müller
- Interessant fand ich eine Fortsetzung dieser Geschichte, daß die Hekuba beschwert sich bei, ich glaube sogar bei Poseidon, über diese Tötung ihres Sohnes oder noch mehrerer Söhne, es waren mehrere, und der gewährt ihr quasi als Wiedergutmachung ein merkwürdiges Schauspiel, nämlich eine Schlacht von Vögeln, die sie sehen könnte.
- Kluge
- Vögelschwärme, die einander ausrotten.
- Müller
- Vögelschwärme, die einander ausrotten.
- Kluge
- Sozusagen als Fernsehspiel, was da passiert ist.
- Müller
- Ja. Er schenkte ihr einen Fernseher. Das ist völlig unerklärbar, eigentlich, die Geschichte. Ganz merkwürdige Metapher.
- Kluge
- Diese Frau tötet ja, als sie ihren Sohn am Strand gefunden hat, den Polydor, stellt den Mörder, blendet ihn, tötet dessen Kinder, und als sie jetzt gefunden wird von den Umstehenden, kann sie nur noch bellen wie ein Hund.
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Und das ist eine Schallplattenfirma. Du spricht davon, in unwirklicher Hauptstadt lebst du.
- Tafel
- “BERLIN, Hauptstadt der Unwirklichkeit”
- Kluge
- Wieso ist Berlin unwirklich?
- Müller
- Es ist die Hauptstadt, die erklärte Hauptstadt …
- Kluge
- …der Unwirklichkeit.
- Müller
- …aber es ist keine wirkliche Hauptstadt. Sie hat noch keine Wirklichkeiten. Nicht nur weil die Regierung nicht da ist, aber das auch, das spielt natürlich auch eine Rolle. Aber es gibt auch ein Zögern immer noch davor, diese Hauptstadt als Hauptstadt zu empfinden, zu etablieren. Es gibt eine Angst davor, glaube ich. Es gibt wahrscheinlich eine Angst auch vor dem Mythos Berlin. Berlin ist die Hauptstadt \–die wirkliche Hauptstadt \–gewesen immer im Zusammenhang mit Eroberungskriegen.
- Kluge
- ‘70 / ‘71, 1914 …
- Müller
- ‘70, ‘71, 1914, 1939 …
- Kluge
- Die Hauptstadt der großen Niederlage?
- Müller
- Und dann die Hauptstadt der Katastrophe, also der Niederlage. Und da gibt’s eine Hemmung, glaube ich.
- Kluge
- …die Hauptstadt der DDR…
- Müller
- Ich fand interessant, der Joseph Brodsky, als er in Berlin war, ich glaube das erste Mal, vor ein paar Jahren, sagte er, das ist ihm ganz unheimlich, zu Fuß zu gehen in Berlin, da unten sind alle Toten, dieser Untergrund ist ganz unsicher und schwankend, hatte ein ganz unheimliches Gefühl, wenn er durch Berlin ging. Und Angst vor dem, was drunter ist, gerade in der Mitte, ja, ja.
- Kluge
- Und da gibt es ja noch immer die Keller der Reichskanzlei. Und da gibt es am Potsdamer Platz nichts zu sehen, aber doch sozusagen eine Mitte, in der so viel begraben liegt, und Unterbuddeltes.
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Und wenn du mir mal jetzt beschreibst: Hauptstadt war es ja 1945 noch im April, wenn Hitler Selbstmord begeht, es ist eine Reichhauptstadt, was immer das ist. Und danach ist es zunächst mal Besatzungsmachtstadt. Es gibt jetzt also Hinweise darauf, daß der Hitler aber nicht dort begraben liegt oder lag und verbrannt wurde. Was gibt es da darüber? Was weiß man da drüber?
- Müller
- Du, ich weiß nichts darüber außer das, was wir gerade gelesen haben, so eine Notiz aus Moskau.
- Kluge
- Im Zweikampf Stalin/Hitler.
- Müller
- Ja, aus den Stalin-Archiven. Und es kommt einem vor, also die Obsession von Stalin, die Leiche von Hitler dingfest zumachen, also genau zu wissen, daß er tot ist.
- Kluge
- Du sagtest, am liebsten wollte er ihn in einem Rattenkäfig durch Moskau fahren oder bzw. das ist die Angst Hitlers.
- Müller
- Ja, das war eine Drohung von Stalin. Nach dem Sieg wollte er, daß Hitler in einem Rattenkäfig in einer Siegesparade durch Moskau gezogen wird. Das war eine Angst von Hitler, da hat er auch drüber gesprochen, gibt es jedenfalls ein paar Berichte darüber. Und dann ist auch grotesk, daß der letzte SS-Offizier, der glaube ich das Benzin beschafft hat für die Verbrennung …
- Kluge
- … der Reichskanzlei …
- Müller
- … ja, der hieß Rattenhuber.
- Tafel
- “Hitler und Stalin belauern einander wie Kannibalen”
- Müller
- Aber interessant ist schon die Beziehung dieser beiden, also Stalin und Hitler, das ist eine Liebesbeziehung. Und so wie zwei Kannibalen, wo der eine immer Angst hat, daß der andere ihn frißt. Also muß der andere eher tot sein, damit er ihn nicht fressen kann.
- Kluge
- Wenn du dir vorstellst, du bist sechs Jahre oder acht Jahre. Wie hast du Hitler wahrgenommen?
- Müller
- Als ich sechs Jahre alt war, wenn wir bei dieser Zahl bleiben wollen, das war ‘35. Da hatte mein Vater mitgebracht mal einen \–wie heißen diese …
- Kluge
- …diese kleinen Büchlein?
- Müller
- Bücher zum Blättern …
- Kluge
- Erbauer der Reichsautobahn …
- Müller
- Ja, ja.
- Kluge
- Kleine Fotoheftchen.
- Müller
- Hast du so was mal gesehen?
- Kluge
- Natürlich. Ich habe sie gesammelt.
- Müller
- Ich habe sie nie wiedergesehen. Es würde mich interessieren. Mein Vater brachte eins mit, wie nennt man die noch …
- Kluge
- Eine Leporellosetzung?
- Müller
- Eine Leporellosetzung zum Blättern.
- Kluge
- Zusammengebunden wie winzige Bücher.
- Müller
- Genau. Mit den Rednerposen von Hitler.
- KLuge
- Oder dem ersten Spatenstich.
- Müller
- Der Chaplin-Effekt, der dadurch entstand, durch das schnelle Blättern.
- Kluge
- Oder daß er wenig ißt. Daß er also nur einfache Wurst, Brot und ein Bier, also sozusagen die Sparsamkeit des Führers.
- Müller
- Das hat mich nie interessiert. Ich habe ihn immer gesehen in diesem kleinen Leporello.
- Tafel
- Was ist “landloser Wind”?
- Kluge
- Was ist landloser Wind?
- Müller
- Ja, ganz primitiv: Grenzen gelten nicht für das Wetter. Jedenfalls keine politischen Grenzen, keine geographischen…
- Kluge
- Der Wind versteht es nicht. Er kommt von Osten, über Ostberlin, und bringt chemischen Atem.
- Müller
- Ja, er weht, wo er will.
- Kluge
- Er weht, wo er will.
- Müller
- Wohin er will, ja.
- Tafel
- Häufung von Information auf kleinstem Raum
- Müller
- Ja, das ist ein bißchen ein Vorgang oder so ein Prozeß, der zu tun hat, glaube ich, mit dem Weg auf die Krankheit zu. Einfach ein Bedürfnis, noch alles zu sagen. Und wenn es sein muß, auch in Kurzform.
- Kluge
- Du hast also gar nicht verdrängt. Du wußtest, daß du krank bist?
- Müller
- Du, ich wußte es nicht mit dem Kopf, aber ich habe zum Beispiel, als ich das erste Mal merkte, daß ich nichts mehr essen kann, habe ich zu meinem Assistenten gesagt, ich glaube, ich brauche eine neue Speiseröhre. Das war ganz intuitiv. Es war mir eigentlich ziemlich klar, daß es auf so was zugeht.
- Kluge
- Du bist aber erst mal weggereist, ja?
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Das Ganze hat sich verschlechtert dadurch, daß du also dich von jeder ärztlichen oder diagnostischen Möglichkeit entfernt hast.
- Müller
- Die erste Diagnose war einfach falsch, ganz simpel.
- Tafel
- “Die Geschichte tanzt Tango \–”
- Kluge
- Du sagst, die Geschichte tanzt Tango. Tango ist ja ein Schleichtanz.
- Müller
- Nein, nein, ein Tanz, der vor\- und zurückgeht. Und der eigentlich Bewegung vortäuscht. Aber das Zentrum bleibt gleich.
- Kluge
- Was dich sehr beschäftigt, ist offenkundig, wie du angetreten bist in den fünfziger Jahren, inmitten eines Hoffnungshorizonts. Du sagst, also, das ist die Zeit der Blankverse, die Zeit der Knittelreime. In denen man auch etwas verstecken kann. Was hast du für einen Blankvers damals gedichtet? Sag mir mal einen Blankvers. Was ist ein Blankvers?
- Müller
- Philoktet zum Beispiel ist Blankvers.
- Kluge
- Was ist ein Blankvers?
- Müller
- “O Meer. O Himmel. O blickloser Stein.” ist ein Blankvers.
- Kluge
- Sozusagen die Enden für einen Akt.
- Müller
- Ja, na ja, der Blankvers hat den Vorteil, daß er sehr einem Körperrhythmus entspricht, glaube ich. Eine Länge mehr ist schon nicht mehr körperlich, im Deutschen jedenfalls.
- Tafel
- Bauernkriege
- Kluge
- Du hast hier geschrieben, Bauernkriege, größtes Unglück der deutschen Geschichte, zitiert. Wo hast du das gelesen?
- Müller
- Das ist in der Anmerkung zur “Mutter Courage” von Brecht, steht das.
- Kluge
- Und sagst, was ist das für eine absurde Bezeichnung, eine Revolution als Unglück.
- Müller
- Ja, ja. Ja.
- Kluge
- Wie ist es da gemeint? Die Revolution ist das Unglück oder die Niederschlagung der Revolution?
- Müller
- Ich habe es eigentlich erst verstanden ‘89, was Brecht meint, und ich glaube, was er meinte, war, Bauernkriege, das war die erste frühbürgerliche Revolution in Europa. Und die war zu früh, also das Potential war nicht da dafür. Es reichte nicht. Deswegen wurde sie besonders brutal zerschlagen und hat das revolutionäre Potential für Jahrhunderte erledigt, für Deutschland. Und danach kam der Dreißigjährige Krieg.
- Kluge
- Jeder Städter muß den Bauern in sich auch noch mal umbringen oder verachten. Kriegt sonst die Hand abgeschlagen.
- Müller
- Ja, ja.
- Kluge
- Wie kann man das eigentlich erklären, daß eine Ritterhorde, von relativ wenigen Leuten, die schon wenig später von den Schweizern vollkommen in die Flucht geschlagen werden, warum sind die so mächtig, daß sie eine ganze aufständische Region wieder unterdrücken können und dann die Menschen abschlachten können. Wie gelingt das? Was heißt “zu früh”? Ich glaube, daß da schon eine große Rolle gespielt hat der Protest von Luther gegen die Bauernkriege. Weil die Motivation der Bauern war religiös, anders ging das gar nicht. Und dann gab es die religiöse Gegenmotivation, von Luther. Münzer, Luther, das war das Duell. Und ich glaube, das war der Punkt, und deswegen sagt Brecht eben, daß der Reformation der Reißzahn gezogen wurde dann. Du sagst jetzt hier, das könntest du fortsetzen, nach ‘89, die neue Erfahrung jetzt würde ermöglichen, daß man das neu darstellt. So daß du also-…deine Kräfte werden möglicherweise schwächer, aber jetzt wüßtest du …
- Müller
- … wie es geht.
- Kluge
- Wie es geht.
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Was man erzählen muß. Du nennst da die Französische Revolution an der Stelle?
- Müller
- Ja, weil Napoleon war der Exporteur und der Liquidator.
- Kluge
- Aber er hätte beinah eine Bauernbefreiung hier mit der Gewerbefreiheit in Deutschland verbinden können.
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Die französischen Bauern sind seine treusten Gefolgsleute, das sind ja die Grenadiere.
- Müller
- Ja, ja.
- Kluge
- Mit der Bärenmütze, die … die kommen alle vom Land. Ein anständiger Pariser geht nicht unter die Soldaten. Oder wird ein sehr hoher Stabsoffizier. Aber die Expedition nach Ägypten, das sind die französischen Bauern. Und gleichzeitig-\- dies hat er im Grunde nicht wirklich verstanden, gibt es einen sehr abgründigen Gedanken. Der Hitler hat in seinem politischen Testament geschrieben, er hätte einen großen Fehler gemacht. Eigentlich hätte er die Araber, die Inder, die unterdrückten Völker, gegen die kolonialistischen Gesellschaften, gegen England aufwiegeln müssen. Er hätte also Stalin links überholen müssen. Dies sieht er im April ‘45 als seinen großen Fehler. Napoleon hatte etwas Ähnliches … Er hat die gleichen Fehler gemacht. “Die Zeit steht als Immobilie zum Verkauf” Hier hast du geschrieben, “die Zeit steht als Immobilie zum Verkauf”.
- Müller
- Frag mich nicht, was das heißt.
- Kluge
- Stellst du die Ohren auf Durchzug und gibst Verse bekannt.
- Müller
- Ungefähr, ja. Man kann, natürlich, man kann das kommentieren, sicher. Daß eine Grunderfahrung jetzt ist doch, daß die Zeit stillsteht, daß sich nichts bewegt. Oder man weiß jedenfalls nicht, wohin sich etwas bewegen könnte oder sollte. Vielleicht ist so was gemeint.
- Kluge
- Der letzte Krieg geht um die Atemluft.
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Und Zeit würde man ja immer in Atemform darstellen können, nicht?
- Müller
- Vielleicht kann man sagen, Atemluft ist gleich Zeit, ja. Und das ist der letzte Kriegsgrund, Zeitgewinn, wer hat mehr Zeit.
- Kluge
- Die Staatsgewalt geht vom Geld aus, ja? Man geht nicht vom Volke …, das war die Erfindung von 1918, steht im Paragraph 1 dann, im Artikel 1 der Verfassung.
- Müller
- Der Brecht hat das schon ganz gut kommentiert, du erinnerst dich: “Aber wo geht sie hin?”
- Kluge
- Wo geht sie hin, ja. Du sagst also, an der Steuergewalt hat sich die Französische Revolution festgemacht. Also, in dem Moment, in dem man dem König die Steuerprivilegien verweigert, ändert sich das ganze Staatswesen. Man kann es praktisch zusammen mit der Steuer annehmen. In der Protestbewegung war davon keine Rede. Aber der Steuerstreik wäre nach wie vor eigentlich die einzige Gegenwehr der lebenden Zapper, ja?
- Tafel
- “Ich /Dinosaurier / Nicht von Spielberg / Sitze nachdenkend über die Möglichkeit / Eine Tragödie zu schreiben”
- Kluge
- Warum nennst du dich einen Dinosaurier? Was stellst du dir unter Dinosaurier eigentlich vor?
- Müller
- Du, ich stelle mir vor, …
- Kluge
- Kaltblütler?
- Müller
- … erst mal das vielleicht auch, das gar nicht primär. Primär ist eine andere Art, sich fortzubewegen, zum Beispiel eine andere Art zu schreiben als die flotte, flache Schreibe, die jetzt …
- Kluge
- …der Huftiere …
- Müller
- … kommerziell geht und blüht.
- Kluge
- Jetzt nehmen wir mal so, wo würdest du dich denn als Saurier sehen? Also zum Beispiel Adorno hat immer sich als Trachodon, das ist ein Lauf\- und Fluchttier, gesehen.
- Tafel
- Saurier als Fluchttier
- Kluge
- Das hat er durchaus ernst gemeint. Er hat ja auch diese Vergleiche geschätzt.
- Müller
- Ja, ja.
- Kluge
- Und wo würdest du dich sehen? Bist du ein Mastadon? Bist du ein großer Saurier? Bist du ein \–es gibt ja winzige, die also so hoch wie das Gras sind.
- Müller
- Ja, ich sehe mich natürlich eher als großen Saurier. Aber das Wesentliche an dem großen Saurier ist, daß er …
- Kluge
- Stampfbein oder Gebiß?
- Müller
- …stampft. Das Gebiß ist vielleicht weniger wichtig, das Stampfen ist wichtig.
- Kluge
- Der Omnitolestis?
- Müller
- Daß man einfach mit jedem Schritt viel Territorium besetzt.
- Kluge
- So ein Trommelgeräusch?
- Müller
- So was, ja.
- Kluge
- Du spricht davon, daß das nächste Jahrhundert das der Advokaten sein wird. Und dieses wäre das Jahrhundert der Zahnärzte.
- Tafel
- “Das Jahrhundert der Zahnärzte”
- Kluge
- Wie kommst du da drauf?
- Müller
- Ja, das ist eine ganz persönliche Geschichte. Das war für mich ein kleiner Finanz\- und Kulturschock, als ich zum Beispiel meine erste Zahnprothese, die ich dringend brauchte, die hat mich eine ganze Regiegage gekostet. Meine erste Regiegage, die ich im Westen bekam.
- Kluge
- … Büchnerpreis.
- Müller
- Büchnerpreis ist eine andere Geschichte. Ich kam mit dem Scheck in der Tasche, das waren damals 30 000 Mark, nach München, und in der Maximilianstraße bei dem Hofjuwelier, Hemmerle, glaube ich, oder so ähnlich, sah ich so eine kleine silberne Taube, so eine Renaissance-Taube, mit so ein paar Brillianten und so. Und ich bin einfach aus Spaß reingegangen und hab gefragt, was die kostet. Und die zeigten mir das und waren sehr eifrig, haben mir Prospekte gegeben und so, und die kostete genau 30 000 Mark, das war der Büchnerpreis. Das hat mich sehr beeindruckt. Was ich meine, ist eigentlich, der Akzent auf den Immobilien. Und dazu braucht man ja Advokaten, um damit umzugehen.
- Kluge
- Wie kommst du auf den Ausdruck “Advokat”? Also, “Rechtsanwalt” wär’ was anderes. Da würde man nicht sagen, “Robespierre ist nicht ein Rechtsanwalt,” aber man kann sagen, “Robespierre ist Advokat aus Arras.”
- Müller
- Ja, ja. Du, “Advokat” paßt besser in den Vers, klingt auch besser als “Rechtsanwalt.” “Rechtsanwalt” …
- Kluge
- Paßt nicht in den Vers …
- Müller
- …klingt nicht …
- Kluge
- Nein. “Das Jahrhundert der Rechtsanwälte” würde man auch nicht sagen.
- Müller
- Das geht nicht.
- Kluge
- Advokaten …
- Müller
- Die können kein Jahrhundert haben. Aber Advokaten können ein Jahrhundert haben, weil da ist ja auch…
- Kluge
- Und zum Beispiel der Überfall der Advokaten auf die neuen Bundesländer, könnte man das sagen?
- Müller
- Das kann man sagen, ja. Und vor allem im “Advokaten” steckt ja auch noch ein lateinischer Wortstamm. Da wird etwas “angesprochen”.
- Kluge
- Durch Zuruf besetzt?
- Müller
- Ja, ja.
- Kluge
- Ich muß gar nicht die Füße hinleiten. Ich habe Paragraphen, rufe sie zu, und der Befehl genügt, daß das Land mir ausgehändigt wird.
- Müller
- Genau, ja. Ich erinnere mich, ich hab im Interconti glaube ich war das, ich hab’ da einen Whisky getrunken, und da unterhielten sich so vier, fünf nicht nur Advokaten, also Immobilien-Makler, und der eine sagte plötzlich zu einem anderen, “Weißt du, was Berlin ist? Du hast ja keine Ahnung. Berlin, das ist - ich weiß nicht mehr wie viel - vierhundert Quadratkilometer Grund und Boden. Das ist Berlin.” Also diese Reduzierung.
- Kluge
- Das hieß Gelände, für Advokaten.
- Müller
- Ja, ja. Klar.
- Tafel
- HEINER Müller: / AJAX Z. B. / Babypille fauler Zauber / Ajax hält das Becken sauber / Volksmund Nach zehn Jahren Krieg war Troja museumsreif Ein Gegenstand von Archäologie Nur eine Hündin heult noch um die Stadt Aus den Gebeinen der Rächer gründete ROM Preis: eine brennende Frau in Karthago Mutter der Elefanten Hannibals Rom von der Wölfin gesäugt das den Sieger beerbte Griechenland eine Provinz aus der man Kultur zog 3000 Jahre nach der blutigen Geburt der Demokratie im Haus der Atriden O NACHT SCHWARZE MUTTER mit Bad Netz Beil Die Zange führt Athene - die Kopfgeburt Kriecht das dritte Rom schwanger mit Unheil Nach Bethlehem in seine nächste Gestalt Der Rausch der alten Bilder Die Müdigkeit Im Rücken das unendliche Gemurmel Des Fernsehprogramms BEI UNS SITZEN SIE IN DER ERSTEN REIHE Die Schwierigkeit Den Vers zu behaupten gegen das Stakkato Der Werbung das die Voyeure zu Tisch lädt UNSERN TÄGLICHEN MORD GIB UNS HEUTE ICH AJAX OPFER ZWEIFACHEN BETRUGS Ein Mann in Stalinstadt Bezirk Frankfurt Oder Auf die Nachricht vom Klimawechsel in Moskau Nahm stumm von der Wand das Portrait des geliebten Führers der Arbeiterklasse des Weltkommunismus Trat mit den Füßen das Bild des toten Diktators Hängte sich auf an dem frei gewordenen Haken Sein Tod hatte keinen Nachrichtenwert Ein Leben Für den Reißwolf KEINER ODER ALLE War das falsche Programm Für alle reicht es nicht Das letzte Kriegsziel ist die Atemluft ICH AJAX DER SEIN BLUT Im Hotel in Berlin in unwirklicher Hauptstadt Mein Blick aus dem Fenster Fällt auf den Mercedesstern Der sich im Nachthimmel melancholisch dreht Über dem Zahngold von Auschwitz und anderen Filialen Der Deutschen Bank auf dem Europacenter Europa Der Stier ist geschlachtet das Fleisch fault auf der Zunge der Fortschritt läßt keine Kuh aus Götter werden dich nicht mehr besuchen Was dir bleibt ist das Ach der Alkmene Und der Gestank von brennendem Fleisch den täglich Von deinen Rändern der landlose Wind dir zuträgt Und manchmal aus den Kellern deines Wohlstands Flüstert die Asche singt das Knochenmehl Heute kann ich die Fortsetzung schreiben Der Französischen Revolution in den Kriegen Napoleons Der sozialistischen Frühgeburt im Kalten Krieg Seitdem tanzt die Geschichte wieder Tango Ein Exkurs über Revolution und Zahnmedizin Geschrieben im Jahrhundert der Zahnärzte 2 Zahnprothesen 1 Büchner-Preis Das zu Ende geht das kommende Wird den Advokaten gehören die Zeit Steht als Immobilie zum Verkauf Im Hochhaus unter dem Mercedesstern In den Etagen der Kulturverwaltung Was für ein Wort Wer verwaltet Phidias Ein Teppichhändler aus Smyrna laut POLYDOR Brennt noch Licht rauchen die Köpfe im Sparzwang Proben die Amputierten den aufrechten Gang Mit geborgten Krücken aus Fiberglas
- Müller
- Das Schreibglück der fünfziger Jahre Als man aufgehoben war im Blankvers Zwischen den Planken des kenternden Geisterschiffs / Beschirmt vom ironischen Pathos des Knittelreims / Nur die Hebungen werden gezählt / Gegen den Steinschlag der Denkmäler Kunst in der Ewigkeit des Augenblicks Im Elend der Information BILD KÄMPFT FÜR SIE Wird Erzählung Prostitution BILD KÄMPFT / Gibt die Tragödie den Geist auf Stalin zum Beispiel Seit seine Totems zum Verkauf stehn Blut geronnen zu Medaillenblech Am Brandenburger Tor für Hitlers Enkel Welchen Text soll ich ihm in den Mund legen Oder ins Maul stopfen, je nach dem Standpunkt In das Gehege seiner gelben Zähne In sein kaukasisches Wolfsgebiß In seiner Nacht im Kreml beim Warten auf Hitler / Wenn der sprachlose Lenin erscheint im Wodka / Lallend und brüllend nach dem zweiten Gehirnschlag / Der Beweger der Welt dem seine Zunge / Nicht mehr gehorchen will LENINDADA Seine Welt ein Quadrat von Malewitsch Der Tartar der das Gesetz der Steppe Nicht mehr begreift Römer geworden zur Unzeit Das sein Vollstrecker im Blut hat der Kaukasier Oder Trotzki das Beil des Macbeth noch im Schädel Die Faust geballt zum bolschewistischen Gruß / Im deutschen Panzerturm Hamlet der Jude / Oder Bucharin der im Keller singt / Der Liebling der Partei Kind der AURORA / Mit Hitler vielleicht kann er reden von Mann zu Mann / Oder von Tier zu Tier je nach dem Standpunkt / Der Totengräber mit dem Totenführer
- Kluge
- Den Trotzki nennst du “Hamlet, der Jude”. Weil er gezögert hat?
- Müller
- Auch aus der Sicht von Stalin natürlich, der Jude.
- Kluge
- Er kommt aus Wittenberg, ganz zweifellos.
- Müller
- Ja, ja.
- Kluge
- Und, er ist wie Banquo bei dir, nicht?
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Hat es … die Axt Macbeths. Macbeth tötet selber seinen Nebenbuhler Banquo. Erfährt man darüber was? Er läßt ihn töten.
- Müller
- Er läßt ihn töten, ja.
- Tafel
- “Das Medium für Tragödien ist die Bildzeitung”
- Kluge
- Das, was also die Bildzeitung verwaltet, ist wirklich erschütternd, und dagegen kann sich die Formulierung nicht halten?
- Müller
- Na ja. Die Bildzeitung ist ja eigentlich jetzt das Medium für Tragödien - also was in der Antike im Theater stattfand, ist jetzt notiert in der Bildzeitung.
- Kluge
- Was brauchst du, um eine Tragödie zu schreiben? Was ist eigentlich …
- Müller
- Man braucht unvereinbare Widersprüche.
- Narrator
- …die motorisch gegeneinander gehen. Die dürfen nicht stille stehen und vereinbart werden.
- Müller
- Dürfen nicht stillstehen. Müssen gegeneinander gehen und …
- Kluge
- Also Satan und Gott könnten auch für fünftausend Jahre mal so stillisch gegenüber stehen - ’s wär’ kein Drama, wäre keine Tragödie?
- Müller
- “Faust” ist kein Drama, ja.
- Kluge
- Ist kein Drama, nein. “Faust” fünfter Akt? Nur durch den Rest, den Erdenrest von Philemon/Baucis?
- Müller
- Vielleicht, ja.
- Kluge
- Denn das ganze übrige, also daß Faust stirbt und im Himmel aufgenommen wird, wäre ja alleine noch keine Tragödie. Es löst sich auch sehr stark lustspielähnlich auf, wenn die Wälder da heranrücken.
- Müller
- Na ja, Faust ist ja eigentlich schon der … die beschreibt ja schon das Ende der Tragödie, das Ende der Tragödie in der Warenwelt wenn du willst.
- Kluge
- Sag mal ein Beispiel, wo ein großer tragischer Stoff für dich läge.
- Müller
- Das wird immer schwieriger. Die liegen in der Vergangenheit.
- Kluge
- Also 1941 wäre es einfach zu sagen, wo die Tragödien liegen?
- Müller
- Ja, ja.
- Kluge
- Wenn alles entschieden ist, 1945 ist es schwerer zu sagen, aber schon ‘48, ‘49 wär’s wieder zu sagen. Da ist der unterliegende Teil eigentlich tragisch.
- Müller
- Na ja, es gibt natürlich so Splitter von tragischen Stoffen, zum Beispiel Althusser ist ein durchaus tragischer Stoff.
- Kluge
- Und wenn du mal beschreibst?
- Müller
- Na ja, der Althusser, ich hab’ ihn mal getroffen in Rom, da war er schon etwas gestört. Das Problem war, daß er dauernd einkaufen wollte, das heißt, er klaute dann, was er… hatte so eine große Hebammentasche bei sich und hat so alles eingesackt, was ihm gefiel. Und die Italiener, die ihn begleiteten, mußten das dann dauernd irgendwie geradebiegen und bezahlen oder so. Aber für ihn war klar, daß es ist kein Problem, das gehört ihm. Und dann hat er ein Interview gemacht mit “RAI”, im dritten Programm, hat danach aber dann darauf bestanden, daß sie das nie senden - ich hoffe, die haben das noch \–, wo er sprach über seine Ansichten zum Kommunismus, zum Beispiel, er sagte wenn Marchais ihn fragen würde, was er für den Kommunismus tun kann, würde er ihm sagen, “Die kommunistische Partei auflösen”. Das wäre die einzige Möglichkeit, etwas für den Kommunismus zu tun. Und dann, ich glaube ein paar Monate später war er in der Psychiatrie in Paris und hat seine Frau umgebracht, und die Frau war die Partei, die war die Stimme der Partei, die er irgendwann nicht mehr hören konnte.
- Kluge
- Und dieser Mann hat doch zu anderen Zeiten, zu früheren Zeiten, doch die konsequentesten rationalen Texte nachbebrütet - wie würde man ihn bezeichnen? So ein Chefdenker des Marxismus?
- Müller
- Ja, aber auch eine Hamletfigur.
- Kluge
- Hamletfigur.
- Müller
- Ja. Nach diesem Kriminalfall, also nach dem Mord, gab es ein Graffiti an der Mauer der “École Normale”. Und da stand: “Althusser wollte immer ein Handarbeiter sein.”
- Tafel
- “Steinschlag der Denkmäler \–”
- Kluge
- Stichwort: “Steinschlag der Denkmäler”. Die rollen so schnell, daß man so in einem Lebenslauf von ihnen erschlagen werden kann. Nun wie verhält sich aber ein Denkmal zur Dramatik, also zur Tragödie, zur Bühne? Kommt vor in “Don Giovanni” als Großkomtur, da kommt das Denkmal handlungszerstörend auf die Bühne. Kommen sonst Denkmäler auf Bühnen?
- Müller
- Eigentlich zu selten, das ist wahr, ja. Ja.
- Kluge
- Gibt es ein Denkmal, das die…
- Müller
- Wobei interessant fand ich das Bild - ich hab’ irgendwann mal so einen ganz kurzen Text geschrieben über Fadejew nach dem Selbstmord von Fadejew. Du weißt noch, wer Fadejew war? Er war, also …
- Kluge
- Ein russischer Schriftsteller? Vorsitzender des Schriftstellerverbandes …
- Müller
- Russischer Schriftsteller. Ein sehr guter Schriftsteller zunächst.
- Kluge
- Was hat er geschrieben?
- Müller
- Und dann war…“Die Neunzehn”, zum Beispiel. Das ist ein Roman aus dem Bürgerkrieg, wo er - es ist eigentlich die beste Beschreibung der Situation des jüdischen Intellektuellen - als Kommissar in dieser Bauernhorde, dieser frühen Roten Armee. Wo er beschreibt, unter anderem, den Ekel dieses Mannes, dieses Intellektuellen vor diesen Bauern, die stinken und primitiv sind. Und er haßt sie eigentlich, und sein Grundgefühl ist Ekel. Aber er muß sie lieben. Weil sie sind die Revolution. Sie sind die Zukunft.
- Kluge
- Und er ist Offizier?
- Müller
- Und er ist Kommissar. Ja. Und sie hassen ihn, weil er Jude ist und ein Intellektueller. Es ist wirklich ein toller Roman. Und dann wurde Fadejew der Repräsentant eigentlich des Stalinismus in dem Schriftstellerverband. Von ihm stammt dieser Satz über Sartre: “Eine Hyäne an der Schreibmaschine”–das war von Fadejew. Und …
- Kluge
- Das war bei ihm negativ gemeint.
- Müller
- Das war ganz negativ gemeint, ja.
- Kluge
- Du hast auch schon mal über Hyänen gesprochen, Hyänen des Bildschirms, aber du hast es nicht negativ gemeint …
- Müller
- Das war, in dem Fall, positiv gemeint.
- Kluge
- …weil du sagst, Hyänen sind gar nicht so was, sie sind nicht feige.
- Müller
- Für Fadejew war das aber ein Negativum, das ist klar.
- Kluge
- Was verstehst du unter einer Hyäne?
- Müller
- Hyäne ist erst mal ein Tier, was dafür sorgt, daß der Kreislauf der Natur intakt bleibt. Räumt weg, was weg muß, was fault, verwest.
- Kluge
- Mutige Tiere.
- Müller
- Sind auch mutige Tiere.
- Kluge
- Familien.
- Müller
- Sind sehr zähe Tiere. Halten zusammen. Ja.
- Tafel
- “Fadejew hat sich erschossen”
- Kluge
- Und zu Fadejew?
- Müller
- Fadejew. Fadejew hat sich erschossen nach dem zwanzigsten Parteitag, also als Chruschtschow zum ersten Mal über Stalin und die Verbrechen gesprochen hat. Und am Abend vorher kriegt er Besuch von einem Schriftsteller, der fünfzehn Jahre im Lager gewesen war. Und Fadejew hatte nichts für ihn getan, hätte etwas tun können. Er war Sekretär des Schriftstellerverbands. Und der hatte einen Traum während dieser Lagerzeit: wenn er rauskommt, Fadejew ohrfeigen. Und er besuchte einen Freund, sagte: “Komm, wir gehen zu Fadejew.” Und sie gingen zu Fadejew. Fadejew war betrunken, wie immer, also zuletzt war nur noch der Wodka. Und Fadejew stand in der Tür, und er hat ihn geohrfeigt und ist gegangen. Und in der Nacht hat sich Fadejew erschossen. Und angeblich auf der Couch, auf der Majakowski sich erschossen hat - die hatte er gekauft als Antiquität. “In einer Nacht mit Wodka DER HIMMEL VOLL MADEN / Schreibt er sein Bild fest mit dem Revolver im Blitzlicht / Des letzten Parteitags als die Denkmäler bluten”. Und die blutenden Denkmäler, das finde ich wichtig, daß Denkmäler bluten können. So wie früher die Toten geblutet haben, wenn der Mörder an die Leiche trat.
- Kluge
- Wenn man in die Maschine hineinschneidet, in der menschliche Arbeitskraft steckt, dann wird Blut herauskommen. Wenn Menschen wirklich mit ihrem Leben bezahlt haben für etwas, an was sie glaubten, und das ist ein Steinbild geworden, dann sind solche Denkmäler erschlagend. Sie können sehr gefährlich werden.
- Müller
- Ja. Man kann aber auch drin wohnen. Da gab’s eine Geschichte: So ein Liebespaar in Prag, aus der DDR, die fanden kein Hotelzimmer und wußten nicht, wo sie übernachten sollten. Da lagen aber noch die Reste von dem riesigen Stalindenkmal. Und die haben im linken Ohr von Stalin übernachtet. Da war Platz, das war geräumig.
- Kluge
- Es kommt ein Liebespaar heraus.
- Müller
- Ja.
- Kluge
- Wenn du jetzt zum Beispiel nach Berlin zurückkommst, ins Berliner Ensemble, brauchst du dann einen Assistenten, der laut nachsagt zur Bühne hin, was du meinst? Denn du kannst ja nicht laut sprechen.
- Müller
- Na ja. Ich gehe erst zurück, wenn ich wieder laut sprechen kann.
- Kluge
- Wird das der Fall sein?
- Müller
- Ich denke schon. Ja.
- Kluge
- Du schulst einfach die andere Stimmlippe.
- Müller
- Ja. Das kann ich aber nur mit Hilfe von Leuten, die wissen, wie das geht.
- Kluge
- “Logopäde” heißt: Sprachführer.
- Müller
- Ja, Sprachführer. Ja, ich brauche einen Sprachführer jetzt.
- Kluge
- Das heißt jeden Tag eine Stunde, ja, wie man Klavier lernt.
- Müller
- Jetzt nicht, aber ich hatte es in München und werde es wieder haben in Berlin.
- Kluge
- Sag mir noch mal eine Übung. Die kommt also rein, die Logopädin. Was macht sie?
- Müller
- Sie sagt zum Beispiel…
- Kluge
- Begrüßt dich.
- Müller
- “Setzen Sie sich aufrecht hin. Bilden Sie einen Schallraum im Mund. Legen Sie die Zunge flach.”
- Kluge
- Das kann man aber nicht sehen.
- Müller
- Kann man nicht sehen. Die Zunge muß am Boden liegen im Mund. Und dann: “Sagen Sie ‘Hast’”.
- Kluge
- Hast.
- Müller
- Ich sage es jetzt falsch. Ich kann es noch nicht. Weil es ist ein ‘H’ davor noch, dieses ‘H’ muß noch weg, also der Konsonant als Hilfe für den Vokal muß weg. Ich muß den Vokal spontan bilden können.
- Kluge
- Dann mußt du “Ast” sagen.
- Müller
- Ich muß “Ast” sagen können.
- Kluge
- Wie ein Franzose “Ast” sagen würde?
- Müller
- Ich kann es schon, wenn ich flüstere, aber noch nicht, wenn ich laut bin. Und der Anfang ist Flüstern.
- Tafel
- DIE STIMME DES DRAMATIKERS