Anti-Oper

Transkript: Anti-Oper

Textband
Heiner Müller hat Japan besucht / Dort ging es um die Formenwelt der Oper / Gleichzeitig inszeniert Heiner Müller in Berlin das Fatzer-Fragment, einen rätselhaften Text von Bert Brecht von 1932 - -
Tafel
Anti-Oper / Materialschlachten von 1914 / Flug über Sibirien / Gespräch mit Heiner Müller
Kluge
Du bist jetzt nach Japan gereist. Wie lange fliegt man da?
Müller
Ich glaube, es waren - ne, ich bin über Frankfurt geflogen, dann Paris, dann Tokio, dann Toyama. Es waren 20 Stunden, glaube ich, im Ganzen.
Kluge
Zwanzig Stunden?
Müller
Ja.
Kluge
Und fliegst du da über Südostasien oder über Sibirien?
Müller
Wir sind über Sibirien geflogen. Und das ist eigentlich der einzige Grund, warum man gelegentlich nach Japan fliegen sollte - diese Route Sibirien. Wenn man Glück hat und die Sicht ist frei, ist das wahnsinnig, dieser Blick auf Sibirien.
Kluge
Wie lange fliegst du da über Sibirien?
Müller
Das sind, glaube ich, sechs bis sieben Stunden Sibirien.
Kluge
Und was siehst du da?
Müller
Man sieht eine völlig unbewohnte Landschaft, Berge mit Schnee und Eis, dazwischen Flüsse, auch jetzt in dieser Jahreszeit mit Eis. Und das Wesentliche ist erst mal die Ausdehnung und die Leere. Es ist völlig unerschlossen. Es ist …
Kluge
Das ist ein separater Kontinent.
Müller
Ein absolut separater Kontinent. Und vor allem ist er völlig unerschlossen. Und er ist so was wie eine Zeitreserve. Und wenn man dann weiß, was da alles drin liegt, also von Gold, Diamanten bis zu sonst was, und man weiß gar nicht überall, wo was ist.
Kluge
Das ist den Instinkt eines Goldgräbers wert.
Müller
Das glaube ich schon. Und vor allem, es hat mich so erinnert an eine Stelle bei Malaparte, in dem … seinen Frontberichten.
Kluge
Buch über den …
Müller
… Rußlandkrieg.
Kluge
… Sommer 1942.
Müller
Wo er beschreibt, als vor Moskau plötzlich aus den Wäldern sibirische Regimenter kamen, begann ein anderer Krieg. Das war nicht mehr der Krieg der Arbeiterarmeen, den er so etwas romantisch beschreibt. Da begann was anderes.
Kluge
Ist es romantisch, eigentlich? Ich meine, es ist ja doch ein Krieg…
Müller
Es war schon richtig, ja.
Kluge
… von zwei Arbeiterarmeen. Nur sind die Arbeiter samt ihrem technischen Gerät, was motorisiert da in Rußland noch funktioniert, im Grunde nur immer Eliten. Das sind also Minderheiten. Nicht?
Müller
Ja, und da kam plötzlich was Fremdes.
Kluge
Ja.
Müller
Und ich fand immer einleuchtend diese These von der asiatischen Zeitreserve Rußlands. Und dieser Riesenrücken Sibirien. Und man fliegt über diesen Riesenrücken. Und das ist die eigentliche Qualität, glaube ich, daß das nie wirklich voll ausbeutbar sein wird. Ich glaube, das ist nicht machbar. Und auch das Gefühl, daß das noch da sein wird, wenn es keine Menschen mehr gibt. Das wird länger dauern. Das interessiert mich auch in bezug auf die Jahrhundert- oder Jahrtausendwende jetzt. Ich glaube, daß die technischen Utopien vorbei sind. Das nächste Jahrhundert wird eher…
Kluge
Ein Jahrhundert der Vorsicht?
Müller
… in Vorsicht bestehen und im Rückzug auf kleine Einheiten, auf Mikrostrukturen. Und ein großer Rückzug aus den großen Entwürfen, aus den Makrostrukturen.
Kluge
Jetzt kommst du in Japan an. Das Ganze ist eine Konferenz über das Schicksal der Oper im 20. und 21. Jahrhundert. Rolf Liebermann - Komponist, Intendant - ist einer deiner Partner. Was ist die Chance der Oper? Gibt es eine Wiederauferstehung des Dramas aus dem Geiste der Musik?
Müller
Ja, ich habe vor Jahrzehnten mal zwangsweise, weil ich für Paul Dessau ein Libretto geschrieben hatte, mich für die Oper interessieren müssen, die mich an sich nicht interessiert hat, zunächst. Und da hatte ich so die Idee, daß die Oper so ein Gefäß der Utopie sein könnte, mehr als das Drama. Was man noch nicht sagen kann, kann man vielleicht schon singen. Heute wäre ich da eher skeptisch. Heute würde ich eher sagen, daß, wenn alles gesagt ist, dann werden die Stimmen süß, und dann kommt die Oper.
Kluge
Noch mal, bitte.
Müller
Wenn alles gesagt ist, werden die Stimmen süß, dann kommt die Oper.
Kluge
Das ist also ein Betrugsunternehmen?
Müller
Ein Betrugsunternehmen, würde ich eher sagen, im Moment.
Kluge
Wenn du also zum Beispiel die bewaffnete Macht nimmst, entweder in Form von Flotten oder in Form von Paraden oder Reiterregimentern, dann hast du im 19. Jahrhundert den Stolz der Nationen, den stellst du in solchen Paraden dar. Parallel dazu sind die Opernhäuser gebaut worden, nicht? Also sie sind keine Kirchen, oben ist der Himmel zu, und sie sind die weltliche Form des Ideenhimmels. Und wenn die Opern aus den Opernhäusern raus müßten und Partisanen werden müssen, so wie die Soldaten Partisanen werden, oder, sagen wir mal, die bewaffnete Macht partisanenartig kämpft - oder sie unterliegt immer. Wenn das der Fall wäre, gäbe es eine Anti-Oper, eine Gegenbewegung? Es müßte ja nicht notwendig gesungen werden. Gäbe es die Oper in Form von Flaschenposten?
Müller
Wenn wir über Japan reden: Das Wichtigste in Japan war für mich eigentlich schon beim ersten Aufenthalt das Theater. Aber das traditionelle Theater. Besonders das Bunraku, ich weiß nicht, kennst du das?
Kluge
Kenne ich nicht.
Müller
Das ist das klassische Marionettenspiel. Und das ist eigentlich, finde ich, das Theater der Zukunft. Und das ist wirklich das Gesamtkunstwerk, und da ist die Oper integriert und nicht ein Extra. Und das ist das Problem, glaube ich, in Europa, daß es ein Extra geworden ist, und entstanden aus der Illusion, daß man die antike Tragödie damit wieder belebt. Das sind Marionetten, die sind ungefähr dreiviertel lebensgroß, sehr detailliert gearbeitet, sehr genau, mit sehr realistischen Masken auch. Und dann gibt es Puppenführer, die sichtbar auf der Bühne die Marionetten führen. Sie sind völlig schwarz gekleidet, auch die Gesichter schwarz verhüllt, nur mit Augenschlitzen.
Kluge
Und erzählen erkennbar zu dem Publikum?
Müller
Nein, die erzählen gar nichts, die führen die Marionetten. Und eine prominente Marionette hat drei Führer, die weniger prominenten zwei, das Personal hat einen Führer. Und einer ist zuständig für den rechten Arm, das linke Bein usw. Und dann gibt es an der Seite einen Steg, da sitzen Musiker, die sind die eigentlichen Schauspieler, die singen und sprechen den Dialog. Und das ist der totale Irrsinn.
Kluge
Also die Einheit von Souffleuse und Orchester?
Müller
Ja, ja. Es ist totaler Irrsinn, denn die Bewegungen der Puppen sind sehr realistisch, aber sie sind tot, und dahinter steht der Tod und führt sie. Und auf diesem Steg sitzen so kleine, dicke, ältere Japaner, die müssen viele Erfahrungen haben. Die machen den Dialog.
Kluge
Und erzählen Geschichten.
Müller
Und zum Beispiel, so eine Aufführung dauert fünf bis sechs Stunden. Es gibt viele Pausen. Und da war eine Szene: Die Tochter eines Samurai ist schwanger von dem falschen Samurai, von den feindlichen, und der hat sie verstoßen, was zu erwarten war. Und sie kommt nun in das Haus ihrer Eltern und will zu Hause gebären und aufgenommen werden. Die Mutter läuft wie ein Huhn - das ist diese Marionette - zwischen Tochter und Vater hin und her und jammert, und die Tochter jammert und der Vater brüllt. Und ein Sänger spielt diese drei Stimmen, diese drei Rollen. Ungeheuer naturalistisch eigentlich, aber auch natürlich artistisch, gleichzeitig. Es ist enorm emotional, die Wirkung, aber völlig artifiziell. Und das ist eine Zukunft, glaube ich, wo man Oper integrieren kann.
Kluge
Enthält aber eine volle Entzerrung. Das heißt, die Geschichte wird separat erzählt.
Müller
Ja.
Kluge
Ja. Es kommt …
Müller
Die Elemente sind getrennt.
Kluge
Die Elemente sind getrennt. Wenn du jetzt das einmal auf “Tristan und Isolde” anwenden solltest, also ohne daß du jetzt sozusagen Erwartungen von Bayreuth vor dir hast, wie würdest du so eine Geschichte erzählen?
Müller
Ideal wäre natürlich, wenn man Leute hat, die das spielen, und Leute, die es singen, getrennt.
Kluge
Ja. Und du könntest ja auf das Singen sogar verzichten, die einen erzählen, ein Orchester spielt, und dazwischen sind Marionetten im Gange, und ein Bühnenbildner kann noch die Soffitten, usw. extra separat bedienen, und die Beleuchtung kann auch separiert werden, so daß also Lichtspiele stattfinden. Wenn du auf diese Weise die Elemente frei verfügen könntest, könntest du ja sehr viel mehr erzählen als nur immer dieselbe Geschichte?
Müller
Ja, ja. Klar, klar. Im Grunde hat Wagner ja einen Ansatz vorgegeben dazu. Aber das ist eben nur dieser eine Ansatz, die größte Erfindung in Bayreuth ist das unsichtbare Orchester.
Kluge
Jawohl.
Müller
Und das ist wirklich enorm. Weil ich kann fast kein Konzert aushalten; je avancierter die Musik ist, desto unerträglicher ist es, die Musiker zu sehen. Das ist dasselbe natürlich mit dem Gestenkatalog der Sänger. Die brauchen bestimmte Gesten für die Atmung und das Stützen usw., und deswegen kommst du nie ganz weg von diesem komischen Opern-Pathos. Das Pathos entsteht aus der Notwendigkeit richtig zu atmen. Und es ist ganz schwer, das zu reduzieren.
Kluge
Wenn sie singen würden nach allen Formen der Kunst und gleichzeitig würden …
Müller
Genau. Ja, ja. Und die Anderen sind die Stellvertreter und spielen. Genau. Ja.
Kluge
… Stellvertreter, Masken, oder … für sie spielen, dann wäre das also ausgewogener.
Müller
Das wäre ideal, ja. Das hat der Wilson versucht, in seiner Weise.
Kluge
Neuenfels bei der “Aida.”
Müller
Neuenfels, “Aida”, das war eine tolle Aufführung.
Kluge
Ja, ja.
Müller
Wilson hat es versucht mit “Parsifal”- es hat nicht funktioniert.
Kluge
Nein.
Müller
Weil er mußte es mit den Sängern machen …
Kluge
Nun mute ich dir “Parsifal” jetzt nicht zu
Müller
Ne, den würde ich …
Kluge
Es ist ja auch nicht viel zu spielen. Was würdest du, wenn du jetzt also gewissermaßen ein Sibirien einrichtest inmitten von Richard Wagner, das heißt Leerräume. Du brauchst ja nach den japanischen Methoden der Entzerrung nur einen Teil der Zeit, mag sein, daß du die Partitur als ganze nimmst, aber du brauchst … als Handlung könntest du sehr viel mehr erzählen, die ganze Vorgeschichte könntest du zusätzlich erzählen. Du wärst nicht so begrenzt in der Handlung. Es passiert ja in dieser Oper zeitweise gar nichts.
Müller
Ja, fast nichts.
Kluge
Du könntest also gewissermaßen die Geschlechterfolgen, die der Isolde vorangehen, und die Geschlechterfolgen, die dem Tristan vorangehen, und alle Splitter, die König Artus’ Runde mit der Antike verbinden, noch zusätzlich erzählen. Samt dem Heidenkaiser … Also du könntest unglaubliche Mengen von Varianten an Dramen hintereinander wegerzählen. Ist das richtig?
Müller
Ja, das stimmt, ja. Das würde natürlich bedeuten … Bayreuth ist insofern ja schon eine Utopie, und das Geniale an der Idee dieser Festspiele ist, daß es einmal im Jahr ist, eine begrenzte Zeit.
Kluge
Ja.
Müller
Und kein Repertoire. Das ist schon genial. Das müßte man eigentlich ausbauen zu Vorstellungen, die 24 Stunden dauern. Das wäre die Konsequenz…
Kluge
Ja, wär die Konsequenz.
Müller
… und dann könnte man das machen.
Kluge
Ja. Dies könnte man …
Müller
Da ist eben das Problem, daß Theater im Moment doch auch als Ware genommen wird. Und interessant ist nur das Produkt, das verkaufbare Produkt, und nicht der Prozeß. Und das Theater wird sterben, wenn man es nicht schafft, den Akzent auf den Prozeß zu legen.
Kluge
Ja, weil es ist das einzige ist, was es für den Laien interessant macht, dem zuzugucken.
Müller
Ja.
Kluge
Ich kriege dann allerdings von demselben Drama 40 Varianten erzählt.
Müller
Ja, klar.
Tafel
Wolfgang Rihm über seine Zusammenarbeit mit Heiner Müller im Musiktheater
Kluge
Sie haben mit Heiner Müller zusammengearbeitet? Wolfgang Rihm: Ja.
Kluge
“Hamletmaschine”.
Rihm
Was heißt “zusammengearbeitet”? Durchaus im Sinne seiner Thesen zur Oper kommt jeder von seiner Seite und bringt das Seinige. Und das Seinige war schon da, und das Meinige kam hinzu und begann durch die kompositorische Arbeit zu etwas Neuem zu werden, “Hamletmaschine.” Ich halte es für einen der bedeutendsten Texte der letzten Zeit überhaupt.
Kluge
Was ist Ihre Auffassung von Oper?
Rihm
Gleich. Eigentlich habe ich ja immer versucht, wenn ich die Texte dann selber kompiliert habe oder zusammengefaßt habe, ich hab’s nicht versucht, aber es kam immer so ein Text heraus, der von der Dramaturgie der “Hamletmaschine” lebt. Also das ist vielleicht das Ergebnis dieser Zusammenarbeit, daß ich ein für allemal verbildet bin für Plapper-Libretti.
Kluge
Was ist die Auffassung von Heiner Müller von der Oper?
Rihm
Na, es gibt ja so einen Text, “Fünf Thesen zur Oper,” oder ich weiß nicht, wie heißt er genau? Ich habe es nicht parat, aber da steht unter anderem drin …
Kluge
Man muß sie abschaffen, man muß sie chaotisieren, man muß sie …
Rihm
Das wäre zu plump.
Kluge
… eher für sich …
Rihm
Nein, nein, das wäre zu plump. Aber daß die Bildebene, die Klangebene und die Sprachebene wirklich jetzt nicht aus einem gemeinsamen Zusammenhocken und dann: jetzt machen wir was Gemeinsames, wir arbeiten zusammen. Das entspricht mir sehr, diese Zusammenarbeitsmentalität ist nämlich ein frommer Betrug. Daß dieses genau nicht sei …
Kluge
Die Summe der Zusammenstöße.
Rihm
… sondern daß wirklich fremd, fremd, fremd zusammenkommt und dann nicht den Hut zieht und sagt, jetzt sind wir bekannt, sondern wir sind fremd und bleiben fremd, und dann gehen sie wieder auseinander. Aber an der Stelle, wo sie zusammenkamen, bleibt ein Mal, ein Zeichen zurück, und das ist dann das, was entstanden ist. Und das habe ich durch dieses Zusammenkommen erfahren. Vielleicht die Schilderung des Umstands der Begegnung ist vielleicht charakteristisch. Ich habe den Text der “Hamletmaschine” gelesen und war sofort überzeugt, das ist es, das ist der Text, den ich jetzt für Musiktheater brauche, oder der bringt mich auf den Weg in ein Musiktheater. Und war dann ein paar Tage später in Berlin, mittags angekommen, und bin in ein Lokal gegangen und da kam er rein, wir waren die einzigen Gäste. Da sprach ich ihn an, was ich sonst nie tue, also ich spreche nicht Leute an, das mache ich nicht gerne, aber weil ich ihm ein paar Tage vorher einen Brief geschrieben hatte, und er erinnerte sich gleich, ah, wunderbar. Und er sah, daß ich Zigarre rauchte, da war alles klar. Ich bot ihm eine Zigarre an und hatte die Möglichkeit, “Hamletmaschine” zu machen. Es war einfach … ja, diese große Geschwätz immer: ‘Jetzt machen wir was - zusammenarbeiten’ - jeder bringt.
Tafel
Blüchers Scheinschwangerschaft von 1815
Kluge
Der General, der Napoleon vernichtet hat und den Stoß auf Paris angeführt hat aufgrund Starrsinn, ist ja Blücher.
Müller
Ja, ja.
Kluge
Und der ist auch in Ligny besiegt, aber dann in Waterloo hat er die Wende gebracht und mit seinem deutschen Kontingenten Napoleon besiegt und damit das Vordringen der Zivilisation über den Rhein hinweg vorläufig abgebremst.
Müller
Ja, ja.
Kluge
Wie kann man den darstellen?
Müller
Es gibt doch diese Geschichte von seiner eingebildeten Schwangerschaft.
Kluge
Ja, stimmt.
Müller
Er lag …
Kluge
Scheinschwangerschaft.
Müller
… unter einem Pferd, glaube ich in …
Kluge
… in der Schlacht von Ligny.
Müller
Ligny, ja. Und …
Kluge
Also Napoleon griff an, er kommt von Elba, er hat etwa 400 000 Mann Truppen vereinigt, trifft als erstes auf die Preußen, die am schnellsten ihm entgegenziehen, vom Wiener Kongreß abgeordnet. Und hier greift er an, durchbricht die Front, kesselt das Ganze ein und zerhaut die ganze preußische Kavallerie. Einer der dort Liegenden ist - sein Bein unter einem Pferd - Leberecht von Blücher. Man weiß nicht, ist das Bein gebrochen, ein Adjutant verteidigt ihn gegen französische Dragoner, dann zieht man - hydraulisch gewissermaßen - wie mit einem Traktor diesen Feldherrn heraus, und ächzend wird er auf einer Bahre davongeschafft. Gneisenau entscheidet in der Nacht, wir ziehen uns nicht zurück, sondern wir verfolgen den Feind, obwohl wir besiegt sind. Dies war das Unerwartete, das sie nach Belle-Alliance, nach Waterloo führt und den Untergang Napoleons besiegelt. Und hinterher hat er diese Scheinschwangerschaft, also er fühlt sich von einem Korporal vergewaltigt.
Müller
Ja, das heißt, er wollte die Niederlage nachvollziehen.
Kluge
Er bekommt aber auch wirklich einen Luftbauch, einen gigantischen Bauch und sagt auf französisch: Ich bin schwanger. Er gibt auch vertraulich bekannt an Wellington, wann das Datum seiner Niederkunft ist. Er hält sich für eine Frau. Preußischer General. Der Gesandte von Schön versucht verzweifelt, ihn aus dem Verkehr zu ziehen in London - er ist eingeladen, ja, als Sieger. Und er aber läßt sich nicht aus dem Verkehr ziehen, trägt seinen Bauch umher und teilt mit, was die Komplikationen …
Müller
… wann er niederkommen wird.
Kluge
Ja, und die Komplikationen und die Gefühle, die Sensorien.
Müller
Ja. Es erinnert mich so an diese Bunraku-Geschichte, wo dieser kleine, dicke sechzigjährige Japaner, der diese drei Stimmen produziert: Die Stimme der geschändeten Tochter und die Stimme der aufgeregten Mutter und die Stimme des bösen Vaters. Und ich glaube, das Theater hat einen ungeheuren Verlust erlitten in dem Moment, wo geschlechtsspezifisch besetzt wurde.
Rihm
Marquis von Posa ist keine Frau.
Müller
Zum Beispiel. Und “Don Carlos” wäre viel interessanter, wenn Posa mit einer Frau besetzt wäre. Oder noch bei Shakespeare war es selbstverständlich, daß Frauen von Männern gespielt werden, das ist eine ganz andere Dimension. Und im japanischen Theater war es selbstverständlich, daß Frauen nicht spielen durften, nur Männer. Die berühmtesten Darsteller waren die Frauendarsteller. Es gibt eine japanische Geschichte über die Entstehung des Theaters, die finde ich ganz interessant in dem Zusammenhang. Das Theater ist entstanden, als über eine lange Zeit es keinen Regen gab, und die Göttin des Regens verweigerte also den Regen. Es mußte wieder regnen. Und da hat eine andere Göttin in einer Höhle einen Striptease gemacht. Da versammelten sich draußen alle Götter, um das zu sehen, und haben gelacht, und dann kam wieder Regen.
Kluge
Das heißt: der Regen ist das Lachen der Götter.
Müller
Ja, ja, ja. Aber ausgelöst durch …
Kluge
… Theater.
Müller
… die Obszönität des Theaters. Und auch durch die Weiblichkeit des Theaters. Die Oper ist natürlich im Verhältnis zum Drama ein weibliches Genre. Es ist die Auflösung des Dramas in die Weiblichkeit. Und da ist vielleicht auch ein Ansatz, um wieder auf das Theater anders zurückzukommen, um wegzukommen von dieser geschlechtsspezifischen Disziplinierung.
Kluge
Und dann auch wegzukommen, daß, wenn Oper, dann nur Oper, und sie dominiert alle Texte, und die Musik unterdrückt gewissermaßen. Also nicht die Entstehung, Wiedererweckung des Dramas aus dem Geiste der Musik, sondern die Entstehung der griechischen Tragödie, indem Musik und Drama miteinander koexistieren werden. So daß alle Formen entzerrt werden. Ist das deine Grundansicht? Ich denke schon, ja. Dann gibt’s natürlich noch einen anderen Punkt, daß in der griechischen Tragödie traten ja nur Tote auf, deswegen die Masken. Lebende traten nicht auf. Ich glaube, die einzige Ausnahme ist “Die Perser” - und das war ein politisches Agitationsstück. Da kamen Lebendige vor, weil sie gleich darauf getötet werden sollen.
Müller
Ja, ja.
Kluge
Wenn du so zum Beispiel solche Gedanken in Japan vorträgst, wie ist die Reaktion dort?
Müller
Das interessiert die schon. Weil das erinnert sie an ihre Traditionen, und sie fangen an, die wieder ernst zu nehmen. Und das war eigentlich mein Hauptinteresse da auch.
Kluge
Du hast aber einen sehr negativen Mythos auch in die Diskussion dort eingebracht aus Brasilien?
Müller
Ja, ja. Naja, das war der Punkt in Toyama. Weil die sind natürlich interessiert an Kulturaustausch, das ist so das Hauptwort bei diesen Konferenzen.
Kluge
… und verschleppen Dichter…
Müller
Ja. Und sie wollen europäische Kultur importieren. Und deswegen habe ich diese vielleicht böse Parabel erzählt aus Brasilien. Da gibt es im Amazonas-Urwald eine Ameisenart, die ist genetisch darauf programmiert, nur auf dem Boden zu laufen, also nur in der Waagerechten sich zu bewegen. Wenn ein Hindernis auftaucht, laufen sie drum’rum, sie können nicht steigen.
Kluge
Das ist wahr, das ist naturwissenschaftlich erwiesen. Das hat schon Alexander von Humboldt entwickelt.
Müller
Ja. Und da gibt es auf den Bäumen eine Pflanze, eine Blume, die ihre Sporen abwirft auf den Boden, und da fallen sehr viele auf Ameisen, und diese Sporen arbeiten sich durch den Chitinpanzer der Ameisen in den Körper der Ameisen bis ins Gehirn und ändern das genetische Programm so, daß die Ameisen die Bäume hochlaufen. Wenn sie ganz oben sind, und es geht nicht weiter, krallen sie sich fest, sterben, und aus dem Kopf wächst die Blume. Das ist so ein Beispiel für kulturellen Austausch. Also die Gefahr und die Hoffnung. Das Problem ist die Tendenz zur Festivalkultur, die die kulturelle Substanz natürlich aushöhllt, weil Kultur muß letztlich regional entstehen und wachsen. Das widerspricht aber den Interessen der Wirtschaften.
Kluge
Der Wirtschaft oder derjenigen, die Ornamente …
Müller
… die an Kunst verdienen.
Kluge
… der Wirtschaft zuarbeiten. So daß also Repräsentanz, berühmte Namen, Edelsteine - früher hätte man Edelsteine exportiert, jetzt hängt man sich ein paar Dichter um oder Musiker oder Opernhäuser. Wenn du einmal an die Jahrhundertwende denkst, also 1999 liegt ja vor uns. 1899 war die Jahrhundertwende um ein Jahr gegenüber dem Kalender vorgezogen, da man so neugierig war, weil ein Impuls war - durch Gesetz wurde also das Jahr 1900 durch das Jahr 1899 als Jahrhundertwechsel ersetzt. Wenn du einmal mir 1799 beschreibst. Es ist das Geburtsjahr Puschkins, es ist gleichzeitig das Jahr der Expedition Napoleons nach Ägypten. Es ist wie viel Jahre nach der Handlung von “Der Auftrag”? Also deine Leute … sind nach dem Brumaire.
Müller
Nein, vor dem Brumaire …
Kluge
Vor dem Brumaire.
Müller
… werden sie geschickt nach Jamaika, um diesen Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft zu organisieren, und kurz bevor sie da die Explosion auslösen wollen, kommt die Nachricht vom Brumaire, damit ist für den …
Kluge
Napoleon hat die Macht ergriffen.
Müller
… Führer dieser Gruppe der Auftrag erledigt, es gibt keinen Auftraggeber mehr…
Kluge
Es gibt auch keine französische Revolution mehr.
Müller
… und es gibt keinen Auftrag mehr. Und jetzt beginnen die Geschäfte.
Kluge
Wenig später haben wir jetzt Jahrhundertwechsel. Wenn du dich einmal hineinversetzt in dieses scheinbare Ende des 18. Jahrhunderts, es dauert dann bis 1815 in Wirklichkeit. Aber man glaubt eine kurze Zeit lang, daß das Jahr 1800 irgend etwas Neues brächte. Und deswegen wird alles, was man so noch an Vorhaben hat, in das Jahr 1799 hineingestopft.
Müller
Ja, ja. Ist eine schwierige Frage für mich, weil ich glaube, das passiert jetzt auch wieder, daß man, d.h. inzwischen ganz irrationale Hoffnungen setzt in die Jahrhundertwende.
Kluge
Das ist eigentlich eine Idee für Buchhalter.
Müller
Ja, ja.
Kluge
Weil, sozusagen, man hat schon den Eindruck, daß man einen Vorrat von 900 Jahren in die Bücher einführt. Aber es sind Bücher. Das ist eigentlich eine Romanidee, daß sich zum Ende des Jahrhunderts etwas wandelt und das nicht längst …
Müller
Ja, ja. Man darf natürlich nicht unterschätzen die Wirkung auf die Gehirne, also daß so eine Zahl, auch wenn sie real nichts bedeutet …
Kluge
Hat magische Kraft.
Müller
Genau. Auch wenn sie ganz willkürlich gesetzt wird oder gesetzt ist, hat sie natürlich eine magische Wirkung, und da kann schon was entstehen. Einfach aus dem Gefühl, daß etwas vorbei ist und daß man vor einem Vakuum steht, vor einer leeren Fläche, die man jetzt beschreiben muß oder mit der man irgendwas machen muß.
Kluge
Auf was würdest du als ein Chronist von 1799 zurückblicken? Stell dir vor, du hast ein Drama zu schreiben, und der Autor wird vergattert. Er hat grobe Nachteile, sein ganzer sansculottischer Hintergrund wird aufgedeckt, es sei denn, er schreibt jetzt ein Drama, das gewissermaßen die Errungenschaften des 18. Jahrhunderts noch einmal vor dem Auge des Publikums vorüberziehen läßt, dann ist er unangreifbar. Also ein echter Renegat, ja, er muß noch einmal positiv und aktiv das ganze Jahrhundert beschreiben.
Müller
Mmh, ja. Das ist doch der Schnitt eigentlich oder der Bruch zwischen dem Urfaust und dem zweiten Teil.
Kluge
Das kann man wohl sagen.
Müller
Dem ersten Teil von “Faust” und dem zweiten Teil.
Kluge
Kann man sagen. Ja, genau.
Müller
Und der zweite Teil ist ganz projektiv.
Kluge
Ja.
Müller
Es sind nur Projektionen.
Kluge
Ja.
Müller
Und das geht bis zur Form der Revue.
Kluge
Ja.
Müller
Und …
Kluge
… fängt vor vielen Millionen Jahren an, wenn die Erzengel singen, und endet mit einer Zukunftsvision, die in die neunziger Jahre unseres Jahrhundert reicht, mit Kanalbau und allen Schikanen, Untergang von Philemon und Baucis. Aber es ist tatsächlich ahistorisch.
Müller
Ja, ja. Das ist vielleicht das Interessante daran, daß mit so einem Datum verbunden wird die Idee oder vielleicht eher das Gefühl, daß die Geschichte zu Ende ist. Man muß die Geschichte neu erfinden.
Kluge
Ja. Man hätte eine Tabula rasa. Als ob nicht die Geister des neuen Jahrhunderts längst wie Partisanen unter uns weilen, wie Gespenster bereits eingedrungen sind, so daß man also…
Müller
Da gibt’s übrigens nicht auch bei “Fatzer” einen tollen Text, Fatzer sagt irgendwann: “wie früher Geister kamen aus Vergangenheit, so jetzt aus Zukunft ebenso.”
Kluge
Die Geister kommen aus der Zukunft?
Müller
Die Geister aus der Zukunft, ja.
Kluge
Das ist interessant. Das ist sehr gut.
Müller
Das finde ich einen tollen Gedanken.
Kluge
Und die Geister aus der Zukunft dringen tatsächlich in Verdun ein und werden 1939, werden Auschwitz produzieren.
Müller
Wobei ein anderer Aspekt ist natürlich, daß der Schlieffen-Plan beruhte ja auch auf der ununterbrochenen Bewegung. Und Moltke hat diese eine Korrektur gemacht an dem Plan. Für Schlieffen war klar, daß der mittlere Teil, der Frontabschnitt …
Kluge
Stehenbleiben.
Müller
… nein, Schlieffen wollte ihn beweglich halten und auch die Franzosen nach Deutschland hereinlassen, damit die Bewegung erhalten bleibt. Und Moltke hat aus Patriotismus die Mitte festgemacht und damit eigentlich den Stellungskrieg provoziert, und das heißt, die materielle Überlegenheit des Gegners zum Tragen gebracht.
Kluge
Beziehungsweise die eigenen und des Gegners mechanischen Waffen über das, was sozusagen der Mensch machen kann, ausgelöst.
Müller
Ja, ja.
Kluge
Es wurden erst die Pferde, dann die Menschen beseitigt, und zum Schluß bleiben nur noch die Maschinen übrig.
Müller
Die Maschinen, ja, klar.
Kluge
Du hast ja einen Dramenentwurf, den du machen willst, und deine Anspielung auf 24 Stunden verstehe ich so, daß von Stalingrad bis Berlin das ein 24-Stunden-Werk wird. Wenn du aber jetzt die Aufgabe auf dich nehmen müßtest, zur Strafe, du solltest einen Abschied von 1914 machen, Abschied von 1916 und Abschied von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs - Fortsetzung, also “Fatzer”, zweiter Teil. Was würdest du machen? “Faust”, zweiter Teil, “Fatzer”, zweiter Teil.
Müller
Das ist ein wirkliches Problem, das weiß ich nicht. Weil im Moment sieht es für mich so aus, daß in diesem “Fatzer”-Text alles auch beschrieben ist, was jetzt passiert, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist.
Kluge
Und was jetzt, 1989, passiert.
Müller
Und was jetzt, 1989, passiert. In dem “Fatzer”-Material gibt es am Anfang - also, es ist nicht datiert bei Brecht, aber… - eine Szene im Ersten Weltkrieg. Die beschreibt die Erfahrung der Materialschlacht, das ist eine Verzweiflungsreaktion darauf, und der Koch, der später der Lenin wird, also der Funktionär, schreit …
Kluge
Der Koch? Oder heißt er Koch?
Müller
Koch, Koch. Er heißt Koch. Ja.
Kluge
Er heißt Koch, er ist kein Koch.
Müller
Später, in einer anderen Version, heißt er Keuner, und das wird dann eine Lenin-Figur, das war aber nur geplant von Brecht, nicht geschrieben. Und der schreit in der Schlacht, überall ist der Feind und es wird geschossen usw. Und dann kommt dieser enorme Schluß, wo er sagt, “wo soll man da hinfliehen, überall ist der Mensch.” Und dann sagt Büsching, “der Mensch ist der Feind und muß aufhören.”
Kluge
Was verstehst du unter Materialschlacht?
Müller
Du … Verdun, was immer … oder an der Somme, und einfach diese Erfahrung des Angenageltseins an den Boden oder in den Graben und das Ausgeliefertseins dieser Maschine.
Kluge
Die Menschen sind angeschmiedet, durch Befehl, und die Materialschlacht ist im Grunde die tote Arbeit gegen die tote Arbeit.
Müller
Ja, ja. Und deswegen dieser Schluß, der Mensch ist der Feind und muß aufhören. Der Mensch, der sich so materialisiert hat in dieser Maschine. Das finde ich einen ganz enormen Punkt in dem Text. Und da hast du auch, worüber du sprachst vorhin: eigentlich den Entwurf von Auschwitz in der Materialschlacht. Und zum Beispiel, wenn man eine Entsprechung sucht zu dem nationalen Stoff von Shakespeare, die Rosenkriege: so was gibt’s in Deutschland nicht. Es gibt in Deutschland keinen nationalen Stoff. Deswegen ist so interessant die Schwärmerei von Schiller, auch von Goethe eine Zeitlang, für Friedrich den Großen. Das war die Hoffnung auf einen nationalen Stoff, aber es ging nicht. Schreiben konnte man es nicht. Er war nicht dramenfähig.
Kluge
Da gibt es eine Kontinuität, nämlich die Kürze der Wiedervereinigung, also ‘70/‘71, das reichte bis ‘45, und jetzt kommt wieder eine neue Wiedervereinigung, auf der einen Seite, auf der anderen Seite die hohe Kontinuität der beiden Weltkriege. Also was 1914 begann, ist 1918 nicht beendet und geht über die Freikorps und alle möglichen Entwicklungen bis 1939.
Tafel
Zum Fatzer-Fragment
Müller
Genau. Und das ist der Punkt bei “Fatzer”. Schon die Namen. Ich muß vielleicht kurz die Geschichte erzählen. Die ist nicht zu Ende geschrieben bei Brecht, aber es gibt eine Fabelerzählung von Brecht selbst. Er beschreibt das so, also vier Soldaten im Ersten Weltkrieg in Frankreich beschließen den Krieg zu beenden, also zu desertieren. Der Titel ist “Liquidation des Ersten Weltkriegs durch Johann Fatzer”. Fatzer ist die führende Figur bei dieser Desertion. Und da gibt’s zum Beispiel einen Satz, er erklärt den anderen die Lage, macht eine Zeichnung, wo er beschreibt, daß Feuer und Wasser auf beiden Seiten gegeneinander stehen, d. h. der, auf den wir schießen, ist unser Bruder, hinter ihm steht unser Feind, hinter uns steht unser Feind, der auch sein Feind ist - und so, also Lenin…
Kluge
Ja.
Müller
Und dann sein letztes Argument ist schließlich weil die anderen zögern noch: “Jetzt rauche ich unseren Tabak auf, weil es die eiserne Ration ist, damit ihr nichts mehr habt, denn sonst macht ihr noch weiter.” Dann ist Schluß, und dann gehen sie nach Mülheim, da ist auch die Ortswahl interessant …
Kluge
Mülheim/Ruhr?
Müller
Mülheim/Ruhr. Und verstecken sich in der Wohnung eines der vier, der aus Mülheim stammt, und warten auf die Revolution.
Kluge
Und die kommt nicht.
Müller
Und die kommt nicht. Und dann gibt es den Kernsatz: “Der Krieg hat uns nicht umgebracht, aber bei ruhiger Luft im stillen Zimmer bringen wir uns selber um.”
Kluge
Wenn du das Wort “Gaskrieg” hörst, was stellst du dir da vor? Du hast ja Gaskrieg selber nicht kennengelernt? Das gab’s ja nicht.
Müller
Ja, ich habe noch eine Gasmaske getragen, aber es gab keinen Gaskrieg mehr. Und das ist ja auch interessant, daß der Zweiten Weltkrieg keine Erfahrung mehr geworden ist. Der Erste Weltkrieg war eine Erfahrung für alle Beteiligten.
Kluge
Churchill hätte nicht widerstanden. Aber Hitler, der wußte, was Gaskrieg ist, hat widerstanden. Das war einer der wenigen Punkte, an denen dieser Mann irgendeine Hemmung hatte. Und wenn du aber mal das Wort Gaskrieg hörst, wie stellst du dir das vor? Wenn du’s inszenieren solltest.
Müller
Ja, der Hauptpunkt ist die absolute Hilflosigkeit, das Zurückgeworfensein auf animalische Reaktionen.
Kluge
Weil…
Müller
Für mich ist eine Metapher für den Gaskrieg was ganz Dummes. Ich war in Disneyland bei Los Angeles und bin mit dieser Montblanc-Bahn gefahren, ich weiß nicht, ob du die kennst. Du fährst also durch einen kleinen Montblanc mit einer ungeheuer schnellen Bahn, und es ist stockdunkel da drin, und die Kurven sind gewaltig, und plötzlich bist du völlig zurückgeworfen auf eine ganz kreatürliche Angst, dich festzuhalten in den Kurven, das ist die Erfahrung des Gaskriegs, die ich kenne.
Kluge
Und das wäre jetzt, wenn deine Lunge das macht, ja.
Müller
Ja, ja. Genau.
Kluge
Die als letzte versagt, du kannst ja nicht willkürlich ertrinken…
Müller
Ja, klar.
Kluge
… also du kannst dich nicht selber ertränken, denn im letzten Moment würde die Lunge, im Gegensatz zu deinem Verstand oder Herzen, dich wieder hochtreiben.
Müller
Ja, ja. Genau.
Kluge
Und die kommt in Gefahr.
Müller
Und der eigentliche Punkt ist die: der Erstickungstod ist - jedenfalls in der Vorstellung - der schrecklichste.
Kluge
Gleichzeitig die ewige Westwindrichtung unseres Planeten. Und insofern - wir haben den Gaskrieg erfunden, aber das Gas wehte in unsere Richtung eher, wahrscheinlicher, als daß mit Ostwind es rüberweht.
Müller
Ja, ja.
Kluge
So daß man Windstille eigentlich nur brauchte.
Müller
Deswegen sind die Armenviertel ja immer im Osten der Städte.
Kluge
Der Sigmund Freud hat 1917 einen Kongreß in Budapest der Psychoanalytiker abgehalten, alle kamen in Uniform von K. u. K.-Militärärzten, er alleine in Zivil. Er hat gesagt, auf den Schlachtfeldern der Liebe liegen die eigentlichen fürchtenswerten Gefahren - davon handeln wir. Deswegen sind wir auch in der Lage, die sekundären Gefahren auf den Schlachtfeldern der Wirklichkeit zu heilen. Sie konnten alles heilen, die Psychiater konnten gar nichts heilen.
Müller
Ja, ja.
Kluge
Er war ja nun jemand, der vom Unbewußten was versteht. Es gibt außerdem ein gesellschaftliches Unbewußtes, das nicht psychologisch fundiert ist, sondern darauf beruht, daß die Gesellschaft systematisch Teile von sich nicht wahrnehmen kann, sozusagen die Toträume. Die wichtigsten Teile kann die Gesellschaft nicht wahrnehmen. Wie kann ein Drama das kenntlich machen, ohne zu belehren?
Müller
Na, ich glaube, eine ganz wichtige Voraussetzung ist erst mal die Aufhebung der Geschlechtsspezifik, das ist das eine, aber das ist ja nur ein Bild, Oberflächenbild für die Gleichzeitigkeit von Lebenden und Toten. Und die muß man im Drama behaupten, daß Tote genauso agieren wie Lebende und Tote anwesend sind, wenn die Lebenden agieren. Und da kommt man auf das Problem der Zeit auf eine ganz andere Weise. Und davon lebt das Drama eigentlich. Bei Shakespeare war es noch ganz selbstverständlich, daß Tote anwesend sind.
Kluge
So daß du sagen würdest, das Unbewußte läuft in Wellen, es war irgendwann mal bewußt, jetzt ist es wieder unbewußt, jetzt ist es wieder bewußt usw.
Müller
Und man kann es kenntlich machen vielleicht über die Anwesenheit, die Präsenz der Toten.
Kluge
Eigentlich ist das, was du predigst, Epik.
Müller
Ja, ja, ja. Das ist eigentlich der Kern von Brechts Theorie des epischen Theaters, glaube ich.
Kluge
Was würdest du sagen, was dein Erfahrungssatz bei diesem Japanbesuch war?
Müller
Imponierend ist schon, wenn man hört, es gibt 25.000 Schriftzeichen. Um eine Zeitung zu lesen, brauchst du 1.800. Das ist schon unvorstellbar, 1.800 Schriftzeichen lernen, um eine Zeitung lesen zu können. Das erklärt auch die Rigorosität des japanischen Schulsystems. Aber 25.000, das können sicher die wenigsten, aber die gibt es. Das ist unvorstellbar für uns.
Kluge
Das wäre aber ein ungeheuer reiches System von Wurzeln. Denn ich meine, irgendwer wird ja diese 25.000 verschiedenen Bedeutungen irgendwann einmal empfunden haben. Und das liegt weit unterhalb dessen, was sie tun. Das heißt, vielleicht sind sie im gesellschaftlichen Unbewußten mehrfach so stark, und im gesellschaftlichen Bewußtsein können sie es sich leisten, etwas zu lernen, was sie nicht verstehen.
Tafel
Anti-Oper / Materialschlachten von 1914 /