Europa blickt aufs Morgenland
Transkript: Europa blickt aufs Morgenland
EUROPA BLICKT AUFS MORGENLAND / Ein Reisebericht von Hans Magnus Enzensberger
- Text
- Hans Magnus Enzensberger besuchte die Länder des MAGHREB, den “Westen des Morgenlandes” / Wie geht man mit den Phantasien um, die sich auf den ORIENT beziehen? / Was heißt Orientalismus? / Ist eine Justierung des 1000-jährigen europäischen Blicks aufs Morgenland angezeigt? / Begegnung mit dem Poeten HANS MAGNUS ENZENSBERGER –
- Text
- EUROPA BLICKT AUFS MORGENLAND / Ein Reisebericht von Hans Magnus Enzensberger
- Enzensberger
- Die Wörter Orient oder Morgenland sind ja keine neutralen Ausdrücke, die gehören zum Gepäck und jetzt kann man sich natürlich überlegen und wenn man jetzt da hin geht, kann man jetzt versuchen ein bisschen zu überprüfen oder zu verifizieren, ob davon etwas wahr ist, ob da etwas Wahres dran ist.
- Kluge
- Es ist notwendig falsches Bewusstsein, wie Marx sagen würde, und eine der wertvollsten Quellen, um neugierig zu sein.
- Enzensberger
- Ja. Nun ist es ja auch so, ich glaube, die Deutschen sind da in einer ganz besonderen Lage, ich sage immer, wir haben, die Deutschen haben in sich einen Südpol und einen Nordpol, einen Westpol und einen Ostpol, die haben die ganze Windrose.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Enzensberger
- Und alle diese Himmelsrichtungen sind mit Phantasien voll. Also der Westen, ob es der Wilde Westen ist oder Amerika, der Osten ist Rußland, die Slawenwelt…
- Kluge
- … und der Erzfeind Frankreich bloß.
- Enzensberger
- Ja. Dann der Norden, es gibt auch eine nordische Phantasie. Ich meine, es gibt Leute, die fahren jedes Jahr nach Lappland, weil sie dort etwas vermuten. Und genauso gibt es Leute, die fahren in den Süden und da ist das natürlich historisch hoch besetzt durch die Vorstellung vom Mittelmeer, Mare Nostrum. Und jetzt fährt man dann da hin und natürlich in verschiedenen Maßen bildet sich das je nach der Vorgeschichte ab. Man muss vielleicht dazu sagen, daß diese nordafrikanischen Länder auch keinerlei Einheit bilden, also der Maghreb ist eine Konstruktion, weil politisch und gesellschaftlich stehen die eher mit dem Rücken zueinander. Das ist wie Spanien und Portugal zum Beispiel, die wollen ja gar nicht viel voneinander wissen. Und so ist es dort auch. Da gibt es Konflikte, da gibt es…, diese Einheit der arabischen Welt ist sowieso eine Wahnvorstellung, das gibt es ja gar nicht.
- Kluge
- Es ist ja eine alte Tradition: Reisebeschreibungen…
- Enzensberger
- Ja, ja gut, also mit allem Vorbehalt, aber das ist ja ein sehr patriarchalisches Land, Marokko, wo sehr viele alte Dinge noch sichtbar sind. Trotz des Tourismus, trotz der ganzen Probleme… Es ist eine Monarchie, der König ist sehr mächtig und er ist über den Parteien, das heißt also auch, ob islamisch geprägte Leute, westlich orientierte Intelligenzler usw., da würde jeder davor zurückschrecken den König zu beleidigen, das kann nicht sein. Und das drückt sich dann in der ganzen Gesellschaft eben aus, da gibt es etwas…, ja, das Patriarchalische, das aber ohne Fanatismus ist. Also in diesem Land, Marokko, deswegen ist es ein angenehmes Reiseland, weil dort die Schärfe dieser Auseinandersetzungen nicht bis in diesen Westen, bis in die atlantische Seite…, Maghreb heißt ja Westen, also das ist da nicht vorgedrungen. Gut, wenn man über Palästina spricht, kann es Erregungszustände geben bei manchen Leuten, aber innenpolitisch gibt es keine Alternative zu dieser… Und die Langsamkeit der Entwicklung, die man vielleicht als Ökonom beklagen kann, ist vielleicht kulturell kein Nachteil.
- Kluge
- Es ist ja ein sehr altes Land ganz offenbar. Die Berber sind 60 Prozent sogar der Bevölkerung, die sind ja noch vor den Römern, vor den Karthagern dort ansässig, also 3000 Jahre.
- Enzensberger
- Ja. Und man kann das ja beobachten, weil wenn man ein bisschen den Blick geschärft hat, sieht man sofort was die Leute anhaben. Die Berber tragen andere Kleidung, die tragen so bunte…, auch die Frauen gehen unverschleiert…
- Kluge
- … haben ein eigenes Recht, ein eigenes Gewohnheitsrecht, das konkurriert mit dem arabischen Recht, mit Talmud-Recht, mit französischen Recht, das heißt, es gibt viele Rechtssysteme, eigentlich sehr urban in der Hinsicht.
- Enzensberger
- Ja und in der Beziehung sind diese ganzen Länder und da würde ich auch die anderen nicht ausschließen… es ist alles spürbar. Also die Präsenz der Römer ist zum Beispiel sehr eindrucksvoll. Da gibt es Städte, die damals wirklich an der äußersten Grenze lagen, wo es auf den Landkarten heißt “Hic sunt leones.”, hier kommen die Löwen, also die Wüste sozusagen. Da gibt es Städte, in der Nähe von Fez haben wir eine gesehen, dann in Tunesien, da gibt es riesige Römerstädte, sehr eindrucksvoll, große Städte und es gibt zum Beispiel ein Kolosseum im Süden von Tunesien, das fast so groß und besser erhalten ist als das römische. Also man staunt über die Energie, mit der die Römer da vorgegangen sind und den Reichtum, den sie offenbar auch sich angeeignet haben, denn solche Riesengebäude dort zu errichten…
- Kluge
- … Thermen, Theater…
- Enzensberger
- Alles, alles, Forum…, es ist alles da. Und das ist merkwürdig. Und es gibt eben, wenn man sich ein bisschen darauf einlässt, sieht man diese ganzen Schichtungen, die Phönizier in Tunesien…
- Kluge
- Händler, die bauen nicht so viel, aber haben Häfen…
- Enzensberger
- … Häfen, Schiffe…
- Kluge
- … und die Vandalen, also die sozusagen aus unseren Breiten kommen und das ja auch ein paar hundert Jahre in Besitz halten, sind die noch erhalten außer ein paar blauen Augen?
- Enzensberger
- Das kann man manchmal an den Leuten sehen, aber sie haben ja nichts gebaut, also insofern haben sie ihren Ruf sogar verdient.
- Kluge
- … Vandalen, haben einmal von dort aus Rom erobert.
- Enzensberger
- Ja, das stimmt.
- Kluge
- Und dann kommt jetzt wieder die byzantinische Herrschaft.
- Enzensberger
- Ja gut, die hat sich nicht bis Marokko erstreckt, aber dann, bis Algier kamen ja dann die Türken, also das Osmanische Reich. Und man muss dann da genau unterscheiden, zum Beispiel, während Algerien war Kolonie, Department des Mutterlandes, gehörte also zu Frankreich, war annektiert. Während Marokko war nur ein Protektorat. Und das sind Nuancen, die durchaus eine Rolle spielen, also das ist viel entspannter. Die hatten ja auch nicht diesen riesigen Krieg wie die Algerier hatten, den Krieg mit den Franzosen, ein sehr brutaler Krieg von beiden Seiten, das hatten die Marokkaner nicht und die Tunesier auch nicht. Und ich meine, wenn man schon da ist und wenn man, auch als Ignorant muss man diese Nuancen aufsuchen, die Unterschiede. Das ist sehr spannend, weil es sich herausstellt, daß nichts vergessen wird in gewisser Weise. Während die Algerier zum Beispiel ein monströses Museum des Befreiungskrieges, voller verrosteter Maschinengewehre haben, alte Funkgeräte, es hat etwas Berührendes, aber auch etwas Schreckliches, weil der Gründungsmythos ist eben ein Krieg. Und das ist anders als ein Land, das einen friedlichen Weg…
- Kluge
- Während hier ist in Marokko kein Gründungsmythos notwendig…
- Enzensberger
- … nicht notwendig, weil der König da ist.
- Kluge
- Und alte Pracht. Deswegen auch diese vielen schönen Filme, deswegen die Faszination von amerikanischen Präsidenten für Marokko.
- Enzensberger
- Ja. Und da kommt man natürlich auf diese Frage, was diese Bilderwelt bedeutet.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Enzensberger
- Und da gibt es ja in den letzten Jahrzehnten…, gab es eine, man kann sagen herrschende Meinung oder eine herrschende Theorie in den Kulturwissenschaften auf der Basis von Edward Saids Werk „Orientalismus“. Er hat das alles sehr gut gekannt, er hat das alles studiert, wie diese Europäer sich den Orient eben vorstellen. Aber er hat daraus eine merkwürdige Konsequenz gezogen, das wäre alles verrotteter, rassistischer kolonialistischer Unsinn, ganz falsch, weil die europäische Orientalistik diesen Länder überhaupt einen Teil ihrer Erinnerung wiedergegeben hat, die ganzen Linguisten, die ganzen Kulturwissenschaftler, Historiker, Ethnologen, die haben da ja unglaublich viel gefunden und gearbeitet. Also es ist auch eine gewisse Undankbarkeit, würde ich mal sagen, weil er aufgrund der Kolonialgeschichte das alles in Grund und Boden verdammt. Und das ist aus vielen Gründen eine These, die ich sehr fragwürdig finde. Man könnte zum Beispiel den Spieß auch mal umdrehen und sagen, was für Vorstellungen haben denn die Orientalen, sagen wir mal die Orientalen, vom Westen? Also Okzidentalismus könnte man ja auch statuieren, die haben ja auch verzerrte Bilder, die haben auch nicht Bilder die 1:1… die haben auch Phantasien, die haben Phantasien von uns, die wir auch merkwürdig finden. Also so was gehört dazu.
- Kluge
- Und es wäre nicht beleidigend, wenn die zu uns kämen und uns Eingeborene untersuchen und sehen, da ist ein merkwürdiger Karl der Große, der mordet 5.000 Sachsen,… Untertanen…
- Enzensberger
- Ja, das ist ein lehrreicher Blick. Oder auch eben dann…, das geht ja bis heute, selbst was die Massenmedien, was Hollywood, was die Werbung bringt, erzeugt natürlich auch Bilder vom Westen, die der Realität nicht unbedingt entsprechen, um es milde auszudrücken. Also ich meine, das ist ein Geben und Nehmen… muss das sein, mit diesen Bildern.
- Kluge
- Also das eine sind die Erkenntnisse. Die müssen natürlich irgendwann mal auch exakt sein dürfen…
- Enzensberger
- Die müssen überprüft werden, ja sicher.
- Kluge
- … überprüft werden. Aber auf der anderen Seite liegt das Motiv, daß ich überhaupt von dem Anderen was wissen will und das braucht auch Bilder und braucht auch…, dafür ist das egal, um Neugier zu entzünden, ob das Bild richtig oder falsch ist.
- Enzensberger
- Ja, da darf man nicht so heikel sein, ich meine natürlich, wenn Ingres einen Harem abbildet… es gibt ein berühmtes Bild von Ingres, diese Frauen da im Dampfbad…, also so, das ist… natürlich kann man sagen, das ist, erstens eine Männerphantasie…
- Kluge
- …eine Pariser Phantasie…
- Enzensberger
- …eine Männerphantasie, ist eine westliche Phantasie, das mag alles sein.
- Kluge
- … großstädtische…
- Enzensberger
- …aber trotzdem, ich meine das Türkische Bad ist eine große Errungenschaft. Da muss man auch mal sehen, daß diese Hygiene…, die waren viel hygienischer als die Europäer, die Europäer waren dreckig. Bis ins 18. Jahrhundert haben sie gestunken, das ist ja … am Hof von Versailles, das weiß man ja.
- Kluge
- Während dort…
- Enzensberger
- Während dort war Hygiene, das war eine großartige…
- Kluge
- Und Weiterführung römischer Hygiene, also die haben die römischen Bäder weitergeführt…
- Enzensberger
- Ja, das kommt vielleicht sogar aus Mesopotamien. Das mag sehr alt sein. Aber jedenfalls, das war vom Körpergefühl her eine tolle Sache. Und in dem Bild von Ingres ist auch das enthalten, nicht nur die Haremsphantasie, sondern das ist ja ein Wunschtraum, ich möchte auch so ein Bad haben. Das könnte man genauso gut herauslesen. Also das ist ungerecht zu sagen, das ist irgendwie eine politisch unkorrekte Phantasie. Die Phantasie ist nie politisch korrekt, das kann man sowieso vergessen. Unsere Phantasie ist so nicht zu bändigen durch irgendein Verbot. Und diese Bilderverbote, die da tendenziell sich andeuten, die finde ich ganz unsinnig und ich habe sogar den Verdacht, daß es möglicherweise mit dem Bilderverbot des Korans zu tun hat. Und daß dieser aufklärerische Herr Said in Wirklichkeit reproduziert einen Bilderhaß, der religiös bedingt ist, von dem er aber gar nicht redet. Die dürfen ja keine Menschenbilder machen nach dem Koran, deswegen die Ornamente, diese ganze Kunst, diese ganze wunderbare Kunst der Moschee ist ja bilderlos.
- Kluge
- Hier gibt es ein großes Gebirge, den Hohen Atlas, 700 Kilometer lang, und ein Berg ist 4.000 Meter hoch, also höher als eigentlich unsere Alpengipfel und dahinter gibt es noch einen Anti-Atlas, wenn Sie mir das mal beschreiben, wo sieht man so etwas?
- Enzensberger
- Ja, ich bin kein Bergsteiger, also ich kann nicht sagen, daß ich dort eigentlich war, aber man sieht natürlich diese Ketten und auch vom Flugzeug aus sieht man schon, wie dieses Land so quergestreift ist gewissermaßen. Und außerdem ist es dann so, daß sich in diesen Berggebieten natürlich auch die älteren Populationen halten, also das sind die Kabylen und die Berber, vor allem die Berber spielen ja eine große Rolle, weil die ja vor den Arabern da waren, das ist klar, das ist eigentlich… die Urbevölkerung dieser Länder waren die Berber. Und die haben sich lange… wurden auch unterdrückt, natürlich, die Eroberer kommen. Und da ist immer noch eine latente Spannung zu spüren. Also gerade in Algerien gibt es politisch große Differenzen…
- Kluge
- … aber Erfahrung von 3.000 Jahren Besatzungszeit.
- Enzensberger
- Ja. Und die ziehen sich dann, wenn es ernst wird, in ihre Täler zurück, in diese Bergzonen da zurück und man kann das an den Dörfern ja ganz deutlich sehen…
- Kluge
- Die wurden auch von den Franzosen nie wirklich besiegt…
- Enzensberger
- Nie. Nein, Nein.
- Kluge
- Emir Abd el-Kader ist doch ein Berber?
- Text
- Emir Abd el-Kader, Führer des Berberaufstands (1832-1847)
- Enzensberger
- Ja. Also da ist höchste Vorsicht geboten, die darf man nicht allzu sehr gegen sich aufbringen als Regierung. Und das sind so Verhältnisse, da sind Kompromisse möglich. Inzwischen gibt es natürlich auch sehr gebildete Berber. In Algerien haben wir mehrere Leute getroffen, die da in der Stadt…, also städtische Intelligenz geworden sind. Es ist merkwürdig, es ist vielleicht ein bisschen… mit den Kurden in der Türkei gibt es ähnliche Phänomene. Also man trifft in Istanbul viele Leute, die sich gar nicht als Kurden darstellen, aber wenn man ein bisschen nachfragt, sind sie Kurden. Das sind nur die Kurden, die eine Rolle spielen, die sich, ich will nicht sagen integriert haben, aber die eine Position einnehmen, die eigentlich für die Zukunft dieser Leute sehr, sehr wichtig sind. Also eine Art Diaspora in der Stadt. Die kommen vom Land, ein klassischer Aufstiegsweg natürlich und… Also so ist es nicht, daß die nur da Hinterwäldler wären, das ist nicht richtig.
- Text
- Die Säulen des Herkules
- Kluge
- Und hier, also an dieser Grenze der Kontinente, da war für die griechische Phantasie ein Bedürfnis, den Westen sicher zu machen. Also da wo die Sonne auf unheimliche Weise untergeht, da brauchen wir eine Säule und das ist das Gebirge hier.
- Enzensberger
- Ja, ja, insofern stimmt das, selbst wenn es falsche Etymologie wäre, ist trotzdem etwas Wahres dran, daß dieser Atlas eben die Befestigung, eine Art Befestigung ist, ja. Das ist ja auch merkwürdig, das geht ja so weit, daß heute immer noch der Streit zwischen Spanien und Großbritannien über Gibraltar…, das ist ja auch so ein Fels, der Fels von Gibraltar…
- Kluge
- Auch so ein Fels, der irgendwie den Himmel hält.
- Enzensberger
- Ja, ja und deswegen kann man ihn nicht loslassen, das ist ein politischer Konflikt. Die Leute die dort wohnen, wollen ja nicht zu Spanien…
- Kluge
- Da gibt es auch noch die Petersilieninsel, was ist das?
- Enzensberger
- Na ja, das ist ja ein aufgebauschtes Ding, das ist ja leer.
- Kluge
- Ein Eiland, da könnte nicht mal Robinson leben?
- Enzensberger
- Nichts. Also da ist nichts vorhanden. Aber das ist so eine Prestige-Eskalation, wie sie in der Politik immer wieder vorkommt, wo man dann sich in Positionen begibt, wo man nicht mehr so leicht zurück kann.
- Kluge
- Da fahren spanische Fregatten und Kriegsschiffe umher…
- Enzensberger
- Ja, eine Art Spiel, so als ob sich das jemand am Kartentisch in einem Hauptquartier ausgedacht hätte. So ein Manöver, eigentlich fast ein Manöver. Inzwischen hat sich das ja wieder beruhigt, man hat das dann geklärt…
- Kluge
- Durch eine amerikanische Garantie, also wie bei großen internationalen Konflikten.
- Enzensberger
- Ja. Die Amerikaner spielen da auch eine Rolle, was die eher runter spielen die Regierungen. Aber schon aus Gründen des Öls und der Strategie sind die Amerikaner stärker als man vermutet, auch in Algerien, die haben sehr großen Einfluss, was ideologisch überhaupt nicht zusammenpasst, aber was unter der Hand eine große Rolle spielt. Also der amerikanische Botschafter dort spielt eine große Rolle.
- Kluge
- Und sie haben jetzt im Süden davon eine große Abhörstation für die Gesamt-Sahara gerade jetzt errichtet, also es ist schon eigentlich wie 1912.
- Enzensberger
- Ja, das Spiel geht weiter. Die Illusion, daß die Außenpolitik irgendwie durch die Vereinten Nationen oder so was quasi stillgelegt werden könnte, das ist ja eine Illusion natürlich. Das ganze Spiel geht weiter mit Vorsicht, manchmal mit großen Fehlern, das ist auch nicht unriskant alles. Aber man tut vielleicht ganz gut daran. Und wenn ich da was damit zu tun hätte, würde ich die Geschichte der Außenpolitik sehr genau studieren. Metternich, Bismarck, all diese, ich würde das studieren. Und unser Lieblingskriegsverbrecher Kissinger hat das ja auch getan, der hat ein großes Buch über Metternich geschrieben. Andere haben über Bismarck gehandelt oder die französischen… Napoleon. Die haben das alles studiert, den Festlandsdegen, diese ganzen … das Konzert der Mächte, diese ganzen Sachen.
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Kluge
- Das ist alles mehr als Metaphern, das sind alles Erfahrungsgehalte…
- Enzensberger
- Ja, das ist alles überhaupt nicht vorbei.
- Kluge
- Und das ist wie ein Lehrbuch zu lesen, weil manche Abzweigung dort eine Lösung enthielt. Es war ja einmal beinahe so, daß der Erste Weltkrieg dort begonnen hätte. Das nennt man den Tigersprung von Agadir. Davor wurde ein Kanonenboot, ein deutsches Kanonenboot hingeschickt und der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt, glaube ich, griff ein.
- Text
- Deutsches Kanonenboot vor Agadir
- Text
- Deutscher Kaiser besucht Marokko
- Kluge
- Und unser Kaiser machte einen Besuch in Marokko und wäre beinahe ermordet worden. Unglaublich. Er fürchtete sich auch sehr.
- Enzensberger
- Ja und er trug ja auch den Titel „König von Jerusalem, der deutsche Kaiser. Ganz merkwürdige Sachen für uns, ja. Aber das sind eben auch… das enthält auch ein phantastisches Element natürlich, weil die Phantasie des Heiligen Landes und die Phantasie Tigersprung, also ich meine schon das Wort Tigersprung…
- Kluge
- Wobei das ein einfaches Schiffchen ist.
- Enzensberger
- Ja, merkwürdige Sachen, ja, ja.
- Kluge
- Aber es sind Machtphantasien, ähnliche Machtphantasien, die dann dazu führen können Präventivkriege 2003 in Gang zu bringen. Da gehört ja auch eine Vorstellung dazu.
- Enzensberger
- Ja natürlich, ja, ja, da gehören Vorstellungen dazu und auch Vortäuschungen, die gehören auch dazu. Ich meine, der Golf von Tonking, oder die Massenvernichtungswaffen, ich meine man muss auch ein bisschen lügen, wenn man so etwas macht.
- Kluge
- Ja. Und ich meine diese Vorstellung Bagdad ist ja genauso bildergeschwängert wie das, was Sie vorhin hier sagten, mit Marokko.
- Enzensberger
- Ja, all diese Sachen, merkwürdig.
- Kluge
- Ist das wirtschaftlich etwas Reiches? Also da sind ja die Brüder Siemens zum Beispiel langgefahren, für die deutsche Industrie…, um die Jahrhundertwende, Gelände okkupieren, Treibhäuser für…
- Enzensberger
- Ja, das ist die Sache mit dem Gelände, also mit dem Land, das ist ja schon ein Unterschied, wenn man in dem Maße, in dem man heute noch von Imperialismus sprechen kann, ist das ja nicht mehr wie früher. Es ist ja nicht über die Annektion, man annektiert ja nicht, man muss Stützpunkte haben und man muss wirtschaftlich siegen. Das ist glaube ich heute die Methode. Also deswegen, wenn man vom amerikanischen Imperium spricht, das ist anders. Die Besatzung ist eher lästig, das ist ja ein Fluch, wenn ich das Ganze besetzen muss mit meinen Leuten, das ist ja schrecklich. Sondern ich muss dort Handel treiben und ich muss einsatzfähig sein, das heißt, ich muss diese Stützpunktpolitik haben, das genügt ja. Ich brauche nicht das ganze Land zu verwalten, das ist ganz falsch. Es ist…, dieses Empire ist ein Empire neuen Stils. Das geht über die Banken, über den Weltwährungsfonds…, über solche Instanzen und ist nicht… Das Militär ist eigentlich nur die Drohung.
- Kluge
- Und es bricht aber immer wieder in der Krisenphase, also wenn irgendetwas nicht funktioniert, aus Gründen, die gar nichts mit dem Handel zu tun haben, dann gibt’s wieder den Rückfall in die früheren Perioden.
- Enzensberger
- Ja, ja, irgendwann mal ist der Punkt erreicht…
- Kluge
- Irgendwann haben wir den Boxeraufstand wieder wie in China, irgendwann haben wir das Phänomen hier der Marokko-Krise.
- Enzensberger
- Dann kommen noch Prestigegesichtspunkte ins Spiel, wo man nicht mehr zurück kann, wo man sich in Positionen begibt die schwer zu verlassen sind, ohne Gesichtsverlust. Und das ist natürlich auch das Problem des Nahen Ostens. Ich meine, wenn wir schon dabei sind, der Maghreb ist ja nicht die eigentliche politische Katastrophenzone, das ist ja dann im östlichen Mittelmeer. Und da denke ich gerne so an… ich habe da so private Helden in dem Palästina-Konflikt und das sind die Leute, ich meine, wenn man sich mal überlegt wie dieser Oslo-Prozess begonnen hat. Der hat begonnen mit privaten Kontakten und da war auch Diaspora dabei. Also ich kenne den Chefredakteur einer dänischen Zeitung, der jüdischer Herkunft ist, der war der erste Gastgeber im Ausland. Der hat von sich aus… der hat Leute kennen gelernt, ist oft in Israel gewesen und auch in Palästina und lernte ein paar Leute kennen, hat Vertrauen mit denen erworben, hat sie an einen Tisch gebracht. Dann ging die ganze Sache weiter auf einem etwas höheren Niveau informell in Oslo, mit dem dortigen Außenministerium waren da Leute involviert und da wurde eine kritische Masse erzeugt und erst dann hat man Non-Papers an die Regierungen, an die Mächtigen gegeben. Und so ist da eine Art Dynamik entstanden durch eine Art positiver Verschwörung möchte ich sagen, wo dann eine Lücke entstanden ist. Und in diese Lücke ist man hereingegangen, es hat nicht funktioniert, weil auf der obersten Ebene wurde es dann ausgetrickst…
- Kluge
- Beziehungsweise durch einen Mord, also durch ein Attentat wurden auch führende Personen beseitigt.
- Enzensberger
- Ja auch. Aber schon in Camp David wurden… die haben sich dann doch nicht dazu durchringen können. Das ist aber keine Sache, die ein für alle Mal verloren ist, denn wir haben ja jetzt gesehen in dieser Genfer Geschichte, die ist ganz ähnlich entstanden. Und das finde ich sehr… eigentlich sind das Helden des Friedens, weil das ja sehr gefährlich ist, die werden ja von beiden Seiten bedroht. Die Extremisten in Israel, die Orthodoxen, bedrohen die mit Leib und Leben. Wir haben an Rabin gesehen, das ist ja lebensgefährlich. Und umgekehrt auf der anderen Seite genauso. Also das sind Leute, da haben wir es vielleicht mit…, ja, man kann gewisse Figuren vielleicht mit dem deutschen Widerstand vergleichen. Das sind hochgefährliche Dinge, aber die enthalten einen Keim von Möglichkeit, der sonst nirgends zu finden ist. Und so etwas gibt es eben auch in diesen arabischen Staaten…
- Text
- „Prästabilierte Disharmonie“
- Kluge
- Sie haben einmal ein Gedicht geschrieben über „Prästabilierte Disharmonie. In Anspielung auf die prästabilierte Harmonie. Das heißt also, es gibt immer für jedes Gift ein Gegengift. Es gibt für jeden Bürgerkrieg, für jede Verschwörung aggressiver Art eine Gegenverschwörung.
- Enzensberger
- Ja. Für den drogierten Kindersoldaten gibt es dann irgendeinen Chirurgen, der die Leute versucht wieder zusammenzuflicken. Und so jemand, der die Wasserleitung repariert. Ich meine, auf der bescheidensten Ebene kann man das finden, weil sonst ein Überleben gar nicht möglich ist.
- Kluge
- Und das würden Sie auch sagen gilt für das Morgenland, auch für alle verwirrenden Verhältnisse.
- Enzensberger
- Es gibt immer wieder Leute, die das riskieren.
- Kluge
- Es gibt keine aussichtslosen Verhältnisse, das ist Ihr Lebensgefühl, Ihr poetisches…
- Enzensberger
- Ja. Also ich möchte es so ganz neutral… Man kriegt ja manchmal so die dumme Frage gestellt: Sind Sie eigentlich ein Pessimist? Sind Sie ein Optimist? Man kann ja… es ist ja ganz primitiv.
- Kluge
- Sie sind ein Beobachter…
- Enzensberger
- Man muss ja beides sein. Das ist eine falsche Unterscheidung. Ich würde eben einfach… ich sage dann: Es ist immer… die Partie ist nie zu Ende, die Partie ist immer eine offene Partie. Und es gibt ja diesen Gürtel von… das ist auch etwas am Mittelmeer, was ich ziemlich faszinierend finde, daß es diese Städte gibt, die alle eine Aura haben. Also es beginnt, sagen wir Tanger, dann Algier, also Algier, die Hauptstadt, dann Alexandria, dann Beirut und dann Istanbul. Also diese orientalischen Kapitalen, die sind alle sehr multikulturell gewesen, immer. Da waren die Griechen, da waren die Italiener, da waren die Franzosen, da waren vorher die Römer, die Türken, also es waren alle da. Es waren mal alle da gewesen und diese Blüte der Städte hat damit etwas zu tun. Und da wurde natürlich sehr viel kaputt gemacht durch die Vertreibung. Es gibt ja dauernd Vertreibungen, es wurden alle rausgeschmissen, Alexandria war eine wunderbare, internationale, kosmopolitische Stadt, die Stadt von Kavafis dem Dichter und so weiter, hat ja sehr viel Aura. Oder Beirut, damals sagte man als Klischee die Schweiz des Orients, ja, auch eine sehr aufgeklärte, sehr lebenslustige, tolle Stadt eigentlich, Beirut, bis eben diese politischen Zuspitzungen kamen. Der Bürgerkrieg hat…
- Kluge
- Eins nach dem anderen zerstört.
- Enzensberger
- …alles kaputt gemacht. Die Libanesen waren ja die, wie soll man sagen, die waren eigentlich die Juden des Morgenlandes. Ja, das waren die Juden des Morgenlandes, überall Händler, sehr erfolgreiche Leute…
- Kluge
- Phönizier im Grunde.
- Enzensberger
- Phönizier, ja. Also die Levante. Das war ja die Levante. Und ich meine, davon ist selbst in einem Land wie Algerien, das eigentlich Verdunkelung erlebt hat, 40 Jahre Verdunkelung, also eine tragische Geschichte. Trotzdem ist in dieser Stadt immer noch etwas davon da, das spürt man, mit all den Konflikten, die die haben, ist das eine Stadt, die da steht und die auch nicht wegzu-… die kann man nicht weg… Die Fanatiker können das nicht wegmachen, auch die Breschnew-Anhänger können das nicht wegmachen, das ist da.
- Kluge
- Auch die Folterer konnten das nicht.
- Enzensberger
- Wenn man den Hafen sieht, Sie sehen die Kasbah, wo der Bei da residiert hat und da gibt es auch einige Architektur… architektonisch kann man das auch noch sehen, ja, wie da unten ist zum Beispiel ein wunderbarer Palast, also diese französische Sache, das ist nicht wegzukriegen. Es gab zum Beispiel eine Arisierungspolitik natürlich aus nationalistischen Gründen wollte man das Französische abschaffen. Das ist nicht möglich, also da ist etwas, was trotz allem geblieben ist, möchte ich sagen.
- Kluge
- Und es ist ja eine poetisch-politische Übung quasi, sozusagen unser Europa zu sehen, zum Beispiel hier von West-Nord-Frankreich aus, sie sieht völlig anders aus, schon auf dem Globus, und von Australien sieht’s auch noch mal ganz anders aus und von Samarkand oder Tiflis auch wieder anders aus.
- Enzensberger
- Man muss sich solche Karten auch mal vorstellen, es gibt glaube ich einen Atlas, wo das Zentrum der Weltkarte immer woanders ist…
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Enzensberger
- …und da entstehen natürlich ganz andere Perspektiven.
- Kluge
- Völlig anders.
- Enzensberger
- Und was Europa betrifft, ich meine das war nun auch mal tausend Jahre lang so, daß das Mittelmeer das Zentrum war.
- Kluge
- Jetzt fahren Sie mal in Marokko umher. Also was haben Sie da gesehen?
- Enzensberger
- Naja, das ist eine… schon mit der Administration hat das seine Merkwürdigkeiten, weil der König ernennt einen Wali. Der Wali ist der Gouverneur einer Provinz. Daneben gibt es aber dann eine gewählte Vertretung. Also es gibt, es ist eine Doppelherrschaft gewissermaßen.
- Kluge
- Die müssen also miteinander sprechen.
- Enzensberger
- Ja, die müssen miteinander sprechen.
- Kluge
- Da grenzt eine Administration an die Clanwirtschaft.
- Enzensberger
- Ja, und wir haben so zwei solche Walis da besucht und oft war der Vertreter der gewählten… der gewählten, so landtagartig oder so was Ähnliches wie ein Landtag oder Kreistag, der war auch da und man hat die Reibung gemerkt, man hat also gemerkt, wie die miteinander auskommen müssen, wie Sie sagen, weil der eine, der kennt natürlich… der ist verwurzelt dort, während der Gouverneur ist entsandt, der kommt vom König, ja. Und es sind ganz altertümliche Sachen, zum Beispiel ein Dekan an der Universität erklärt mir, daß er lieber seine Forschungen machen würde, aber er ist durch Dekret des Königs zum Dekan ernannt worden und nur ein Dekret des Königs kann ihn davon befreien, von seinem Amt. Also das sind sehr altertümliche Verhältnisse in einem sich modernisierenden Land. Ich meine es gibt ja volle Autobahnen, es gibt Flughäfen, es gibt ja… also Marokko ist in dem Sinne nicht zurückgeblieben. Kann man auch nicht sagen, ja. Modernisierung ist im Gang. Aber zugleich…
- Kluge
- Aber es gibt sozusagen wie bei einem Erdbeben einen Riss zwischen der globalisierten Welt und der autochthonen.
- Enzensberger
- Ja, ja. Druck von beiden Seiten und die müssen, an dieser Verwerfungszone müssen sie miteinander Kompromisse schließen.
- Kluge
- Und wenn ich als amerikanischer Geheimdienstler jetzt ein Lehrbuch haben müsste, um meine Agenten zu unterrichten, wie man in Afghanistan oder im Irak irgendwelche Dinge schlichtet oder regelt, dann müsste ich eigentlich hier an solchen Verhältnissen lernen.
- Enzensberger
- Sollten Sie so was studieren, wie die…
- Kluge
- Weil ich ein Bergwerk von 3000 Jahren hier hätte…
- Enzensberger
- Im Kleinen. Also das kann man im Kleinen ganz genau studieren. Der eine war, der gewählte Mann war ein Grundbesitzer zum Beispiel, also Agrikultur, was dort ja auch eine wichtige Rolle spielt. Ich meine, die ganze Arbeitslosigkeit hat damit zu tun, daß die Leute Landflucht da… weil, weil es zu wenig abwirft, aber das war ein aufgeklärter Mann, der unternehmerische Ideen hatte und der wollte das durchsetzen, der wollte manche Regeln verändern und jetzt kommt da die Zentralregierung und die sagt: Ja, aber wie ist das in anderen Teilen des Landes? Wir können doch nicht das auseinander… das darf sich nicht auseinander, die Schollen dürfen sich nicht auseinander bewegen. Wir brauchen die Einheit des Landes, aber das ist auch nicht so einfach, weil im Süden ist es wieder ganz anders, ich meine diese Länder sind ja auch in dem Sinne… da gibt es ja auch Nomaden. Im Süden in der Wüste, da sind ja Nomaden. Und dann gibt’s Leute wie in Tanger, das alte Tanger mit einer absolut…
- Kluge
- Völlig städtisch.
- Enzensberger
- … urbanen, städtischen Mentalität und der König hat eben die Aufgabe das zusammenzuhalten.
- Kluge
- Und dazu brauche ich eine Menge Geschichten, Irrationalismus, Phantasie, so wie bei Spínola, dem portugiesischen Präsidenten, der einen Moment Nordportugal und Südportugal in der Revolution zusammenhielt, und wenn er entfällt mit seinem Monokel, dann bricht das auseinander.
- Enzensberger
- Naja gut, also ich meine dieses Marokko ist natürlich schon für uns das zugänglichste und das interessanteste, während in Algier trifft man eben immer noch an die Betonwände. Das ist durch diese Einheitspartei, durch den ganzen Konflikt mit Frankreich verhärtet. Da gibt es diese alten Genossen, die alten Kämpfer, also das Phänomen des alten Kämpfers, der nicht weg… Der natürlich in einer Welt lebt, die nicht mehr vorhanden ist, aber der die Macht hat, die Militärs…
- Kluge
- Das Blut seiner Kameraden.
- Enzensberger
- Ja, die Fahne.
- Kluge
- Gestapelt, wie eine Bank.
- Enzensberger
- Diese ganzen Völker haben in ihrem Hinterkopf eine sehr prägende Erinnerung an die Glanzzeiten des Kalifats, wo…
- Kluge
- Als sie sozusagen bis Südfrankreich vordringen.
- Enzensberger
- Ja, wo die arabische Welt die führende Zivilisation in diesem Kulturkreis eben war. Die haben wunderbare Techniken der Agrikultur entwickelt, die hatten eine herrliche Architektur, die hatten eine große Philosophie…
- Kluge
- …Kanalbau…
- Enzensberger
- …Philosophie, die hatten Medizin, Mathematik, Astronomie.
- Text
- Averroës, Arzt und Gelehrter (1126-1198)
- Enzensberger
- Also das war einfach die führende…
- Kluge
- Selbst den Aristoteles haben wir über sie rezipiert.
- Enzensberger
- Ja, das war die führende kulturelle Macht. Und seitdem gibt es einen Prozess des langsamen Abstiegs dieser Zivilisation. Und da waren nicht nur die Europäer daran beteiligt, sondern da waren die Römer dran beteiligt, da waren die Türken dran beteiligt…
- Kluge
- …die Mongolen…
- Enzensberger
- …die Mongolen, da waren alle beteiligt, ja. Und seitdem haben sie dieses Gefühl eines Bedeutungsverlusts, daß sie Objekte der Geschichte geworden sind und früher waren sie einmal ein großes Subjekt der Geschichte. Und ich glaube, daß das eine riesige Rolle spielt auch in ihrem… bis zum Terrorismus, ja. Man rächt sich für die Demütigung, die man fühlt, wobei wer der Demütiger ist, spielt dabei gar keine Rolle. Heute sind es die Amerikaner, die haben natürlich damals überhaupt keine Rolle gespielt, ja. Im 18. Jahrhundert waren die Amerikaner ja nicht da.
- Enzensberger
- Wenn Sie dann so in einer solchen morgenländischen Stadt am Abend wenn die Dämmerung einbricht auf den großen Platz gehen, sei es in Marrakesch oder in Sanaa, dann ist da eine ungeheuer entspannte Atmosphäre. Da ist das Leben… da ist noch etwas davon vorhanden, von dem, was wir uns immer als Kinder vorgestellt haben, ja, eine Art Gelassenheit, eine Art… ein Rest von Lebensfreude, bei aller Armut, eine…
- Kluge
- Ist das sozusagen Zeit der landwirtschaftlichen Revolution? Ist das Zeit des Mittelalters? Kann man so was sagen?
- Enzensberger
- Es hat sicher… etwas Altes ist da vorhanden. Etwas, was man gar nicht… wie die Leute verschieden gekleidet sind, also man kann ja… an so einem Platz kann man ja, wenn man sich ein bisschen auskennt, oder wenn man einen guten Führer hat, dann kann man sehen, der kommt aus dieser Gegend des Landes, weil der hat diese weiße Djellabah an, der hat ein weißes Tuch, der hat die Kopfbedeckungen und das alles ist dann doch, jedenfalls an diesem Platz und an diesem Abend, friedlich, ja, entspannt, zurückgelehnt, fast ein… Ja, da ist auch ein bisschen Betrieb, da gibt es auch ein bisschen Unterhaltung und da gibt es dann den Feuerschlucker und den Geschichtenerzähler, da gibt es den Händler, da gibt es alle möglichen diese Sachen. Die Kinder werden mitgebracht, es ist familiär auch, ja, und das hat etwas, was eben der schöneren Seite unserer orientalischen Phantasie sehr nahe kommt.
- Kluge
- Versetzen Sie sich doch einmal in Karl Marx in seinem Todesjahr.
- Text
- Karl Marx
- Kluge
- Er hat eine Lungenentzündung, er reist nach Algier und dort stirbt er auch. Wenn Sie mal sozusagen seinen Blick nachahmen. Was wird der gesehen haben? Der kommt ja mit dem ganzen Abendland im Kopf, an Ökonomie. Der Kapitalismus treibt die Dinge treibhausmäßig vorwärts.
- Enzensberger
- Ja, ja. Vielleicht war er ganz froh etwas zu sehen, wo dieser gnadenlose Mechanismus noch nicht die volle Kraft entfaltet hatte.
- Kluge
- Er kommt noch mal 300 Jahre zurückversetzt…
- Enzensberger
- Ja, ja. Und diese Perspektiven, daß wir eben doch diese verschiedenen Zeitschichten - könnte man sagen -, mit den man es da zu tun hat, wenn man sich mal aus der eigenen Gesellschaft ein bisschen heraus begibt. Das kann einem überall begegnen, das kann einem auch im Hinterland von China begegnen, in einem chinesischen Dorf. Das ist glaube ich schon-… Das belehrt uns darüber, daß wir nie ganz gleichzeitig sind…
- Kluge
- …, daß die Zeitreserve des Planeten-…
- Enzensberger
- Ja, daß wir nicht nur “Gegenwartsmenschen” sind, das ist ja sehr wenig.
- Kluge
- Es wäre also eine andere Form von Urlaub und Erholung, in eine fremde Zeit einzutauchen, in der es-…
- Enzensberger
- …Ja, ja. Mit allen Zweideutigkeiten, weil natürlich gibt es auch schreckliche alte Sachen. Es ist ja nicht so, daß die… es ist ja keine Idylle.
- Kluge
- Und es ist ja auch langweilig.
- Enzensberger
- Ja, es ist ja eher langweilig. Das ist ja voller alter Konflikte, voller alter… aber auch voll alter Schönheiten. Also ich meine in Europa, eine Sache, die mich immer furchtbar geärgert hat an unserem Modernismus ist - das hat dieser Loos in Wien verkündet - “das Verbot des Ornaments”. Das wurde doch völlig abge-… also das ist verboten. Also man muss nur…
- Kluge
- …sachlich sein.
- Enzensberger
- Sachlich sein. Blöcke… muss viereckig alles sein und da darf nichts drauf sein. In den 50er Jahren hat man an unseren Gründerzeithäusern die ganzen….
- Kluge
- An sich nicht aus Lust der Vernunft, sondern der Sparsamkeit…
- Enzensberger
- …hat man alles weggemacht. Da waren doch die-… Jedes Gründerzeithaus sieht doch anders aus, das eine hat ein paar Engel drauf, ein paar Löwengesichter… muss alles abgeholzt…
- Kluge
- Pathos der klassischen Moderne…
- Enzensberger
- Ja. Das musste alles abgeholzt werden und dagegen ist natürlich ein Gegengift, ein Antidot das Orientalische, weil das Ornament, beginnend mit der Schrift,…
- Text
- Hans Magnus Enzensberger, Autor
- Enzensberger
- …mit der Kalligraphie. Das ist ja alles nicht diese Art von Ernüchterung der Welt, sondern da ist noch eine ungeheure Vegetation, ästhetische Vegetation. Das wuchert ja geradezu. Wenn man die Alhambra sieht, ich meine das ist doch atemberaubend! Und das finde ich, da könnten wir auch ein Stück von wiedergewinnen, von dieser verlorenen Ästhetik der Wiedererkennbarkeit. Wenn diese Häuser alle gleich ausschauen, das ist doch traurig! Und dort nicht, dort macht jeder ein anderes Ornament. Das ist doch viel besser…
- Enzensberger
- Natürlich ist ein zentraler in jeder orientalischen Stadt der Basar oder der Suq und wenn man dann das Glück hat… Sie müssen sich vorstellen, ein Germanist der Universität von Fès, der ein wunderbares Deutsch spricht… also wenn Sie sich mit ihm über Literatur unterhalten ist er ein völlig international orientierter Mann… begleitet mich durch die Medina von Fès, also im wesentlichen durch den Suq. Jetzt stellt sich aber heraus, daß er dort geboren ist, er zeigt uns das Haus, ein ziemlich verfallen Haus, in dem ursprünglich nur die Familie wohnte. Inzwischen kamen Leute, Landflüchtige, Arbeitslose, haben sich da in der Medina eingenistet. Die Medina kommt also herunter, ist aber als Marktplatz unentbehrlich und nach wie vor das Herz der Stadt. Wir gehen da durch und er kennt alle. Alle erkennen ihn, er wird überall gegrüßt, man ist auch beschützt, niemand preist einem etwas an, man ist aber überall willkommen, man kriegt Proben, es wird “Bitte probieren Sie das” gesagt. Die Nüsse, dies alles wir einem-… Und er ist irgendwie der Vergil, der Psychopompos, der führt einen da durch und man kommt in die Gasse der Hutmacher. Dort gibt es Kopfbedeckungen, die eigentlich schon niemand mehr trägt. Da wird noch ein Fez gemacht, es wird der Filz zubereitet, die Dampfpresse mit der die Hutform gemacht wird… Dann gibt es die Gasse, in der Schuhe recycelt werden, also ein kaputter Schuh-… Dort ist man arm… Ein abgetragener Schuh, der löchrig ist, der nicht mehr gut ist-… gibt es Spezialisten. Es gibt jemand, der kauft diese kaputten Schuhe auf, dann versteigert er sie an Schuster, die diese Schuhe reparieren. Das sind spezielle Schuster, die sind eine eigene “Kaste” fast, eine eigene Gasse im Bazar, wo diese Schuhe wieder hergerichtet und dann neu verkauft werden für Leute, die sich keine neuen Schuhe leisten können. Also das Ganze ist ein ungeheuer komplexes Gebilde, so ein Suq. Es gibt natürlich auch sehr viele geschmacklose Sachen. Die Orientalen haben eine so unwiderstehliche Zuneigung zur Pracht, daß auch die Armen Taufgeschenke, Hochzeitsgeschenke mit ungeheurem frenetischen Kitsch, könnte man sagen… Es sind auch nicht schöne Sachen unbedingt, aber auch dafür ist gesorgt. Der Arme… je ärmer er ist, desto mehr muss er…
- Kluge
- …Aufwand treiben.
- Enzensberger
- …ein Fest machen, einen Aufwand treiben. Einmal im Leben wenn es nur ist, und dann wird nicht gespart, dann entstehen diese wuchernden, silbernen, prächtigen Körbe… eine rasende…
- Kluge
- Vom Gebrauchswert gemessen ganz unbrauchbar…
- Enzensberger
- Ja, Unsinn, völliger Unsinn! Da gibt es natürlich auch eigene Gassen dafür, so daß in dieses ganze Gebilde, dieses Suq, ein Kosmos, an dem sich die ganze Gesellschaft in ihren Sachen widerspiegelt. Es gibt natürlich auch den ganzen Plastikkram. Dann gibt es Internetcafés, oder es gibt Läden, in denen man nach Europa telefonieren kann, weil die ja alle immigrieren, die Arbeitsimmigranten in Europa, mit denen muss man ja telefonieren können. Man hat aber kein Telefon, also gibt es dort kleine Buden wo man für geringes Geld durch irgendwelche Tricks billig mit Frankreich oder mit Spanien telefonieren kann, wo der ausgebeutete Arbeiter da in Andalusien mit der Familie telefonieren kann. Der schickt ja auch das Geld nach Hause, da gibt es dann auch informelle Banksysteme, wo das nicht über Überweisungen geht, sondern über “Vertrauensmänner”, die sitzen auch dort. Also je mehr Stunden Sie in so einem Suq zubringen, wenn Sie einen solchen Guide haben, einen solchen Führer wie diesen Germanisten, dann erleben Sie etwas, wie das ganze überhaupt artikuliert ist, äußerst fein, mit fein nach Bedürfnissen verteilten Möglichkeiten, die alle in diesem kleinen Kosmos des Suq vorhanden sind.
- Text
- Loblied der Reisebeschreibung
- Kluge
- Also, der Reisebericht, die Reisebeschreibung, wenn Sie mal das Loblied singen. Das ist ja im Grunde die Form in der Antike und vor allen Dingen im 18. Jahrhundert bricht es ja gewaltig aus.
- Enzensberger
- Ja, ja, sicher. Also ich meine der größte von allen ist ja Herodot, das ist fantastisch!
- Kluge
- Eine einzige Reisebeschreibung zu den Anfängen der Welt.
- Enzensberger
- Und zum Teil vom Hörensagen auch, denn er hat ja auch-… man muss nicht überall gewesen sein, man muss auch die Ohren aufsperren, was die anderen sagen, was die zu berichten wissen! Oder eben Khaldun, der große arabische Reisende, der eine ganze Weltbeschreibung gemacht hat, der hat die ganze bekannte Welt bereist, dieser Ibn Khaldun. Ein tolles Buch! Also solche Figuren sind schon-… wir haben ja auch ein paar von der Art, wir haben unseren Humboldt zum Beispiel. Das war ja auch so jemand und das sind “Poeten der Realität”, wenn man es so nennen will… Die Klügsten unter den Wissenschaftlern sagen ja,…
- Text
- Alexander von Humboldt
- Enzensberger
- …je mehr wir entdecken, also je mehr wir wissen, desto größer wird das Volumen unseres Nicht-Wissens. Das ist ja sehr interessant.
- Text
- EUROPA BLICKT AUFS MORGENLAND / Ein Reisebericht von Hans Magnus Enzensberger
- Kluge
- Aber auch der Neugierde…
- Enzensberger
- Ja, ja. Das hört ja nicht auf, aber ich meine, es ist ja ganz klar, daß die Kosmologen zum Beispiel die Welt, die sie erkunden wollen-… wird ja immer größer, also zuerst hat man sich den Mond betrachtet, die Erdgestalt, das Sonnensystem und so weiter. Wir werden nie an einem Mangel an Unbekanntem leiden.