Erlöst die Nachrichten von der menschlichen Gleichgültigkeit

Transkript: Erlöst die Nachrichten von der menschlichen Gleichgültigkeit

Erlöst die Nachrichten von der menschlichen Gleichgültigkeit
Gespräch mit dem großen Erzähler Hans Magnus Enzensberger / “Unser Mann im Ohr”
Gesang im Hintergrund (“Hoist the Colours” by Hans Zimmer)

The king and his men,

Stole the Queen from her bed,

And bound her in her Bones,

The seas be ours,

And by the powers,

Where we will, we’ll roam.

Yo, ho, haul together,

hoist the Colours high.

Heave ho, thieves and beggars,

never shall we die.

Text
Hans Magnus Enzensberger, Jahrgang 1929, ist ein Glücksfall / Als Dichter begleitet er auf seiner Lebensreise ins 21. Jahrhundert alle wesentlichen Ereignisse unserer Zeit durch Erzählung / Außerdem ist er Unternehmer und Architekt neuer literarischer Genres / Enzensbergers Tugenden heißen: Lakonie, Zusammenhang, Überraschung und Offenheit –
Text
Erlöst die Nachrichten von der menschlichen Gleichgültigkeit! /
Text
Gespräch mit dem großen Erzähler Hans Magnus Enzensberger / “Unser Mann im Ohr”
Kluge
In uns steckt doch jemand. Oder: wir haben den kleinen Mann im Ohr, wenn wir professionell tätig sind als Schreibende. Und die sagen uns ja etwas und da ist ein Sechsjähriger, ein 16jähriger, ein 22jähriger, ein 80jähriger, ein 70jähriger…
Enzensberger
Ja, die koexistieren dort.
Kluge
… koexistieren und bilden ein kleines Orchester. Keine Stimme kann man beliebig isolieren.
Enzensberger
Ja, das stimmt.
Kluge
… man ist nicht ganz frei, die Geschichte erzählt sich, die hat einen Eigenwillen.
Enzensberger
Ja, so können wir das von uns jedenfalls behaupten. Aber es gibt auch monomane Leute, die nur eines haben und die darauf…, und sie können nach drei Sätzen schon sagen, das ist wieder der… Ich meine, Kafka, ist ganz klar…
Kluge
… ist Kafka und egal, worüber er schreibt.
Enzensberger
… und der konnte… Zum Beispiel, Kafka war nicht in der Lage eine simple Postkarte zu schreiben: Das Wetter ist schön, wir sind im Zimmer da, wo ich ein Kreuzchen hin gemacht habe. So etwas ist bei Kafka nicht möglich, sondern auch auf der Postkarte entsteht ein Kafka-Text…
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor
Kluge
… ein Duktus, ein Fluss…
Enzensberger
… ein Duktus, ja, eine Sache, die man wieder erkennen kann.
Kluge
Man kann aber sagen: Es erzählt in ihm. … auf eine hochdifferenzierte Weise…
Enzensberger
Ja, das ist wahr, natürlich… Also ich glaube, dieser Dämon und dieser Mann im Ohr, der nimmt ja verschiedene Formen an. Es gibt einen Mann im Ohr…, ich meine, in der Antike hieß das der Dämon, ein Daimon. Und das heißt natürlich, man kann sich das auch nicht…, man kann sich seinen Daimon, glaube ich, auch nicht heraussuchen.
Kluge
Und der Text entgleist, wenn man gegen den Dämon schreibt.
Enzensberger
Das sollte man nicht tun.
Kluge
Der stürzt diesen Text. Aber um jetzt noch einmal auf den Kafka zurückzukommen. Ein berühmter Philologe hat mir gesagt, eigentlich war Kafka verliebt in den Journalismus, und zwar den Boulevardjournalismus, also die Seite der “Vermischten Nachrichten”. Und er meinte, daß er so was schriebe, das rutschte ihm nur raus.
Enzensberger
… die Selbsttäuschung.
Kluge
Ja, es sind leichte Selbsttäuschung enthalten.
Enzensberger
Ja, ja. Aber ich glaube auch, daß seine Rezeptionsfähigkeit viel breiter war als das, was man an seiner produktiven Seite sehen kann, denn der hat ja alles zur Kenntnis genommen.
Kluge
… mittags geht er ins Kino.
Enzensberger
Turnvereine, Zionismus, Kino, Turnen…
Kluge
… Amerika…, als Stoff…
Enzensberger
… Amerika…
Kluge
Und dann immer dieses besondere, unwahrscheinliche Ereignis.
Enzensberger
Ja, aber alles filtriert auf eine einmalige Weise.
Kluge
Wie ein Wahrsager.
Enzensberger
… was kann ich brauchen?
Kluge
Und was ist an Gefahren latent, neben dem Bild das ich beschreibe, vorhanden. Die Gefahr neben dem Bild. Und das ist die, die in zehn Jahren kommen wird.
Text
Franz Kafka (1883-1924)
Kluge
Das, habe ich immer den Eindruck, daß das mit eine Rolle spielt. So als könne er in die Zukunft fühlen.
Enzensberger
… fühlen, nicht blicken. Ja, er war ein eigenartiger, auch ein sehr gefährlicher Dämon, weil, das bedeutet ja nicht Glück, überhaupt nicht. Ich meine, das ist der merkwürdige Fall von einem, der alles erreicht, aber aus dem Leben wird nichts.
Kluge
Nein.
Text
Wie kann man überhaupt erzählen?
Kluge
Bei Ihnen ist es so, daß Sie auf der einen Seite die Essayform oft gewählt haben, die Überblicke gestattet, Zuspitzungen gestattet.
Enzensberger
Ja. Eine Sache, die mich interessiert am Essay, daß er erlaubt, ich kann in einem Essay eigentlich alle möglichen Genres integrieren.
Kluge
Jawoll.
Enzensberger
Das heißt, ich kann Anekdoten erzählen, ich kann ein Gedicht zitieren…
Kluge
Sie können Thesen verkünden…
Enzensberger
… ich kann ein bisschen philosophieren…
Kluge
Sie können sich gegen einen anderen abstemmen.
Enzensberger
… abstemmen. Und das heißt, es ist eine extrem freie Form. Das sieht man ja auch schon bei dem Urvater, bei Montaigne: von der einen Seite auf die andere wechselt ja das Klima, das Erzählklima…
Text
Michel de Montaigne (1533-1592)
Kluge
Der Subtext wird immer stärker, je mehr ich oben springen kann im Text.
Enzensberger
Ja, ja. Und dann, sehr schön ist natürlich beim Essay auch: wenn er hält was er verspricht, mit seinem Namen Essay, dann ist es so, daß der Schreiber nicht von Anfang an weiß, was dabei herauskommt.
Kluge
Er wagt etwas.
Enzensberger
Er probiert und die Konklusion steht nicht von Anfang an fest. Das ist natürlich etwas, was im akademischen Essay verboten ist, das kann es gar nicht geben…
Kluge
… bei Cicero verboten ist, der Rhetor weiß, weil er steigern muss, was seine politische Absicht ist. Es ist das Gegenteil einer Meinung, die erst feststeht, dann fange ich an zu schreiben. Sie bildet sich hier beim Essay erst.
Enzensberger
Ja, ja. Und das erlaubt eben auch diese Veränderungen im Duktus, in der Herangehensweise und die Mischung von… Wirklich, ich kann zum Beispiel einen Dialog integrieren, warum nicht? Es gibt Dialoge, die essayistisch sind. Und umgekehrt, Essays, die…
Kluge
Also es ist eine geländefreundliche Methode, man würde militärisch sagen: der Spähtrupp. Also für große, organisierte Artilleriemassen unbrauchbar, die brauchen Straßen…
Enzensberger
Ja, er weiß noch nicht, worauf er stößt.
Kluge
Ja. Erkundung. Während auf der anderen Seite Sie ja das Entgegengesetzte auch pflegen: das Komprimat, das was man eigentlich auch Dichtung nennt oder poetisch nennt, das ist das Gedicht. Der Vers, aber auch ohne Reim, der konzentrierte Ausdruck.
Enzensberger
Es hat natürlich den praktischen Vorteil, daß ich nicht 500 Seiten brauche, um etwas zu sagen, denn es ist eine hochökonomische Form, was man Lyrik nennt oder Poesie. Weil, es ist etwas eigentlich auch für ungeduldige Menschen, es ist auch etwas für Leute, die sich ausruhen wollen beim Schreiben oder beim Lesen. Ja, denn es gibt ja eine Art von Gemütlichkeit in den Erzählweisen, wo jemand sich ausbreitet und alle Details…
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor
Kluge

Das ist in der Lyrik, in der modernen Lyrik nicht möglich.

Enzensberger
… nicht möglich, ja. Aber ich meine, ich habe oft erlebt, wenn…, dieser großartige Erzähler, Balzac…
Text
Honoré de Balzac (1799-1850)
Enzensberger
…, aber der breitet Sachen aus, da kommen Schilderungen plötzlich, die mit der Handlung…, die einfach nur weiter…, wo die Mühle weiter sich dreht, wo weiter gemacht wird und dann werde ich ungeduldig, dann überspringe ich mal zwei Seiten, um zu sehen, wie es weitergeht. Denn bei einem guten Erzähler will ich ja auch wissen, wie geht es weiter.
Kluge
Und das ist eigentlich bei einem gelungenen lyrischen Produkt anders: in dem kann ich mich aufhalten. Das ist sozusagen wie eine Relais-Station zu einer anderen Wirklichkeit hin…
Enzensberger
Naja, das kann man schon sagen. Aber ich meine, es ist nicht etwas, wenn ich die ganze Woche gearbeitet habe und jetzt…, ich bin irgendwie auf dem Land und nehme einen dicken, dreibändigen Roman mit, das ist natürlich auch eine Art Bett, wie in einem Bett verhält sich so ein Leser und da ist eine enorme Nachfrage. Ich meine, man muss sich natürlich auch fragen, warum das, was wir Roman nennen, nach wie vor die führende, auch ökonomisch erfolgreichste literarische Form geblieben ist. Und da können die Theoretiker sagen was sie wollen mit ihrer Dekonstruktion und der Roman ist zu Ende. Das sagen sie seit 50 Jahren…
Kluge
… aber er ist nicht zu Ende…
Enzensberger
… er ist überhaupt nicht zu Ende.
Kluge
Und wenn man ihn aus den Büchern entfernen würde, würde er woanders wieder aufstehen, denn er ist längst im Film verankert…
Text
Casablanca
Text
Vom Winde verweht
Text
Avatar
Text
Ein deutschsprachiges Buch in Princeton
Kluge
Wenn die Indios, also die von Pizarro verfolgt werden, solche Wegestrecken anlegen, zur Zeit ihrer Reiche, wo es von …, alle so und soviel Kilometer eine Nahrungsstation, ein Depot gibt, damit ein schneller Bote sich dort stärken kann, damit Wanderungen, Bewegungen möglich sind im ganzen Reich, weil da etwas hinterlegt ist, eine Apotheke ist, ein Depot ist, dann ist das eigentlich das Lyrische. Das sind Depots, Lebensmittel für lange Wanderungen.
Enzensberger
Ja, das gibt es nicht nur in den Großreichen. Ich war mal in Lappland unterwegs und dort gibt es eine alte Einrichtung, daß es da auch Depots gibt, weil es kann ja gefährlich werden, wenn Schlechtwetter ist…, man kann da verhungern. Und wenn man nicht weiter kommt, wenn es schwer regnet zum Beispiel und dann versumpft das Gelände und dann bin ich isoliert usw. Und die gibt es seit hunderten von Jahren in dieser Gegend, kleine Buden und wenn man dort etwas verbraucht, zum Beispiel Holz, um sich zu wärmen, Feuer machen, dann ist man verpflichtet - und diese Regel wird eingehalten -, neuen Vorrat anzulegen für die möglichen späteren Leute, die da kommen. Das ist auch sehr schön.
Kluge
Wie in Spitzbergen Hütten sind. Und wo einer sich rettete und er legt wieder was hin, daß der nächste gerettet werden kann. So wie Hänsel und Gretel hinter sich dieses Brot werfen, das allerdings von den Vögeln aufgepickt wird.
Enzensberger
Ja, diese stafettenartige Struktur, glaube ich, ist überhaupt auch in der …, spielt auch in der Dichtung eine große Rolle, denn ich bin ja nicht jemand, der die Idee der Originalität besonders hoch schätzt. Denn ich meine, in Wirklichkeit ist das auch eine Stafette.
Kluge
Aber wäre ich doch so gut wie Ovid, das kann man sich doch wünschen.
Enzensberger
Ja, wünschen kann man sich das.
Text
Ossip Mandelstam (1891-1938)
Kluge
Oder Ossip Mandelstam wäre wieder ein Weg zu Ovid. Und von dorther, den würden wir ja gerade noch erreichen.
Text
Ovid (23 v.Chr. - 17 n.Chr.)
Enzensberger
Also ich meine die Idee… Jetzt gab es ja die Rede vom Nullpunkt oder so etwas, daß il faut être absolument moderne, diese ganzen Forderungen, die hinken, sind zwar verständlich historisch, warum es den Leuten bis hier gestanden ist mit der Salonkunst usw., mit der Goldschnitt-Lyrik und man kann schon verstehen, warum die Leute den Impuls haben, das muss jetzt alles weg und ich muss von vorne anfangen. Aber das ist eine Illusion. Du fängst nicht von vorne an, du schreibst weiter an einem Text.
Kluge
Was übrigens was sehr Schönes ist, weil, wenn man sich vorstellt, daß da ein ganzer Heereszug von toten Autoren sich in Büchern verewigt hat, das ist auch eine vertrauensvolle Dimension.
Enzensberger
Ja, ja. Und man sucht sich aus dieser Heerschar natürlich bestimmte Vorgänger oder Muster von aus, die sucht man sich heraus…
Kluge
… Eideshelfer? …Vorfahren… Nennväter…
Enzensberger
Ja, ja. Man adoptiert sozusagen seine Großväter.
Kluge
Wenn man jetzt auf unsere Gegenwart, das 21. Jahrhundert, guckt, die eine ungeheure Stoffmasse enthält, von der ich nicht angenommen hätte, als die Jahrhundertwende kam, daß das so problematisch sein werde. Also ich habe 1989 gedacht: jetzt kommt ein augustinisches Zeitalter, weniger Rüstung und wir machen jetzt gewissermaßen Beute fürs Menschenleben. Nun haben wir auch sozusagen in unseren Breiten weiterhin einigermaßen weiter gemacht. Aber um uns herum…
Enzensberger
Ja, aber es ist eine Insel der Seligen gewissermaßen, so ein bisschen so was…
Kluge
Vorübergehend aus Erschöpfung oder was immer. Aber in der Welt sind ja Minengelände neu entstanden. Jetzt, wie erzählt man davon, ohne aufdringlich zu sein? Erzählen heißt ja auch, höflich bleiben. Das heißt also: ich muss ja irgendwie mich danach richten, was ein anderer wissen will. Dialogisches Prinzip.
Enzensberger
Ja, aber es ist auch ein sehr guter Vorsatz, der überhaupt nicht von allen Autoren geteilt wird, sondern es gibt auch den Autor der sagt: ich will gar nicht, daß ihr mir zuhört; ich will ja nur eure Sehgewohnheiten brechen; ich will nur euch ärgern; ich will gar nicht, daß ihr mich schätzt.
Text
Beethoven, der Unhöfliche
Kluge
Wäre Beethoven noch mal so alt geworden, wäre er dazu gekommen, taub wie er war, daß er sozusagen die Sinfonie ausdehnt, sechs Mal so lang.
Enzensberger
Ja, diese Höflichkeit… Ich meine, ich denke da immer an Freud, der ja auch die Leute provoziert und schockiert hat, aber auf eine Art und Weise, die geradezu unwiderstehlich höflich war. Denn es heißt auch, die Tante musste diese Stimme, diese Erzählstimme - das ist auch eine Erzählerstimme - wurde von ihr so weit verhext, daß sie sich Sachen angehört hat, die sie sonst weit von sich gewiesen hätte. Das ist sehr interessant. Also ich finde auch, gegen Höflichkeit ist nichts einzuwenden.
Text
Wie erzählt man Nachrichten? / Wo liegt Bischkek?
Kluge
Direkt, wenn ich Wirklichkeit, die fern liegt, jemandem vorsetze, das wäre ja als Nachrichtengebung alles zu kurz, um zu erzählen.
Enzensberger
Bischkek. Wo ist Bischkek?
Kluge
Im Norden von Kirgistan. Und dann kommt ein großes Gebirge und dann kommt Osch.
Enzensberger
Und dann kommt Osch und dann kommt Stalin mit seiner Nationalitätenpolitik und seinen Grenzziehungen, die natürlich… Wenn man schon darüber nachdenken möchte, muss man sagen: das sind alles auch Konsequenzen dieser Politik, das ist ja klar, wie…
Kluge
Wie bei Afrika…
Enzensberger
Wie bei Afrika, Berlin-Konferenz,
Kluge
auf der Landkarte…
Enzensberger
…1884 mit dem Strich.
Kluge
… mit dem Strich.
Enzensberger
Ja, ja. Und dann die Konflikte, die daraus entstehen, die kann man gar nicht vorhersehen.
Kluge
Der Hitler hatte noch die Gewohnheit, bei seinen Landkarten, dann immer noch ästhetisch, als Architekt zu malen. Da konnten hunderttausend Soldaten dran sterben, daß er sagte: dieser Frontbogen ist unschön. Und so könnte man auch Landkarten machen…
Enzensberger
Ja. Und dann gab es die Frage der Dicke des Stiftes, der Strich…
Kluge
… kann ungenau werden.
Enzensberger
Ja. Da gab es eine Geschichte mit der Oder-Neiße-Linie, so eine, ich weiß nicht, wie apokryph die ist. Ein dicker Stift hat die Welt verändert.
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor
Kluge
Und hier bei Kirgistan, um da noch einen Moment zu verharren: das ist der Pamir auf der einen Seite, der da angrenzt, das ist Sven Hedin für mich als Junge, als Kind.
Enzensberger
Immerhin, eine Assoziation ist schon vorhanden. Ich meine, Sie tappen nicht vollkommen im Dunkeln wie die meisten Leute, die damit konfrontiert werden. Und dann kommt ja auch noch etwas anderes dazu, weil diese Art der Nachrichten ist ja auch eine letzte Verdünnung der Vorstellung von einer Weltherrschaft, denn das heißt: Zwar die Medien in unserer Welt interessieren sich für Kirgistan, aber Kirgistan interessiert sich überhaupt nicht für Belgien. Also das sind sehr ungleiche Verhältnisse…
Kluge
Das sieht übrigens sehr klein aus. Wenn Sie von Kirgistan auf der Landkarte hoch gucken, ist Europa sehr klein, und Luxemburg gar nicht zu sehen.
Enzensberger
Das ist richtig. Aber es ist auch eine… Die können sich gar nicht den Luxus leisten, sich für Belgien zu interessieren, die haben nämlich ganz andere Probleme und ganz andere Prioritäten.
Kluge
Obwohl sie genauso sprachlich verstritten sind wie die Kirgisen und Usbeken.
Enzensberger
Ja. Aber während wir noch die latent vorhandene Möglichkeit [haben], die aus unserer Geschichte kommt, nämlich aus der Weltherrschaft, daß wir für alles zuständig sind. Warum sind wir für alles zuständig und warum sind wir für alles verantwortlich?
Text
Die zerstrittenen Belgier
Kluge
Sind wir nicht. Aber interessant, daß Sie darauf kommen, auf Belgien hier. Wenn Sie die von Spanien in Bewegung gesetzten Franzosen [nehmen], die Wallonen gegen die Flamen, die sich wehren…
Text
Herzog von Alba (1507-1582)
Kluge
Und wenn Sie sich jetzt einen Herzog von Alba vorstellen, der den Egmont köpft, sind Sie mitten in der Literatur und in der Erzählung.
Enzensberger
Ja, das war auch ein bisschen tadschikisch alles damals.
Kluge
Das ist wirklich schon gewissermaßen eine Gegensatzsorte, die jetzt sozusagen in barbarischer Form vorkommt, denn offenkundig ist ja dieses Land in eine Unabhängigkeit entlassen, das auch die Schulen beseitigt, die nämlich zentral geführt waren, die Industrie zunächst mal weg…
Enzensberger
Na ja, ich meine die Frage, ob es Belgien gibt, ist ja berechtigt. Das ist ja eine Kunstgeburt, das Ganze auch.
Kluge
Kunstgeburt. Eine komplizierte, europäische Kunstgeburt.
Enzensberger
Sie haben aber auch einiges dabei gelernt. Also das heißt zum Beispiel: Ich erinnere mich noch an die Briefmarken, die immer zweisprachig…, stand das immer drauf.
Kluge
Und da war eine Königin, die starb bei einem Autounfall und war unglaublich schön und die stand zweisprachig drauf. Diese Königin hätte man noch lieben können. Schöne Frau, mit schwarzem Rand, die Briefmarke.
Enzensberger
Na ja, gut, ich meine, es ist klar, daß die Monarchie als Erzählgegenstand sehr produktiv war. Ich meine, die Königsgeschichten…, jedes kleines Mädchen ist heute noch ein bisschen eine Prinzessin. Jede Siebenjährige ist eine Prinzessin. Bis zur Barbie-Puppe… Also das ist mythologisch verankert, vom Märchen her usw. und das lässt… Da kann man die Monarchie ruhig abschaffen, sie überlebt aber trotzdem als Erzählmodell.
Kluge
Und zwar von grausigen Geschicken und von liebevollen.
Enzensberger
Ja. Shakespeare…
Kluge
… und von Hoffnungen. Also hier, um bei Belgien zu bleiben: ein König, weil er der einzige ist, auf den sich alle einigen können, wird Privatbesitzer, Landgutbesitzer von Kongo.
Enzensberger
von Kongo, ja, schreckliche Geschichte…
Kluge
Und das ist eine schreckliche Geschichte.
Enzensberger
Aber das hängt mit dieser Künstlichkeit von Belgien auch irgendwie zusammen, das glaube ich schon, weil eine organische Nation wie die Engländer…, das wäre ihnen gar nicht eingefallen. Der englische König… Ihm wäre nicht eingefallen, ein Land als Privatbesitz zu erklären, oder? Ich hätte kein Beispiel. Cecil Rhodes hat so eine Tendenz gehabt mit Rhodesien. Ja, ein Empirebild auf eigene Rechnung.
Kluge
Und den haben Sie zum Beispiel beschrieben in Gedichtform. Und das ist notwendig. Denn man muss diesen Mann sich vorstellen können, der gewissermaßen ein Riesenlandgut, Rhodesien, entwickelt und das nach Norden zu, bis zum Kongo vortreibt und da sind Bergwerke.
Text
Cecil Rhodes (1853-1902)
Enzensberger
Ja. Und die Idee, ein Land nach so jemandem zu benennen… Ich meine, heute heißt es ja nicht mehr so, aber es hat ja lange Rhodesien geheißen. Das müssen Sie sich mal vorstellen. Ja, Leopoldville, ich meine, das ist immer so: der Name ist auch eine Art Besatzungsmacht.
Kluge
Und bei Kirgistan jetzt, um wieder zurückzukommen in der Erzählung: da geht es ja bis Alexander dem Großen zurück, da sind jetzt noch in diesem großen Tal, in dem die Flüsse vom Pamir entspringend, rasant…
Enzensberger
Ja, auch, wo immer Unruhe herrscht.
Kluge
Immer Unruhe herrscht.
Enzensberger
Ferghana oder so ähnlich heißt das…
Kluge
Ferghana-Tal. Und da sind noch Pferde zu sehen, die - weiß und herrlich - Griechenpferde sind. Die sind dort übrig geblieben aus den Städtegründungen und den Ställen Alexanders des Großen. Das heißt, hier kommen alle Zeiten einmal zusammen in diesem Kirgistan und dieses Kirgistan ist außerdem Nachbar von Pakistan, Kaschmir, Afghanistan, Tadschikiskan, China.
Enzensberger
China ist auch nicht weit.
Kluge
Aber alle Krisenherde im Moment sind dort versammelt.
Enzensberger
Ja, ja.
Kluge
… ist schön erzählbar.
Text
Ferghana-Tal in Kirgistan
Text
Pamir
Text
Alexander der Große
Text
Himmelfahrt des Alexander
Text
Alexander von Humboldt gelangte bis an die Grenze Chinas
Text
Geschichten von Ärzten
Kluge
Das sind alles im Grunde die Unterfütterung von Nachrichten. Und in dem Maße, in dem man jetzt sozusagen vom Hundertsten ins Tausendste kommen könnte, kann man erzählen.
Enzensberger

Auch die Hypochondrie “Der eingebildete Kranke” ist doch eine wunderbare Figur…

Kluge
Wunderbare Geschichte. Wie geht die? Was ist das für eine Geschichte?
Enzensberger
Herrlich. Molière.
Kluge
Molière…
Enzensberger
Molière, ja, ja, der hat diesen Hypochonder und den Arzt in Beziehung gesetzt und die Familie. Und natürlich, das ist sehr komisch und aber auch tragikomisch, absolut tragikomische Geschichte. Na ja, usw. Und der Guru, der Heiler, der Medizinmann und diese ganzen Sachen. Ich meine, da gibt es ja auch… Die Schwundstufe davon ist die Ärzteserie im Fernsehen, die immer noch neue Möglichkeiten produziert. Es gibt zum Beispiel eine amerikanische, die heißt “Dr. House”. Dr. House ist ein selbst…, der erfindet sich selbst als Arzt und macht alles anders als die anderen Ärzte und gewinnt dadurch…, kann Dinge heilen, die andere nicht heilen können, ist aber kein Guru. Der ist ein relativ rationaler Mediziner und das ist eine hochinteressante…, das ist eine neue Form der Gesundheits- oder Krankheitserzählung. Und das ist viel wirksamer als jede Dokumentation über die Gesundheitsreform, jede Talkshow…
Kluge
Und das ist jetzt unausweichlich, daß ein Mensch Hoffnung hat. Und wenn der Körper versagt, versagt ja auch die Hoffnung, zunächst. Und das umzukehren, das ist eine Dauerquelle von Erzählung, tröstet…
Enzensberger
Ja. Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht: manchmal beneidet man ja ein bisschen die Ärzte, obwohl sie kein beneidenswertes Leben führen…
Kluge
… weil sie was können…
Enzensberger
…Aber ihre Unentbehrlichkeit steht irgendwie außer Frage.
Kluge
Und in Kriegszeiten sind sie noch wichtiger, in Notzeiten.
Enzensberger
Wobei ein Schriftsteller natürlich lieber gar nicht anfangen sollte über eine Letztbegründung seiner Tätigkeit nachzudenken, weil im Vergleich zu einem Geburtshelfer ist er immer der Schwächere in diesem Begründungsspiel und deswegen sollte man das auf sich beruhen lassen.
Kluge
Aber die Quelle, daß Arztromane, Erzählungen über Ärzte, der Landarzt bei Kafka, so interessant sind, das ist, daß der einen Beruf hat, der wirklich notwendig ist.
Enzensberger
Ja, eben.
Kluge
Wie im Kraftwerk Mechaniker.
Enzensberger
Wer kann das schon von sich sagen? Ich meine, wobei ein Schriftsteller immer noch besser dran ist als zum Beispiel ein Werbefritze: den kann man ja ersatzlos streichen; den Werbefritzen kann man ersatzlos streichen. Gewisse Formen des Maklers sind auch entbehrlich, ich kann selbst finden, ich brauche den nicht.
Kluge
Und der Geldbringen, der Banker wiederum, ist nur halb entbehrlich.
Enzensberger
Der ist nur halb entbehrlich.
Kluge
In dieser Form entbehrlich, aber ganz generell nicht.
Enzensberger
Nein, nein, das stimmt, weil der zur Zirkulation dieses Blutkreislaufs… So ein System ist schon vorhanden und alle Versuche, das durch Staatsbanken zu ersetzen, waren nicht erfolgreich.
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor
Kluge
Jetzt gibt es eine Herausforderung an das Erzählen: das ist die Zeitperspektive. Normalerweise wird in einem Medium erzählt ohne Rücksicht auf…, also das Timing richtet sich nach dem Interesse des Zuschauers oder nach der umgebenden…, dem Druck der umgebenden Sendungen, aber nicht danach, daß man über eine Minute anders erzählt als über ein Jahrhundert.
Text
Die Erzählweise der Chronik
Enzensberger
Es gibt den ausschweifenden Erzähler und es gibt den reduzierenden Erzähler. Beide…, das eine ist natürlich spitziger und irgendwie vielleicht ein bisschen ungemütlicher, aber es sind beides notwendige Zeitrelationen, würde ich mal sagen, so wie es Langwelle und Kurzwelle gibt.
Kluge
Kurze Zeiten, lange Zeiten. Jetzt, wenn Sie mal zum Beispiel ein Jahrzehnt nehmen. Die Jahrzehnte sind ungenau, sie enden nicht genau…
Enzensberger
Nein, nein, das ist ja eine Konvention
Kluge
Sie sind eine Konjunktion.
Enzensberger
Die 70er… Jeder stellt sich etwas drunter vor, aber in Wirklichkeit ist das eine Schachtel, in der alles Mögliche…
Kluge
Aber mit einem gravitativen Zentrum, das irgendwie markant ist und von den 60ern sich unterscheidet. Und in den 90ern wiederum.
Enzensberger
Ja, ja. Das ist eigentlich auch eine Form des Erzählens, daß ich die Zeit in Packungen…, daß ich die sozusagen abpacken kann und darunter etwas verstehen kann: die Jahrhundertwende, Fin de siècle, solche Beschreibungen.
Kluge
Und wenn wir das mal aufs Korn nehmen. Also Sie haben meinetwegen in den 90er Jahren am Anfang einen Bin Laden, der in amerikanischen Diensten die Russen bekämpft. Und am Ende des Jahrhunderts haben Sie einen Bin Laden, der ist eine Bombe, die bald explodieren wird. In der Zwischenzeit hat man ihn nicht gesehen. Keine Meldung in einer Zeitung, selbst Meldungen des CIA handeln nicht von ihm. Das heißt, daß ist das Vorher/Nachher-Prinzip.
Text
10-Jahres-Chronik/ Eine unsichtbare Wirklichkeit –
Kluge
Das ist eigentlich das Prinzip der Zehn-Jahres-Chronik. Die unsichtbare Wirklichkeit, die unangemeldet sich entwickelnde Wirklichkeit.
Enzensberger
Ja, Plötzlichkeit auch.
Kluge
Also ich möchte mal ein konkretes Beispiel nehmen, nehmen Sie mal: Sie sollen beschreiben etwas, was nur zehn Minuten lang ist und, sagen wir mal, in unserem Jahr stattgefunden hat. Also meine Frau würde erzählen, wie sie sich den Fußknöchel gebrochen hat. Das ist sehr kurz, das könnte sie erzählen.
Enzensberger
Ja.
Kluge
Ich kann auch nehmen: ein deutscher Finanzminister liegt auf dem Bauch in Brüssel, in der Intensivstation, ein anderer, ein Innenminister, wird mit dem Flugzeug heran geflogen; es ist halb zwölf abends, um ein Uhr muss alles entschieden sein. Das ist das 750-Milliarden-Euro-Paket.
Enzensberger
Ja. Und der Druck ist ungeheuer.
Kluge
Und in den letzten zehn Minuten vor ein Uhr, kommt der Finanzminister von Finnland und will noch was Besonderes, der will noch die Bankenabgabe mit hinein ins Protokoll… Das sind zehn Minuten.
Enzensberger
… zehn Minuten, ja.
Kluge
Die könnte sich ein Dichter auch ausdenken, ohne dabei zu sein.
Enzensberger
Ja. Ich muss ja zugeben, daß ich in letzter Zeit eine Vorliebe für eine Form entwickelt habe, die in Misskredit irgendwie geraten ist und das ist die Anekdote.
Text
Die Erzählweise der Anekdote
Enzensberger
Ich finde die Anekdote eine sehr interessante Sache, die hat auch eine lange Geschichte…
Kluge
Kleist.
Text
Heinrich von Kleist (1777-1811)
Enzensberger
Kleist zum Beispiel, ja, das ist ganz toll. Oder die Franzosen: die haben ja ganz tolle, ich meine Vauvenargues und diese ganzen Leute…
Kluge
… ist die weltliche Form des Gedichts. Wenn das Gedicht das Geistliche ist, das irgendwie doch immer ernst ist…
Enzensberger
Ja… Die teilt mit dem Gedicht die Ökonomie, weil die muss ja kurz sein, die Anekdote kann nicht weitschweifig werden, das ist nicht möglich.
Text
Nicolas Chamfort
Enzensberger
Chamfort ist mein Liebling, der ist ja ganz toll. Der hat aufgeschrieben…, der hat eine Art Sittengemälde des 18. Jahrhunderts, späten 18. Jahrhunderts in Form von Anekdoten geschrieben. Und diese Anekdoten sind ganz merkwürdig und werfen Lichter auf diese Gesellschaft. Er ist auch sehr kaltblütig in seiner Erzählweise, auch restringierend, also es muss alles in zehn Zeilen, muss das dargestellt werden.
Kluge
… Minutengeschichten. Und die Zeilen sind ungefähr eine Minute.
Enzensberger
Ich weiß nicht, ich habe jetzt einem Zeitschriftenredakteur vorgeschlagen, er soll doch die Anekdote…, statt einer Kolumne soll er Leute finden, die Anekdoten erzählen. Das hat der aufgegriffen. Ich will mal schauen, ob da was draus wird. Ich mache das nicht selbst, aber …
Kluge
Also heute findet sich von dem großen Musikkritiker Brembeck in der Süddeutschen eine Anekdote: der Sängerin, der Elsa in Bayreuth bei der Neuenfels-Inszenierung, ist ein Stück aus der “Parsifal”-Inszenierung auf den Kopf gefallen, sie war ohnmächtig, alle glaubten, alles fällt aus. Und dann wurde sie noch einmal wieder hergestellt, morgen singt sie.
Enzensberger
Schön, ja.
Kluge
Das ist eine Anekdote. Sie hat auch die Kürze.
Enzensberger
Ja. Merkwürdig, daß die vergessen wurde.
Kluge
Aber es gehört zum Boulevard-Prinzip, daß man so erzählt, als wäre es eine Minutengeschichte.
Text
Das Boulevardprinzip / Minutengeschichten
Enzensberger
Ja, es gibt den französischen Schriftsteller aus dem Jahre…, vor dem Ersten Weltkrieg, glaube ich, bis in die 20er Jahre hinein, der heißt Fénéon und der hat Geschichten in…, ich habe ein Buch von dem gemacht, das sind 111 Geschichten in fünf Zeilen. Er stützt sich auf das faits divers, also ist auch zeitungskompatibel, er hat das in Zeitungen veröffentlicht und alle diese Geschichten sind extrem reduzierte Fünf-Minuten-Geschichten.
Kluge
… dann fast schon Bilder?
Enzensberger
Ja, ja. Und viele Verbrechen, zum Beispiel Verbrechen werden in fünf Zeilen heruntergedampft, eingedampft und dadurch gewinnen sie natürlich eine Prägnanz…
Kluge
Und sie erlauben Konstellationen, das heißt, sie nehmen Beziehungen auf zu den Nachbargeschichten.
Enzensberger
Ja, ja, sicher.
Kluge
Eigentlich zu allem in ihrer Umgebung nehmen sie Beziehungen auf, so wie ein Himmelskörper einen anderen attrahiert.
Enzensberger
Ja. Und es gibt ja, glaube ich… Auch beim Schreiben gibt es, wie in der Leichtathletik: es gibt den 100-Meter-Mann, dann gibt es diejenigen, die Staffellauf treiben, übergeben das an den anderen, dann gibt es die 400-Meter, das ist schon was ganz anderes…
Kluge
5.000 Meter…
Enzensberger
… bis zum Marathon und das… Ich selbst bin…, also 400 Meter sind eigentlich mein Maximum. Ich bin kein Langstrecken-Mann, also so 1.000-Seiten-Bücher braucht niemand von mir zu befürchten.
Kluge
Aber wenn Sie Ihren Lebenslauf nehmen als Schriftsteller, dann können Sie sagen: bestimmte Themen, bestimmte Wendungen, bestimmte Oppositionen haben Sie lebenslänglich betrieben…
Enzensberger
Das stimmt, da kommt man nicht davon ganz los, das hat auch mit dem historischen Gepäck etwas zu tun, man ist ja auch markiert…
Kluge
Also ich traue mir zu, anarchistische Geschichten durchzuziehen, in Ihrem Werk, ich traue mir zu, die romantische Frau durchzuskandieren…
Enzensberger
Es gibt Sachen, die man nicht selbst kontrolliert, das ist ja auch ein Vorteil.
Kluge
Aus Versehen hat man das Richtige getan.
Enzensberger
Manchmal ja. Und eine gewisse unbeherrschbare Kontinuität. Ich meine, ich genieße ja den Ruf geradezu eines Windbeutels, der mal das und dann wieder was anderes, der ein intellektueller Wechselwähler…, so was ähnliches sagt man mir nach, aber das ist auch nur eine Halbwahrheit, weil in Wirklichkeit sind die Obsessionen vorhanden.
Text
Der Fliegende Robert

Eskapismus ruft ihr mir zu,

vorwurfsvoll /

Was denn sonst, antworte ich,

bei diesem Sauwetter! -;

spanne den Regenschirm auf

und erhebe mich in die Lüfte /

von euch aus gesehen,

werde ich immer kleiner und kleiner,

bis ich verschwunden bin /

Ich hinterlasse nichts weiter

Als eine Legende,

mit der ihr Neidhammel,

wenn es draußen stürmt,

euren Kindern in den Ohren liegt,

damit sie euch nicht davonfliegen /

Kluge
Also eine Schule für mich sind die Berliner Abendblätter, die gegen Ende seines Lebens Kleist entwickelt hat, das ist ein Boulevardblatt. Er kriegt vom Innenministerium die Tagesnachrichten, die Verbrechensnachrichten, knüpft seine Anekdoten da rein, auch längere Geschichten…
Enzensberger
Ja, wo es noch gar keinen Boulevard gab. Er ist ja ein Pionier in dieser Hinsicht, weil es gab überhaupt nichts Vergleichbares in der Publizistik. Hat auch irritiert natürlich, war ja kein Erfolg auf die Dauer, wurde auch von der Behörde sehr mit Misstrauen betrachtet.
Kluge
… es wurde ja ihm abgeschnitten.
Enzensberger
… abgeschnitten, ja. Er war zu früh dran.
Kluge
… er war zu früh dran. Aber immerhin, daraus kommen bestimmte prägnante Geschichten und auch die Marquise von O., die da drin ist, sind ja richtig, das sind richtig blutige, genaue Geschichten. Sie können in der BILD-Zeitung so nicht stehen.
Enzensberger
Nein, so nicht, natürlich. Aber ich finde an der “BILD-Zeitung”… das literarisch Interessanteste sind die Schlagzeilen.
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor
Enzensberger
Man braucht gar nicht die ganze Zeitung zu lesen, sondern es genügt, wenn man an der Straßenecke liest, was ihnen wieder eingefallen ist, denn da ist natürlich ein formaler Zwang, der Platz ist sehr begrenzt und es gibt schlechte und gute, wo jemand auch sozusagen aus Nichts und wieder Nichts eine ziemlich… Ich kannte mal einen Journalisten, der in all diesen Zeitungen gearbeitet hat, BILD-Zeitung, Superillu, der war vollkommen skrupellos… Und ich erinnere mich an eine sehr schöne Geschichte, wo er einmal einen Tag hatte, wo keine Schlagzeile vorhanden war. Und dann hat er die Schlagzeile erfunden: “Rosemaries letzter Tänzer war der Tod”. Das ist doch nicht schlecht.
Kluge
Das ist doch nicht schlecht.
Enzensberger
Das ist eine vollkommen banale…, ein faits divers…
Kluge

… ein barockes Bild.

Enzensberger
Ja, das war doch gut.
Text
Wir sind Papst
Enzensberger
Ganz abgesehen von den berühmten Schlagzeilen, die ja heute schon sprichwörtlich sind. Ich meine: “Wir sind Papst”, da muss man mal draufkommen, so was… Ich meine…, skrupellos.
Text
Vermischte Nachrichten / faits diverse
Enzensberger
In Frankreich gibt es ja eine Tradition, daß das faits divers…, da gibt es Autoren, also zum Beispiel Léon Bloy hat sich damit beschäftigt oder Paulhan, er hat ja, glaube ich, ein Buch sogar veröffentlicht, das hieß „Faits divers“. Also die gemischten Nachrichten. Und ich glaube, daß auch sehr viele Autoren sich daran bedienen, auch Romanciers, daß die da… Ich glaube sogar, Musil hat das verfolgt, was da… Da gibt’s ja diese ganzen Mordgeschichten da…
Kluge
Moosbrugger…
Enzensberger
Ja, Moosbrugger. Das ist doch aus der Zeitung.
Kluge
Ja. Und er fängt an mit einem Wetterbericht, das ganze Riesenwerk fängt an: Dies war…
Enzensberger
Ja, ja. Oder Döblin. Was ist das? Ohne Zeitung nicht vorstellbar: “Berlin Alexanderplatz”.
Kluge
Aber das sind doch ganz große Tugenden, die von dem, was man sich erzählt an einer Theke. Was Menschen sich erzählen, wenn sie zueinander treffen, was sie beim Friseur erzählen.
Enzensberger
Ja, es ist merkwürdig, wie dieser Clan des Boulevardjournalismus einerseits verachtet wird…
Kluge
… zu Unrecht.
Enzensberger
… von den Schriftstellern, von der gebildeten Welt und so werden die verachtet, aber zugleich gibt es einen Reiz. Von Döblin gibt es ein Buch “Die beiden Giftmörderinnen” zum Beispiel. Das ist natürlich nichts anderes: hat er aus der Zeitung. Woher hat er das denn sonst? Und der Journalismus hat zumindest diese minenhundartige Fähigkeit in Verhältnisse zu geraten, die…
Kluge
… interessante Geschichten zu magnetisieren…
Enzensberger
…, die uns selbst unbekannt sind, die wir nicht… Der geht ja da hin, der schaut sich das an, der hat einen Fotografen dabei, dann gibt es ein Bild. Weegee, dieser amerikanische Crime-Reporter, der die berühmten Fotografien vom Tatort gemacht hat, wiederum Inspiration für den Film.
Text
“Der Mann ohne Eigenschaften” von Robert Musil: 1. Absatz des 1. Kapitels
“Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagerndem Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist
Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.”
Text

Die letzte Seite /

faits divers /

Vermischte Nachrichten /

“Gemischte Gefühle” /

Photoroman /

Wahre Geschichten

Text
“BILD-Zeitung”. Horror. Firma zapft Hirn an!
Enzensberger
Man hat ja sehr viel sich vorgestellt, wie manipulativ die BILD-Zeitung, wie mächtig die BILD-Zeitung ist usw., aber ich glaube, die Rezeption ist gar nicht so, daß… Heutige Leute nehmen das nicht 1 zu 1 auf, als Autorität sozusagen, das muss ja stimmen, das habe ich selbst gelesen…
Kluge
… sondern gehen damit um: das sind Räume, Vorstellungsräume.
Enzensberger
…und der Aspekt der Unterhaltung ist natürlich auch… weil die Hochliteratur sich im 20. Jahrhundert weitgehend von der Unterhaltung abgewandt hat… Also man sollte ja nicht mehr…, das war ja U und E. Es gab ja mal diese Trennung von U und E…
Kluge
… in jeder Rundfunkanstalt.
Enzensberger
Ja. Und die muss man natürlich sabotieren, weil, das ist ja vollkommen…, schließt sich ja überhaupt nicht aus. Also ich meine, ich habe neulich wieder den “Ulysses” gelesen, den Monolog von Molly, dieses letzte Stück: ein Monolog von einer Frau, die Frau von dem Bloom … was ihr alles durch den Kopf geht. Und die nimmt natürlich auch solche Dinge auf, was sie gehört hat, aber sie verarbeitet das, das wird alles verarbeitet und trotzdem… Also wo die Banalität zur Größe aufsteigt, das ist schon ganz toll, was er da gemacht hat. Und deswegen… und übrigens auch…
Kluge
Das heißt mit der Kampfkraft eines Homer, der Kenntnis, der Ortskenntnis von Dublin, im 20. Jahrhundert schreibt dieser Mann hier über die subjektive Seite und die geht so.
Enzensberger
Und es ist auch, merkwürdigerweise, wenn man sich drauf einlässt, entwickelt es einen Sog, also es ist auch… Es hat einen unglaublich merkwürdigen Humor, es ist auch unterhaltend, es ist keine dürre Avantgarde. Ist es nicht, das Gegenteil.
Kluge
Wenn Sie mal noch weiter die Prinzipien…, also wann ist etwas Boulevard und was ist sozusagen die Chance, ja, wenn man davon erzählt? Also mir würde einfallen, daß ich niemals nur über die Hauptsache erzählen würde. Ich würde immer dicht neben…, also nicht über Obama die Anekdote, sondern sein Assistent und der hat eine Freundin und jetzt wird eine Perspektive möglich. Das wäre nicht ganz dieses Direkte, daß sie immer da, wo man am meisten…
Enzensberger
Naja, das ist vielleicht ein Nachteil des Boulevard, daß er an die so genannte Prominenz gefesselt bleibt.
Kluge
Ja und an die Hauptsachen gefesselt bleibt.
Enzensberger
Er kann sich schwer davon trennen…
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor
Enzensberger
…also er kann schwer die andere Perspektive annehmen, weil man diesen Namen schon so oft gehört hat im Fernsehen und immer wieder… Also das ist der Nachteil dieser… Einerseits natürlich: die Auflage muss berücksichtigt werden, das sind ja auch keine freien…
Kluge
Nein, sie haben ja nicht die Absicht Literatur zu machen. Und nichts zu machen was zeitübergreifend ist, also das Blatt von gestern kann vergessen werden.
Enzensberger
… vergessen werden, ja. Und die Freiheitsgrade sind andere, die der hat. Und natürlich auch das Selbstverständnis von diesen Leuten ist auch merkwürdig. Ich meine, es gab neulich wieder…, da wurde eine alte Serie im Fernsehen gezeigt, die hieß “Kir Royal”…
Kluge
Ja, “Baby Schimmerlos”…
Enzensberger
Ja. Die Geschichte eines Klatschreporters, eines Münchner Klatschreporters und was daraus entsteht, wenn man das dann…, ich glaube, 20 oder 30 Jahre später sieht, entsteht ein verblüffend genaues Bild der Zeit. Also das ist ja auch merkwürdig, wie die nicht ehrgeizige Form der Darstellung, also vom Boulevard - das kann man auch von Serien wie “Tatort” sehen - daß die eine unfreiwillige Ethnologie von Geschichtsschreibung da liefern…
Kluge
Und mehr Details aufnehmen als man aufgenommen hätte, hätte man Absichten gehabt.
Enzensberger
Ja. Hinter dem Rücken der…
Kluge
… quasi dokumentarisch fast.
Enzensberger
Ja, hinter dem Rücken der Regisseure und der Darsteller entsteht etwas, was man auf andere Weise schwer wieder finden würde, in einem ambitionierten, sagen wir politischen Roman, weil, der fokussiert sich auf ideologische Fragen, auf den Kalten Krieg usw. Aber wir wollen ja auch wissen, wie das damals war. Also das heißt, was haben sie angezogen, wie haben die gesprochen, was für Frisuren hatten sie?
Kluge
Was für eine eigenartige Tugendmischung ist diese völlig korrupte Sensationssuche und dann der aufrechte “Schimmerlos”, der sich in nichts beugen lässt und nicht zu kaufen ist.
Enzensberger
Es entsteht nebenbei etwas, was…, ja gut, das ist natürlich…, diese Autoren, das war ja auch… der Patrick Süßkind hat da mitgearbeitet und solche Leute, das waren ja erstklassige Leute, die da waren, auch der Dietl.
Kluge
Ja, absolut.
Enzensberger
… die waren sehr, sehr gut. Aber trotzdem schleicht sich etwas ein, was sie gar nicht beabsichtigt haben, nämlich auch durch die Übertreibungen wurden Sachen dargestellt. Es war ja auch eine ziemlich…, eigentlich war das eine ziemlich fade Zeit, diese 70er, Ende 70er, das war ja eher eine fade Zeit und trotzdem hat sich da etwas gezeigt, was dann später Allgemeingut wurde.
Kluge
Und der Strauß, der Ministerpräsident, zu Füßen der Bavaria, wo im Grunde auf einem Denkmal, das überhaupt kein Hotel oder irgend so was ist, mit ein bisschen Rotem Teppich, eine Illusion gezimmert wird, das ist schon sehr…, das ist Boulevard und Kunst.
Enzensberger
… und Kunst, ja.
Kluge
… und Dokumentation und Information.
Enzensberger
Das schließt sich alles gar nicht so aus.
Kluge
…, die durch Nachrichten nicht mitteilbar wäre.
Enzensberger
Na gut, das hat natürlich auch damit…, mit der Frage dieses Genres… Wir haben vorhin die Anekdote als Genre erwähnt, aber es gibt auch… Das Genre kann auch zum Käfig werden. Also man soll sich an Genres nicht klammern.
Kluge
Aber das ist ja ihr Prinzip, dieser Bruch. Also es gibt dann immer eine Übergangsstelle an der eigentlich die Form, die rhetorische Form, zerbrechen könnte. Und da kriegt noch mal die Geschichte Leben.
Enzensberger
Ja. Es gibt ja sehr viele Autoren, die zum Beispiel zwischen Autobiographie, Reisebeschreibung, politischer Reportage Mischformen entdecken. Also Bruce Chatwin war zum Beispiel so jemand oder Kapuściński, solche Autoren…
Text
Ryszard Kapuściński (1932-2007)
Enzensberger
…, die sich nicht daran halten, an die vorgegebenen Schnittmuster, sage ich mal… Wissen Sie, es ist ja wie ein Schnittmusterbogen, Burda, wo Sie…
Kluge
Aber das ist interessant, daß Sie Kapuściński nennen. Denn auch Sie sind ja immer wieder hin gefahren. Sie waren wirklich in der Karibik, Sie waren wirklich… Und ich wünschte mir, daß ein Autor zum Beispiel dabei wäre, wenn der Sturm sich erhebt über dem Golf von Mexiko und die Schiffe heim müssen, die Bohrinseln müssen heim und die Rettungsaktion unterbrechen.
Enzensberger
Vielleicht ist jemand da, das weiß man nicht. In Amerika…
Kluge
Nein, kein Schriftsteller.
Enzensberger
…keiner, den wir kennen. Aber die Amerikaner… Ist auch ein Reichtum der amerikanischen Literatur, daß immer jemand da ist, es ist immer ein Zeuge…
Kluge
Auf den Pfaden von Hemingway…
Enzensberger
Ja, die hatten eine große Tradition der Reportage. Da ist jemand vom „Rolling Stone“ dabei…
Text
Kollateralschaden einer Aschewolke
Kluge
Und dann möchte jemand vom Pentagon sich einschmeicheln bei „Rolling Stone“. Und der Vulkan in Island hat einen Kollateralschaden, er hält Generale und seine Umgebung in Paris auf.
Enzensberger
Ja, die können nicht…
Text
General McChrystal, US-Oberbefehlshaber in Afghanistan
Kluge
… die können nicht weg. Erzählen sich etwas, das wird gedruckt und jetzt wird ein…, wie bei McArthur, ein General, entlassen. Das ist interessant, daß ein Vulkan das kann.
Enzensberger
Ja, ja.
Kluge
Das wäre sozusagen erzählenswert und ist erzählenswert…
Enzensberger
Ja, gut. Es gibt immer etwas zu erzählen. Man muss nur… Und ich denke auch, dieses Moment des Augenscheins ist auch nicht schlecht. Also ich habe ja nicht viel so großen Journalismus gemacht, aber was ich gemacht habe war für mich sehr…, ich habe viel dabei gelernt.
Kluge
Was war das Ziel des “Kursbuchs”, das Konzept?
Enzensberger
Na ja, das “Kursbuch”…
Kluge
Das ist ja nahe liegend, also das “Kursbuch” ist ja ein phantastischer Roman.
Enzensberger
Aber Reportage war eher “Ach Europa” oder so was. Also und ich kann zum Beispiel über Afghanistan eigentlich nichts Richtiges sagen, ich halte mich da sehr zurück, weil ich war nie dort. Ich möchte aber ein Gefühl dafür entwickeln und wenn ich nur zwei Mal drei Wochen dort gewesen wäre, wäre ich enthemmter, mich darüber zu … Ich kann nicht…, der ganze Ostblock… Über den Ostblock, was es da gab, diese ganzen kommunistischen Staaten… Ich bin da immer hin gegangen, weil ich wollte wissen, wie das funktioniert, was passiert. Ich habe Länder gesehen, in denen, wenn ihnen die Glühbirne ausgegangen ist, dann war der einzige Weg eine Glühbirne zu beschaffen über das Zentralkomitee. So was muss man doch mal gesehen haben, das kann man nicht aus Büchern lernen. Das kann man einfach nicht aus Büchern lernen. Also der Augenschein ist nach wie vor unverzichtbar, denke ich. Ich meine, da nützt mir auch das Fernsehen wenig: wenn ich nicht dort war, ist es anders.
Kluge
Jetzt, wenn Sie… Die eine Methode ist, “ich habe es gesehen”, wie Goya sagt: “Yo Lo Vi”. Die andere Methode ist von Karl May, der war nie irgendwo…
Enzensberger
… erfinden.
Kluge
… erfinden. Und einfühlen. Und auch das tun Sie, Sie haben Cicero zum Beispiel nicht kennen gelernt, Sie haben Stanley nie gesehen.
Enzensberger
Nein. Aber da kann man auf Kapuściński zurückkommen. Denn es gibt ja ganze Bücher darüber, wo ihm nachgewiesen wird: zu dem Tag war er gar nicht dort oder den hat er gar nicht getroffen usw., also das heißt, die Frage der Fiktion in der Reportage wird da erhoben und wird ihm…, anklagend meistens, in anklagendem Ton… Aber ich meine, die Qualität von Kapuściński besteht ja gerade darin, …
Kluge
… daß er das verbinden kann.
Enzensberger
… daß er sich erlaubt…, er ist ja ein Schriftsteller, er ist nicht eine Kamera, er ist jemand, der … Und das haben die alle. Ich meine, Evelyn Ward, diese wahnsinnigen Geschichten über Afrika, die er damals geschrieben hat, der war ja Reporter auch, Evelyn Ward. Und jetzt ist die Frage, was stimmt daran, worauf kann ich mich verlassen? Und ich kann mich natürlich nicht darauf verlassen, daß der an dem Tag wirklich in Addis Abeba war. Vielleicht war er da, vielleicht war er nicht da.
Kluge
Aber er hat ein Bild von dem Haile Selassi.
Enzensberger
Er war dort natürlich, er war vielleicht nicht an diesem Tag dort. Und vielleicht hat er es in der Bar vom York Hotel…, saßen andere, die ihm etwas erzählt haben und er schreibt es so, als wenn er selbst dort gewesen wäre. Weil, ich kann ja nicht überall sein. Das heißt, diese Zeugenschaft kann ja nicht flächendeckend sein, ich kann ja nicht an zehn Orten gleichzeitig sein.
Text
Opfer für Elementargeister / Gibt es Engel?
Enzensberger
Es gibt viele Formen von Opfer… In Norwegen zum Beispiel glauben die Leute nach wie vor an Hyldren und Trolle. Und ich habe selbst gesehen, auf der Alm, daß da der Hyldra, das ist ein dämonischer Elementargeist und der kann auch gefährlich sein und deswegen kriegt der immer ein Opfer, der kriegt immer etwas…, da wird ein bisschen Milch rein geschüttet, man weiß auch, wo die sich gerne aufhält, …wird geopfert.
Kluge
Sie sind ja relativ…, bedeckt halten Sie sich, wenn es um die Frage des Glaubens geht. Aber sozusagen, daß Geister um uns herum sind und daß es Boten geben möge von irgendwo her - Engel sind Boten - würden Sie das für ausgeschlossen halten? Das ist ja eigentlich auch doktrinär zu sagen, das gibt es gar nicht.
Enzensberger
Ja, also erstens ist die Frage wissenschaftlich unentscheidbar. Und es gibt ja viele solcher Fragen, die man so nicht beantworten kann.
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor
Kluge
Sie sind Literat und nicht Wissenschaftler, habe andere Verantwortungen.
Enzensberger
Und natürlich, das nennt man dann Aberglauben oder irgend so was in der Art. Das ist mir aber vollkommen egal, wie man das nennt. Das heißt, es ist anthropologisch so, daß wir so gebaut sind…
Kluge
… daß wir das eher produzieren…
Enzensberger
…daß wir, so wie wir Musik kennen, so wie wir Zahlen kennen, so kennen wir auch die Dschinns, die Dibuks, in verschiedenen Kulturen haben die verschiedene Namen, aber im Grunde zweifelt ja niemand daran… Kinder zum Beispiel wissen das ganz genau… Es gibt keine Kinder, die nicht denken, daß irgendwo ein bucklig Männlein im Hof da ist. Das bucklige Männlein…
Kluge
Das ist ein unheimliches Gedicht…
Enzensberger
Das ist doch toll, ja. Und ich meine, dann die ganze Geschichte mit den Engeln usw., das ist doch…, mit kulturellen Differenzen natürlich: wir haben mehr Engel, wir haben mehr solche Engel hier bei uns. Die Buddhisten haben, glaube ich, keine Engel, brauchen keine. Es sind Bedürfnisse auch, die die erfüllen. Und in einer Naturlandschaft wie in Norwegen ist es nicht ungefährlich, da muss man sich hüten. Da gibt es… Oder wie die Isländer eine Straße umbauen: die wird umgelegt, die Autobahn muss einen Umweg machen, weil da Geister sind.
Text
Adolf Merckle (1934-2009)
Kluge
Nehmen Sie an, ein schwäbischer Milliardär, der ein sehr selbstbewusstes Vermögen hergestellt hat und sich nicht verzeihen kann in der Weihnachtszeit, daß er Verträge mit Banken und zwar 56 Banken, wo nicht die Chefs vor ihm sitzen, sondern Untergeordnete, die nichts wagen dürfen, die sich untereinander bewachen… Und die hat er Verträge unterschreiben lassen. Das verzeiht er sich nicht und er wirft sich auf die Schienen, wie Anna Karenina. Ist so etwas literarisch beschreibbar? Es gibt ja keinen Autor, der dabei war.
Enzensberger
Na ja, der muss natürlich diesen Mann erst mal erfinden, der kann ihn ja nicht einfach abschreiben, das geht natürlich nicht. Aber die Details sind brauchbar, es gibt sehr schöne Details. Ich kenne Leute aus dem Ort, wo er sein Haus hatte und die kann man ja fragen und die wissen merkwürdige Sachen über sein Verhalten, über seine Großzügigkeit und seinen Geiz zum Beispiel. Jeder Mensch hat ja…, ich glaube, fast jeder Mensch hat Formen der Verschwendung und des Geizes, die sehr individuell sind. Die kann man ja nicht einfach zusammenpacken und sagen, der ist geizig, der verschwenderisch, sondern das gehört zu der proteischen Seite des Geldes, ist ja sehr wechselhaft, das ist ja nie daßelbe. Geld ist ja nicht einfach Geld, sondern das ist dieses Geld und das ist das andere Geld und damit gehe ich so um und mit dem anderen gehe ich anders um. Ich würde mir eigentlich fast zutrauen, daß in jedem Menschen auch ein sparsamer…, einer, der zum Teil auch deswegen weil er nicht gerne betrogen werden möchte, das kann auch ein Motiv sein. Warum ich in diesen Laden nicht mehr gehe, weil die versucht haben, mich reinzulegen. Da kommt es gar nicht darauf an, ob ich diese 50 Cents mehr oder weniger, ob ich die brauche oder nicht brauche. Und so…, ich meine, das ist ja auch schade. Ich finde es immer schade, daß die Literatur nicht genügend über das Geld Bescheid wissen will, sage ich jetzt mal. Es gibt ja tausend Romane, in denen einfach nicht erkennbar ist, wovon diese Leute leben. Das ist ja schlecht. Das ist ja ganz schlecht. Und natürlich so: das ist auch ein bisschen Abwehr vielleicht davon vorhanden, vor diesem schmutzigen Geld.
Kluge
Dabei macht das Geld viel mehr: es schafft auch ein Selbstbewusstsein. Also ich kann mich achten, weil die anderen mich wegen meines Geldes achten.
Enzensberger
Ja.
Kluge
Das ist ein Maßstab.
Enzensberger
Eine Möglichkeit. Natürlich mit eigener Deformation. Es gibt ja auch keine Haltung zum Geld… Ich behaupte jetzt einfach solche Sachen. Es gibt ja keine Haltung zum Geld, die nicht auch eine spezifische Deformation mit sich bringt, denn es ist klar, also wie die Amerikaner immer sagen: “there is no free lunch”. Also mit irgendetwas bezahle ich, mit irgendeiner Münze bezahle ich den Reichtum, wenn Geld meine Priorität ist.
Kluge
Ich bin Heiratsschwindler, ich zahle mit meinem Charme.
Enzensberger
Ja, ich muss… Ich bin der Arme, der nur hundert Millionen hat, aber meine Gäste sind Multimilliardäre und ich bin der arme Teufel.
Kluge
Ich bin der Verschwender. Mir geht das Geld leicht von der Hand. Ich bin allen anderen überlegen.
Enzensberger
…Es rinnt mir durch die Finger, es macht mir aber nichts aus.
Kluge
Ja, ich bin stolz darauf.
Enzensberger
… der Leichtfuß. Toll, ja, ja, das ist sehr reichhaltig.
Kluge
… ich war eigentlich immer glücklich. Ich bin der Erbe, der sein Erbe verschwendet hat.
Enzensberger
Und ich finde es schade, daß…, gut, es gibt natürlich auch viele Erzählungen, in denen das eine Rolle spielt, das will ich ja nicht behaupten. Aber aufs Ganze gesehen: unterbelichtet.
Text
Was sind Jahrhundertgeschichten?
Kluge
Also wir haben jetzt Minutengeschichten vorhin entwickelt, ein Genre, das zu wenig gepflegt wird. Wir haben jetzt Geldgeschichten. Kalendergeschichten kennt man, aber die Jahrhundertgeschichten kennt man nicht.
Enzensberger
Die kann man vielleicht erst hinterher feststellen.
Kluge
Aber das 20. haben wir hinter uns. Und Sie haben einen breiten Teil davon mitverlebt.
Enzensberger
Ja, aber da gibt es schon Bücher, die …, da gibt es schon Werke, bei denen man sagen kann, die repräsentieren schon etwas von diesem Jahrhundert.
Text
Robert Musil (1880-1924)
Enzensberger
Also in Deutschland zum Beispiel… Ich meine, ich weiß nicht, wie man die Weimarer Republik ohne “Berlin Alexanderplatz” lesen kann. Das kann man nicht mehr, das ist schlagend.
Text
Alfred Döblin (1878-1957)
Enzensberger
Oder Sachen von Roth…
Text
M. Joseph Roth (1894-1939)
Enzensberger
…jetzt also auf die Deutschen mal eingeschränkt. Woanders gibt es ja ganz andere Epen.
Kluge
Jetzt nehmen Sie mal so einen Plan. Balzac hatte ja die Pläne, daß die Romane aufeinander antworten. Wenn Sie jetzt “Berlin Alexanderplatz” von Döblin schon haben und wir könnten jemand aufwiegeln, den Alexanderplatz während der Zeit der DDR, das ist ein zerstörter Platz…
Enzensberger
Das wäre ergiebig.
Kluge
Und dann heute, mit Neubau…
Enzensberger
Was kaputt gemacht wurde und was vertrieben wurde, was ausgegrenzt wurde, was hergestellt wurde, auch planmäßig. Auch die Planungen von diesem Ostberlin… auch merkwürdig.
Kluge
Und so könnte man richtig ein Konstrukt entwickeln, an dem immer wieder weiter erzählt wird, muss auch nicht ein Autor sein.
Enzensberger
Na ja, ja, aber als Kollektivarbeit bin ich ein bisschen skeptisch. Ich weiß nicht… Es gab ja immer diese Versuche der kollektiven Romane, in der Romantik gab es das schon.
Kluge
Aber wenn Sie einen Entwurf, in einem Ihrer Alben oder wie Sie es nennen wollen, sagen: das nicht Gemachte kritisiert das Gemachte. Ich wollte immer “Berlin Alexanderplatz” fortschreiben, dann werde ich mich anheischisch machen, das durchzuführen.
Enzensberger
Da würde ich dann so vorgehen… Ich finde, es sollte auch so was wie Ideenmärkte geben, wo man zur Verfügung stellt den anderen…
Kluge
…Schwarzmärkte…Flohmärkte…
Enzensberger
…als Angebot: bitte bedient euch. Ich bin nicht in der Lage oder ich habe keine Zeit oder ich habe die Lust verloren…
Kluge
Und wenn uns gar nichts einfällt: hier ist ein Plan, hier ist eine Skizze…, kann man ausmalen…
Enzensberger
…kostenlos. Ideen sind nicht Copyright.
Text
“Ich misstraue Autobiographien”
Enzensberger
Wissen Sie, ich bin autobiographisch ein Saboteur. Ich habe es nicht so gerne…, ich misstraue dem… Das ist ein Genre, dem ich tief misstraue, die Autobiographie. Ich glaube, das stimmt nie, was die Leute erzählen. Und in dem Fall… Sonst bin ich ja nicht so heikel, ich habe auch nichts gegen Fiktionen, aber die Autofiktion, die ist noch was anderes. Wenn ich erfinde, die Diener von Haile Selassi am Hof, dann ist das nicht etwas…, es hat ja nichts mit dem…, das ist nicht Herr Kapuściński, der…
Kluge
Oder der Kaiser, der gefangen ist, der in einem Verlies sitzt und hungert.
Enzensberger
Ja. Die Gefahr ist die Wichtigmacherei bei der Autobiographie und auch die Negation davon, wo ich der Schlimmste bin, die ist auch genauso erlogen.
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor
Kluge
So daß also die Frage, wie der Himmel aussah usw., welche Wolken sind: das ist ja ein sehr heißes, ein sehr strahlendes Frühjahr. Man stellt sich das ja vor, irgendwie als finster…
Enzensberger
Ja, ich erinnere mich, daß man im Freien, sehr viel im Freien war…
Kluge
… sehr blauer Himmel, flugzeuggeeignet.
Enzensberger
Ja, Flugzeuge. Und ich meine, man hat ja diese riesigen silbernen Schwärme der Bomber…
Kluge
…, die diese langen Kondensstreifen hinter sich her ziehen.
Enzensberger
Ja. Und es waren dann 80 Flugzeuge über einem da…, es sah toll…
Text
Der sonnige Frühling 1945
Kluge
…, die keine Ziele mehr haben am 30. April…
Enzensberger
Es sah toll aus. Hatte natürlich etwas Überwältigendes, diese Armada.
Kluge
Wenn sie ganz hoch waren, dann warfen sie keine Bomben auf den Ort.
Enzensberger
Nein, nein, die sind immer woanders hin…
Kluge
… ja, die mussten etwas runter.
Enzensberger
Das kleine Kaff war ja vollkommen uninteressant, das hat sich gar nicht gelohnt.
Text
Der Tag, an dem Hitler starb / Wie erzählt man den 30. April 1945?
Kluge
Wenn Sie aber mal als Dichter jetzt sich vorstellen, Sie sollten diesen Tag, an dem Hitler starb, beschreiben. Wo würden Sie ansetzen?
Enzensberger
Also subjektiv war das eine phantastische Sache.
Kluge
Verdichtete Zeit.
Enzensberger
Phantastisch wie zum Beispiel… Ich erinnere mich an die Flucht der Bonzen. Die Bonzen auf der Landstraße sind geflohen in ihren schwarzen Mercedes, die Goldfasane, wie man damals sagte, irgendwelche Gauleiter. Und allein dieser Abzug war tief befriedigend, das war natürlich sehr, sehr schön, daß die plötzlich nichts mehr galten. Es gab eine sehr starke Entwertung von Autoritäten und das war natürlich ein angenehmer Anblick. …Die hatten die Hosen voll, diese Leute, diese präpotenten Figuren da, die… Ja, der Herr Präsident, der Herr Dings, der Herr Gauleiter, alle diese Leute mit ihren Stäben: zack, weg, in die Alpenfestung wollten sie alle. Ich erinnere mich, - das muss auch im April gewesen sein, aber ich weiß den Tag nicht - wo aus Versehen irgendein Zug in dem kleinen Bahnhof bombardiert wurde und wo man dann über die Felder geht, das explodierte alles, es war offenbar ein Munitionswagen dabei, der wurde getroffen und dann ist das alles…, der Zug flog auseinander. Aber da war auch Proviant…
Kluge
Der wurde gestürmt.
Enzensberger
Die Leute…, auf den Feldern hat man Butter gefunden.
Kluge
Wie das Benzinlastfahrzeug in Afganistan, wo die ganzen Einwohner noch Benzin unter Gefahr…
Enzensberger
… unter Gefahr geholt haben. Oder es gab zum Beispiel…, aber das ist auch schon Anekdote…, weil es gab einen Zug… Es gab, daran haben deutsche Verlage sehr viel Geld verdient im Krieg, einerseits “Reclam”, aber auch “Bertelsmann” hat sehr viel verdient durch Feldpostausgaben für die Truppe. Die wurden auch noch 1944/‘45… wurden die noch gedruckt und ausgeliefert für die Truppe, die es schon gar nicht mehr, kaum mehr gab, aber der Apparat lief ja weiter. Und es war ein Wagen dabei mit Klassikerausgaben für die Soldaten.
Kluge
In dem zerstörten Zug … war noch viel Papier.
Enzensberger
Und die sind auch raus…, durch die Explosion auf die Felder verstreut worden. Und ich erinnere mich: ich habe einige dieser Bände da gefunden, die waren leicht angeschmutzt, wie man heute sagt im Antiquariat, aber die waren ja brauchbar. Und dann habe ich diese Bücher eingesammelt. Ich weiß nicht, Hauff oder irgendwelche minor classics, die großen… Goethe hatten wir zuhause und so.
Kluge
Wie kommt das denn, daß man so etwas noch hin und her transportiert hat mit der begrenzten Eisenbahnkapazität…
Enzensberger
Na ja, weil das ist die Trägheit der Institution und jemand hat daran ja auch noch Geld verdient und jemand hatte noch einen Job…
Kluge
… wollte was retten, was verbessern…
Enzensberger
Ja. Auch unter dem Gesichtspunkt: bevor wir das jetzt selbst zerstören, fahren wir das irgendwo hin, kann ja sein. Also die Motive sind wie immer ganz gemischt. Aber vor allem ist es auch die Trägheit von Plänen, die ja weiter laufen, auch wenn sich der Planungszweck erledigt hat.
Kluge
Jetzt ist das, was Hegel die Einzelheit nennt, sogar das Besondere: daß man so etwas Unsinniges auch mit transportiert, so wie man nach Stalingrad eben im schlimmsten Fall noch Präservative eingeflogen hat.
Enzensberger
Ja, ähnlich.
Kluge
So, das ist dann schon das Besondere.
Enzensberger
Ähnlich, ja, ja.
Kluge
… das sagt mehr über die Administration als über die Sache.
Enzensberger
Ja. Das sagt natürlich auch etwas über die Systeme aus, daß sie so eine Art Leerlauf… Das ist ja ähnlich wie der Tanker nicht sofort stoppen kann…
Kluge
… geht das noch eine ganze Weile. So ein Reich geht noch eine Weile. Und jetzt nehmen Sie mal das Allgemeine. Sie sind jetzt Geograph, politischer Geograph und sehen mal auf Narvik, Hammerfest, Oslo und dann sehen Sie auf Rhodos, dann sehen Sie auf La Rochelle, diesen deutschen Besitz…
Enzensberger
… versprengt.
Kluge
… versprengt, da war schon mal eine Belagerung. Breslau ist auch noch deutsch und Heeresgruppe Kurland ist auch noch…, will sich Freikorps ernennen, zum Freikorps unter schwedische Oberhoheit setzen. Das heißt das Ganze ist ja eine Anarchie der besonderen Art.
Enzensberger
Ja.
Kluge
Es ist sehr schmal geworden, aber noch sehr in Bewegung.
Enzensberger
Ja, ich war ja schon als Kind ein Landkartenfreak und hatte deswegen auch immer einen genauen Überblick über die…, während des Zweiten Weltkriegs.
Kluge
…über die Vormärsche…
Enzensberger
Also wer wo… Was war Afrikakorps…
Kluge
… kommen wir hinter das Kaspische Meer…
Enzensberger
Dann die Franzosen da in Nordafrika. Da gab es freies Frankreich, Casablanca… Aber auch im Pazifik die ganzen Inseln… Als Landkartenfreak wußte ich, wo Guam war, Okinawa…
Kluge
Wie würden Sie jetzt als Landkartenfreak dieses Gewirr… Sie nannten eben die Alpenfestung, da sind immer noch Bewegungen im Gange. Also Südtirol nimmt noch Truppen auf, die von Süden strömen. Gewissermaßen Vorräte sind gebaut für den Plan, Höhlen zu besiedeln dort.
Enzensberger
Ja, ja. Alles natürlich auch Kartenhaus… Die Alpenfestung gab es eigentlich nie.
Kluge
Nie. Aber die Idee…
Enzensberger
Aber die Leute haben das geglaubt. Diese Gauleiter haben gedacht, ein Redouit…
Kluge
… auch Eisenhower hat das geglaubt, daß das möglich wäre. Und die Idee, die Zarin ist gestorben, also Roosevelt ist tot: jetzt zanken die sich, Russland und Amerika und dann gibt es doch einen Remisfrieden in den Grenzen von 1937. Danzig ist uns. Sehr seltsam, wie das nebeneinander haust, denn noch ist das Gefühl von 1936
Enzensberger
Ein Rest.
Kluge
…noch im Gemüt.
Text
Die Schlacht von Borodino in Tolstois Roman “Krieg und Frieden”
Kluge
Also Tolstoi beschreibt ja für eine Generation, die auch Napoleon nicht mehr kannte… beschreibt er die Schlacht von Borodino, übrigens meisterhaft.
Enzensberger
Ja, phantastisch.
Kluge
Er war ja nicht anwesend und er macht es auch nicht nach Berichten, sondern er dichtet.
Enzensberger
Das ist toll. Man weiß nicht, wie er das gemacht hat, das weiß ich nicht.
Kluge
Weil der das Prinzip… also den Geiz, die Verschwendungssucht in Napoleon…
Enzensberger
Ja, außerdem war er im Kaukasus, er war Offizier gewesen, also er hatte schon eine Art Vorverständnis…
Kluge
Alles. Aber er hat es zusammengesetzt aus anderen Bausteinen als denen der persönlichen Erfahrung. Und so könnten wir doch auch hier noch einmal versuchen, so etwas zu erzählen. Auf was würde man achten? Wie kriegen wir die Einzelheit, den Moment und das Allgemeine…
Enzensberger
Ja, … zusammen.
Kluge
…was GPS sehen würde, zusammen, wenn es doch GPS nicht gibt. Wenn doch gewissermaßen alle Beteiligten am 30. noch nicht wissen können, was im Bunker geschah. Und gleichzeitig aber: jeder orientiert sich.
Enzensberger
Das ist gut. Das ist eine gute Versuchsanordnung, finde ich, ja. Mal schauen, was dabei heraus kommt.
Kluge
Also könnte man zum Beispiel das Testament, das politische Testament Hitlers noch mal aus der Phraseologie befreien, indem man die Tatbestände, von denen er handelt… Er nimmt ja seine zwölf Jahre da durch und sagt, wir hätten uns mit den Arabern früher verbünden müssen, wir hätten… Und so geht das dann Punkt für Punkt, daß er sozusagen seinen ganzen…, einen Irrtum neben den anderen reiht. Und jetzt müsste man das doch eigentlich, weil es doch der Zerrspiegel eigentlich der wirklichen Geschichte ist, denn einen Teil davon hat er durchgeführt.
Enzensberger
Ja gut. Aber er kam ja auch zu dem Schluss, daß die Deutschen alle krepieren sollen…
Kluge
Ja, sie sind unwürdig, sie sind überlebensunwürdig.
Enzensberger
Ja, ja.
Text
Hitler als Regierungsrat in Braunschweig
Kluge
… wehrunwürdig ist noch was. Aber es ist ja eigentlich grausig. Wenn ich aus dem Ausland kommend, Regierungsrat in Braunschweig, mühevoll eingedeutscht und dann das sage. Das ist schon hart.
Enzensberger
Ja. Gut, ich weiß nicht…
Kluge
Kein Charisma an der Stelle.
Enzensberger
Ich habe eigentlich gar keine Lust mehr…
Kluge
Wenn das der Führer wüsste, müsste man noch sagen.
Enzensberger
Ja. Aber ich habe eigentlich gar keine Lust mehr, mich mit Hitler zu befassen.
Kluge
Nein, ich auch nicht, nein, ich auch nicht…
Enzensberger
Irgendwie, das ist ausge… Was man darüber wissen kann, ist bekannt; es gibt, glaube ich, auch keine Geheimnisse mehr dahinter. Natürlich bleibt dieser Rest, es bleibt ein Rest, der nicht ganz aufzuklären wäre. Aber es gibt viele solcher Sachen, wo man sagt… Ich meine, der ganze Mord an den Juden bleibt ein Rest, wo man sagt…, es gibt ja alle möglichen Theorien, funktionalistische Theorien und ideologische Theorien, alle möglichen Theorien… Ausbeutung, Rachebedürfnisse…
Kluge
Gleichzeitig ist es wie ein Fluch, also wie ein nicht klarer… eine Bewegung, die…
Enzensberger
Ja, ich meine, das führt natürlich darauf hinaus, daß … Es gibt eine Grenze…
Kluge
des Erzählbaren…
Enzensberger
… eine Grenze der Fähigkeit der Spezies, über sich selbst Bescheid zu wissen, könnte man vielleicht…
Kluge
Ein Ende der Einfühlung, kann man sagen,
Enzensberger
Grenzen.
Kluge
Grenzen der Einfühlung.
Enzensberger
Ja.
Kluge
Wo ich es eigentlich…, sozusagen sich etwas derart empört, daß ich es eigentlich auch nicht wissen will. Und das empört mich ebenfalls, weil das ja auch unmöglich ist.
Enzensberger
Richtig.
Kluge
Und das ist eigentlich eine moderne Form von Tragik, was auch immer ich tue, ist falsch. Wenn das in der Erzählung einsetzt, ist es eine Vorausforderung…
Enzensberger
Ja, wo man nicht gewinnen kann.
Kluge
Und wo man den Punkt suchen muss, der so weit an der Grenze, an der Nahtstelle ist…
Enzensberger
Ja, so weit wie möglich…
Kluge
Soweit wie möglich weg und von da aus kann man wieder erzählen.
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor
Enzensberger
Ich meine, wenn Kertész schreibt “Roman eines Schicksalslosen”: das ist so ein Grenzgang, wo er sich erst mal gar nicht als Opfer darstellt, sondern er versucht zu verstehen, was hier…, warum…, was ist hier los?
Text
Imre Kertész, Nobelpreisträger: “Roman eines Schicksalslosen”
Enzensberger
Also die Ratlosigkeit dieses Kindes, der aber versucht, irgendwie noch zu verstehen, was ihm natürlich auf die Dauer auch nicht gelingen kann usw… Das ist schon toll. Es gibt also schon immer noch literarische Möglichkeiten, die Grenze…
Kluge
… von den Rändern zu erzählen.
Enzensberger
… ein paar Millimeter zu verschieben, die Grenze der…
Kluge
…Unerzählbarkeit.
Enzensberger
…Unerzählbarkeit.
Kluge
Aber das ist doch interessant, daß die Herausforderung auch in diesem Material steckt, daß da nichts zeitgebunden ist, sondern durch die Verdichtung der Zeit… die gibt es nicht so oft in unseren Breiten.
Enzensberger
Na ja, sicher. Natürlich gut, ich meine es gibt ja… Es ist ein Problem unserer schönen Literatur, weil die Leute, wenn sie nicht irgendeine historische Dimension erreichen, als Familiengeschichte, es gibt ja viele Möglichkeiten. Aber wenn ich nur erzähle, daß mir die Freundin davon gelaufen ist und daß meine Werbeagentur kaputt gegangen ist durch irgendwelche Intrigen, dann ist das wenig, sagen wir, der kann ja nichts dafür, der hat ja an wenig teilgenommen …
Kluge
Der Erzählstoff ist nicht ganz so berührend…
Enzensberger
…ist nicht so ganz berührend…
Kluge
Als Herausforderung: aber das könnte man erzählen, man könnte auch wichtige Dinge da erzählen.
Enzensberger
Aber es ist schwer, es ist schwer. Und es droht die Langeweile. Toskana-Fraktion,… darüber kann ich doch keinen Roman schreiben. Das ist doch…, nein, also dann lieber gar keinen Roman als den.
Kluge
Und umgekehrt jetzt, also bei dem Nichterzählten: da könnte man, indem man die Zeit ganz eng fokussiert, tendenziell die Minute, in der Hanna Reitsch darüber entscheidet als Pilotin, ob das Flugzeug abstürzt oder nicht abstürzt und da war die Hand klüger als der Kopf, sie wollte… es war eine falsche Bewegung, sie wollte eine Bewegung machen, die ist ihr missglückt, dadurch stürzte sie nicht ab. Das wäre eine Minute.
Enzensberger
Ja, das ist ja gut. Aber das ist…, jetzt, ich weiß, daß Sie es nicht gerne haben, wenn man Sie erwähnt, aber das ist…, diese Minutensachen sind ja eine Sache, in der Sie geübt sind.
Kluge
Ja, weil es im Film sozusagen die Grundform ist. Aber der zweite Punkt ist: zehn Minuten und jetzt Tage, Tagesläufe, die wären sozusagen das Gegenbild, der Gegenpol zum Lebenslauf. Und das ist ja unsere Froschperspektive, daß wir aus Lebensläufen heraus fühlen und denken. Das kann man doch sagen?
Enzensberger
Ja, Lebensläufe ist auch ein Stichwort.
Kluge
Aber wir haben nicht mehr. Weil Lebensläufe machen sie auch. Aber jetzt, wenn Sie mal nur nehmen: das ist eine Perspektive, erzählbar. Und jetzt mehrere Lebensläufe: das wären die “Buddenbrooks” beispielsweise, die Generationenfolge. Wenn Sie das Ruhrgebiet nehmen, hätten Sie wieder die nächst größere Stufe, das sind fünf Generationen.
Enzensberger
Ja, es gibt ja Schriftsteller, die es versuchen.
Kluge
Die Geschichte des Telefons, die Geschichte von Anillin, die Geschichte der Eisenindustrie…
Enzensberger
Ja. Es gab in der Nazi-Zeit einen Schriftsteller, der nicht unbegabt war, der hieß Schenzinger und der hat ein Werk geschrieben über die Entstehung der chemischen Industrie in Deutschland, über die “IG Farben”, eigentlich über “IG Farben”.
Kluge
… ein spannendes Buch.
Enzensberger
Ja… Über Erdöl hat er eins geschrieben. Die habe ich als Kind gelesen, diese Sachen und die haben mir was gebracht, weil die waren auch gesättigt von… Der Mann, der wusste, wovon er redet, das war nicht einfach so drüber hinweg… Und es ist auch merkwürdig, daß es auch in der Diktatur immer noch eine Lücke gibt, wo so etwas erzählt werden kann, natürlich mit Färbungen am Rand, aber die haben mich gar nicht interessiert. Mich hat überhaupt nicht… [der] deutsche Großmachtsanspruch und so, das war gar nicht… Nein, sondern toll, was diese Leute da gemacht haben, diese Habers, diese Synthese, Düngersynthese, was weiß ich, alles solche Sachen.
Kluge
Und die führt ja… Eine Geschichte, eine scheinbare Randgeschichte, führt bis zum Abzug von Arbeitskräften und Verschrottung durch Arbeit ins KZ.
Enzensberger
Ja, ja, zur Zwangsarbeit…
Kluge
Aber es ist nicht zwingend chemische Industrie.
Enzensberger
Nein, nicht eigentlich chemisch. Neulich las ich einen Artikel, da hat sich jemand mit beschäftigt, über die Geschichte der Lufthansa. Und zwar, was die Lufthansa im Krieg alles getrieben hat. Und die Lufthansa lehnt es ab, sich mit dieser Frage überhaupt zu beschäftigen, weil sie ist eine Neugründung aus dem Jahr 1953 und hat nichts mit der alten Lufthansa angeblich zu tun.
Kluge
…, die noch im April 1945 einen Linienverkehr unterhält von Stuttgart nach Madrid… Und Léon Degrelle, von den Wallonen, wir sind jetzt wieder bei Brüssel, der fliegt nach Madrid, um das Vierte Reich vorzubereiten. Und als die Amerikaner seine Auslieferung verlangen, ist er schon in Marokko, in Casablanca.
Enzensberger
Ja, ja. Und natürlich, das war ein blühendes Geschäft. Die Lufthansa war sehr erfolgreich damals, sehr ambitioniert, hat aber auch natürlich im Krieg alle möglichen Infrastrukturleistungen erbracht. Die haben zum Beispiel…, die Lufthansa war führend in der Reparatur der Luftwaffenmaschinen, denn die hatte die Werkstätten, die hatte natürlich die Hangars, die hatte die Wartungsfähigkeit usw. und es ist ein Kapitel… niemand will davon reden. Und das bleibt aber…, das wird ihnen nicht erspart bleiben, auch die Lufthansa wird irgendwann mal, wie Flick und alle anderen, irgendjemand an ihre Archive lassen müssen, einen richtigen Historiker, der dann zeigt, wie involviert die war, auch mit dem Regime natürlich. Die war nicht so die saubere Lufthansa usw. Also ich meine, das endet nicht, da gibt es immer noch was zu erzählen.
Text
Hans Magnus Enzensberger, Autor
Enzensberger
Und ich fände das auch eine sehr gute Geschichte, das ist eine gute Geschichte. Weil das ist die eine Seite, die kriminelle Seite ist da, aber es ist auch die Pionierseite da, zeppelinartige, diese Flugboote…
Kluge
Das Jahrhundert der Ingenieure, das hat diese Seite. Der Mensch kann fliegen, früher nur im Zirkus und jetzt wirklich.
Enzensberger
Ja. Und das hat diese zwei Seiten der Medaille. Ja, ich meine, diese “JU 52” und was die alles gemacht haben da.
Kluge
Elly Beinhorn, der an jeder Stelle der Wüste notlandet und sich selber das wieder repariert.
Enzensberger
Ja, lauter Geschichten. Eigentlich eine gute Geschichte, die Lufthansa-Geschichte, das sollte mal jemand…
Kluge
Und das wäre wieder jetzt ein weiteres Genre, von dem wir gesprochen haben, neben dem Minutenfilm und dem Jahrzehntfilm, den Jahrhunderterzählungen, wäre dies hier, daß man die großen Epochen der Fotografie, des Eisens, des Brückenbaus, der Dampfer und der Luftfahrt, sozusagen separat erzählt, quer zu den Missbräuchen, die damit betreiben wurden…
Text
Max Eyth (1896-1906)
Enzensberger
Ja. Max Eyth, einer der frühesten Erzähler der Technik-Geschichte, Max Eyth hieß der, 19. Jahrhundert.
Text
“Der Tunnel” von Bernhard Kellermann (1879-1951)
Enzensberger
Oder Bernhard Kellermann, “Der Tunnel”…
Kluge
Das ist der Anfang dieses Genres. Max Eyth, e,y,th. Faszinierende Bücher.
Enzensberger
Ja, merkwürdige… Früh auch in der Entwicklung, aber es waren Themen, es waren Stoffe…
Kluge
Historiker sind ja eigentlich sehr gute Erzähler, also Tacitus, Droysen…
Enzensberger
Wenn sie schreiben können.
Text
Historiker als Erzähler / Tacitus, Montaigne, Droysen, Barceló, Jules Michelet u.v.a.
Kluge
Einige davon können gut schreiben. Und in dem Sinne ist auch Montaigne ein Historiker und ein Autor gleichzeitig. Das ist eigentlich…, da liegen die innovativen Chancen, glaube ich, der Literatur.
Enzensberger
Und deswegen glaube ich auch, daß da die Schriftsteller Möglichkeiten haben. Das ist natürlich auch auf Gegenseitigkeit gebaut, denn ohne die Vorarbeit der Experten ist man auch als Schriftsteller…, kann man sich ja nur sehr begrenzt bewegen, also man ist gegenseitig… Ich finde ja, Schriftsteller sind ja auch Ausbeuter unter anderem, das heißt sie beuten die Vorarbeiten von anderen Leuten aus. Wenn zum Beispiel ich eine Geschichte der Farbenindustrie…, dann muss ich mich auch an Leute halten, die vielleicht ganz langweilige Sachen da veröffentlicht haben, irgendwelche Dokumente aus den Archiven, was weiß ich…
Kluge
Das darf man doch…
Enzensberger
Das darf man doch, jaja.
Text
Erlöst die Nachrichten von der menschlichen Gleichgültigkeit! /
Kluge
Das ist die Aufgabe. Welcher Unternehmer macht etwas anderes als etwas anderes auszubeuten?
Text
Gespräch mit dem großen Erzähler Hans Magnus Enzensberger
Enzensberger
Jaja, sicher. Das hat eben auch mit der Relativitäts-, mit der Originalität zu tun: das sind ja relative Vorstellungen, ich mache das ganz alleine, ohne die anderen, das geht gar nicht.
Kluge
Also ich bin eigentlich am persönlichsten, wenn ich sachlich bin. Kann man das sagen?
Enzensberger
Schön, ja.