Die Reise von Moskau nach Petuschki
Transkript: Die Reise von Moskau nach Petuschki
Die Reise von Moskau nach Petuschki
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- Die Reise von Moskau nach Petuschki, ein Poem von Wenedikt Jerofejew
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- Wenedikt Jerofejew beschreibt in seinem Poem eine Reise vom Kursker Bahnhof in Moskau zu der Station Petuschki, die 60 Kilometer südöstlich von Moskau liegt / Die Reise endet im Delirium tremens / Der BBC-Regisseur Paul Pawlikowski hat den Dichter, der als Nachfolger Gogols gilt, den aber bis dahin niemand gesehen hatte, aufgespürt und mit Jeroejews Hilfe die Stationen der Reise “Moskau - Petuschki” dokumentiert / Ein Blick in das interne Rußland und das Moskau rätselhafter Säufer / Hans Magnus Enzensberger: “Moskau - Petuschki ist die beste Beschreibung der sowjetischen Wirklichkeit, die ich kenne”
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- Kursker Bahnhof, Moskau
- Erzählerstimme aus dem Off [liest Passagen aus “Moskau - Petuschki”]
- Ich hab einmal ein ganzes Parfumfläschen “Silberne Maiglöckchen” ausgetrunken und fing an zu weinen. Meine Mutter war mir eingefallen. “Mama”, sagt ich, und weinte, und wieder “Mama”, und wieder Tränen. Ein Dümmerer würde weiter so sitzen und heulen. Ich dagegen trank darauf ein Fläschen “Weißer Flieder”, brach in ein idiotisches Gelächter aus und vergaß darüber sogar den Namen meiner Mutter.
- Erzählerstimme
- Flieder darf man nie durch Maiglöckchen ersetzen oder durch Jasmin oder durch Heckenrosen. Für diejenigen, die in den Coktailgeist von Genf das Parfüm “Silberne Maiglöckchen” mixen, hab ich nur Verachtung. Hier ist das genaue Rezept: fünfzig Gramm „Weißer Flieder“; fünfzig Gramm Anti-Schweiß Puder; zweihundert Gramm Zhiguli Bier; und hundert Gramm gereinigte Politur. Wie Politur gereinigt wird brauch ich euch nicht zu erklären, das weiß in diesem Land jedes Kind.
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- Aus dem Text “Die Reise nach Petuschki”, gelesen vom Autor.
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- Warten auf die Ladenöffnung
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- Kaschenko Klinik für Psychiatrie Moskau
- Michail Moziew [hier, wie auch im Folgenden, deutsche Untertitel für russischen Ton]
- Ich zeige Ihnen, wo Jerofejew lag. Er wurde mit einer schweren Alkohol-Vergiftung hier eingeliefert, von der er sich langsam erholte. Er benahm sich gut. Keiner vermutete in ihm einen Schriftsteller.
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- Dr. Michail Moziew
- Zhenja
- Ich traf ihn 1973 oder 74.
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- Zhenja
- Interviewer
- Was habt ihr gemacht?
- Zhenja
- Getrunken! Kennst du seine Cocktails? “Die Komsolenzträne”, “Tante Claudias Kuss”, “Kanaan-Balsam”, “Geist von Genf”. Trink sie in Gottes Namen.
- Igor Awdiew
- Benni bekehrte mich. Bei unserer ersten Begegnung gab er mir das Johannes-Evangelium zu lesen. Er pflanzte in uns den Samen des Evangeliums. Er hat sich erst letztes Jahr taufen lassen. Er wollte wie Kaiser Konstantin kurz vor seinem Tod gereinigt in die nächste Welt kommen.
- Text
- Igor Awdiew genannt “Schwarzbart”
- Interviewer
- Lebt Jerofejew hier ?
- Frau 1
- Ja.
- Interviewer
- Wo ?
- Frau 1
- Stock, Wohnung 78.
- Interviewer
- Kennt man ihn hier ?
- Frau 1
- Vorher nicht, aber jetzt haben sie ein Buch von ihm veröffentlicht, ich habs nicht gelesen. In Moskau gilt er nicht als Schriftsteller.
- Interviewer
- Warum?
- Frau 1
- Er trinkt immer, selbst jetzt, während wir sprechen.
- Galia Jerofejew
- Freunde kamen und ließen ihn im Treppenhaus zurück wie ein kleines Kätzchen. Ich sah ihn und sagte: “Komm herein.” Er kam … und blieb.
- Text
- Galia Jerofejew
- Interviewer
- Bedauern Sie Ihr Leben ?
- Jerofejew
- Ich dachte, das sei das Scheiß-Ende. Mein Leben war, wie es war. Zur Hölle damit.
- Text
- Wenedikt Jerofejew
- Text
- Aus: “Moskau - Petuschki”, 1985 gelesen von Jerofejew, mit der Stimme, die er vor seiner Kehlkopfoperation hatte
- Erzählerstimme
- “Macht doch nichts”, sagte ich mir. “Alles geht so, wie es soll. Wenn du nach links gehen willst, Benni, dann geh nach links. Ich zwinge dich zu nichts. Wenn du nach rechts gehen willst, dann geh nach rechts!” Ich ging nach rechts, leise taumelnd vor Kälte und Kummer. Oh, diese morgendliche Last im Herzen. Wovon hat sie mehr, diese Last, die noch keiner benannte? Sind es zwei Teile Lähmung und ein Teil Brechreiz? Ist es mehr nervöse Erschöpfung oder tödliche Schwermut,
irgendwo unweit des Herzens? “Macht doch nichts”, sagte ich mir, “stell den Kragen gegen den Wind und geh schön langsam. Und atme selten, ganz selten. Atme so, dass sich beim Gehen die Beine nicht in den Kien verheddern, und geh irgendwo hin. Wenn du nach links gehst, kommst du zum Kursker Bahnhof. Wenn du nach rechts gehst, kommst du wieder zum Kursker Bahnhof. Komm, geh nach rechts, um ganz sicher hinzukommen.”
- Text
- “Auf dem Weg zum Kursker Bahnhof”
- Erzählerstimme
- Ich sollte mich lieber gegen eine Säule lehnen, das hilft gegen Brechreiz. “Aber ja, Benni, aber ja”, begann jemand hoch oben zu singen, ganz leise und so sanft, so sanft. “Kneif die Augen zusammen, das hilft gegen Brechreiz.” “Ich kenne euch; ihr seid die Engel des Herren! Ihr seid es wieder.” “Natürlich sind wir es” - und wieder so sanft. “Wisst ihr was, Engel?” “Was?” “Es ist so schwer…” “Aber wir wissen doch, dass es schwer ist”, sagten die Engel. “Lauf ein wenig herum, dann wird dir leichter. Und in einer halben Stunde öffnen die Läden. Wodka gibt es zwar erst ab neun, aber Roten geben sie dir gleich.” “Roten?” “Roten”, antworteten singend die Engel des Herrn. “Schönen kühlen?” “Aber natürlich.” Oh, wie mich das erregte…
- Frau 2
- Man schenkt nicht mehr als 50 Gramm ein. Man hält das Glas so in der linken Hand, um eine Kreisbewegung auszuföhren und die Flüssigkeit leicht zu erwärmen. Durch den Geruch wird die aromatische Qualität festgestellt. Man nimmt einen kleinen Schluck. Die Zunge dient zur Geschmacksbestimmung. Danach beißt man in einen Apfel. Der Rest wird weggeschüttet.
- Erzählerstimme
- Was ich trank, ballte sich irgendwo zwischen Bauch und Speiseröhre zusammen. Es quoll mal nach oben, mal nach unten, fühlte sich an wie Vesuv und Pompeij, wie die Böllerschüsse zum ersten Mai in der Hauptstadt meines Landes, und ich litt und betete.
- Michail Moziew
- Das ganze Buch ist nur eine Darstellung von klinischem Alkoholismus. Es ist ein klassischer Fall.
- Stanislaw Schewewrdin
- Ziel unseres Magazins ist es, unsere Gesellschaft aufzuklären.
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- Stanislaw Schewerdin, Herausgeber der Gesundheitszeitschrift “Nüchternheit und Kultur”
- Schewewrdin
- Wir müssen das Problem des Alkoholismus verstehen. Wir müssen die Tragödie dieses Mannes verstehen, der ein Parasit dieser Gesellschaft geworden war. Er war ein Opfer, deshalb haben wir sein Buch veröffentlicht.
- Zhenja
- “Moskau-Petuschki” ist die beste Beschreibung der sowjetischen Realität die ich kenne.
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- Josef Brodky, Schriftsteller
- Josef Brodsky (deutsche Untertitel, aus dem Englischen übersetzend)
- Es ist leicht, sich über die sowjetische Realität lustig zu machen. Aber ich glaube nicht, daß Jerofejew das in seinem Buch wollte. Ich glaube, er wollte eine Stimme realisieren.
- Frau 3
- Der Zug nach Petuschki fährt um 9 Uhr auf Bahnsteig 4
- Erzählerstimme
- Petuschki. Das ist ein Ort, wo die Vögel Tag und Nacht nicht aufhören zu singen, wo sommers wie winters der Jasmin nicht veblüht. Die Erbsünde, wenn es sie je gegeben hat, ist dort ohne Belang. In Petuschki behalten selbst jene, die wochenlang nicht nüchtern werden, ihren klaren, unergründlichen Blick.
- Text
- “Vom Kursker Bahnhof zur Bahnstation Hammer und Sichel”
- Erzählerstimme
- Jeden Freitag, genau um elf Uhr, erwartet mich auf dem Bahnsteig dieses Mädchen mit Augen von weißer, fast fahler Farbe. Liebste unter den Flittchen, die flachsblonde Teufelin. Was habe ich schon hinter mir gelassen. Ein paar stinkende Fußlappen unter der Arbeitshose. Eine Zange und eine Raspel. Einen Gehaltsvorschuss und Spesen. Und was liegt vor? Portwein. Entzücken und Krämpfe. Glückseligkeit und Zuckungen. Himmlische Mutter, wie weit ist es noch bis Petuschki?
- Text
- Proben zu “Moschkau - Petuschki”, Malaja Bronnaja Theater, Moskau
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- “Von Nikolskoje nach Altikowskaja”
- Galia Jerofejew
- Er hatte weder ein Zuhause, noch eine Familie. In Petuschki war er oft. Sie tranken dort immer. Die ganze Stadt war betrunken.
- Text
- Bahnhof Petuschki
- Vadim Tichonow
- Das ist die Moskau-Peking-Bahnlinie, dir genau durch unsere Stadt geht, durch Petuschki. Außer trinken gibt es hier absolut nichts zu tun. Schon morgens kaufen wir uns Wodka. Wenn es keinen gibt, gehen wir in ein anderes Dorf.
- Erzählerstimme
- Sie sehen auf dem Bahnsteig mit ihrem Zopf vom Nacken bis zum Hintern, vor Erregung glühend entflammend und trinken, trinken, und dann weiden, weiden zwischen den Lilien bis zur tödlichen Erschöpfung. Bringt mehr Halsbänder und Spangen, Seide und Samt, Diamanten und Perlen. Ich will mich kleiden wie eine Königin, denn mein König kommt zurück.
- Interviewer
- Gibt es Jasmin in Petuschki?
- Parteisekretär von Petuschki
- Jasmin? Das weiß ich nicht.
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- Parteisekretär von Petuschki
- Parteisekretär
- Weil Jerofejew ein Alkoholiker war, dachten die Einwohner negativ über ihn. Aber andererseits hat er über die Gesellschaft geschrieben. Sein Buch und sein Leben zeigen, daß man nicht… daß man nicht…
- Interviewer
- Sie kamen aus Kola nach Moskau als hoffnungsvoller Schüler?
- Jerofejew
- Ja, ich kam 1955 nach Moskau mit 16, als dummer, kleiner Junge. Ich wollte unbedingt auf die Moskauer Universität.
- Galia Jerofejew
- Nach Moskau zu kommen war seine Rettung. Denn dort am nördlichsten Polarkreis war der Hunger am schlimmsten. Seine Mutter war in einer furchtbaren Lage. Sein Vater kam ins Gefängnis und ihr wurde die Essen-Rations-Karte weggenommen. Sie war ein Esser zuviel. Deshalb verließ sie die Kinder, die dann ins Waisenhaus kamen.
- Erzählerstimme des Werbefilms der Lomonossow Universität
- One wants to get a view from all sides of this beautiful structure, which the Soviet people call “The Palace of Science”. The students gather in the university lounges. Students with teaching staff are in show at a tasty meal in their refectories.
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- Lomonosow Universität, Moskau
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- Werbefilm der Lomonossow Universität aus den fünfziger Jahren.
- Jerofejew
- Ich dachte, das sei ein Tempel der Lehre. Dieses verdammt große Ding, das sie 1955 gebaut haben. Ich ging hinein, sah nach rechts - grauenhaft, ich sah nach links - auch grauenhaft. Deshalb sagte ich mir: Gott, ich muß mich verlaufen haben.
- Erzählerstimme des Werbefilms
- One hundred and six lifts will bring you rapidly to any floor. Left and right of the central section are six thousand separate rooms for the students and postgraduates. Sunlight falls into each room of the buildings through eighteen thousand windows.
- Jerofejew
- Als Leibniz drankam, fing ich sofort an zu trinken.
- Interviewer
- Was hat Leibniz mit Alkohol zu tun?
- Jerofejew
- Wie ungebildet die doch sind.
- Erzählerstimme des Werbefilms
- Everybody swings into a waltz.
- Interviewer
- Wie endete Ihre akademische Laufbahn?
- Jerofejew
- Ganz einfach. Ich ging nicht mehr in die militärische Schulung. Das war der Anfang ihres Hasses und meines Exils.
- Erzählerstimme des Werbefilms
- How wonderful it is to be young, and to know that all doors are wide open before you…
- Michail Mazurski
- Ich glaube nicht, daß er bewußt in der Gosse leben wollte. Er hatte keine Papiere, keinen festen Wohnsitz.
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- Michail Mazurski, Psychiater
- Galia Jerofejew
- In seinem Stück “Waldburgisnacht” sagt einer: “Ich habe keine Papiere, ich mag sie nicht.” Aber wie wollen sie [sic] in der UdSSR leben ohne Papiere?
- Vadim Tichonow
- Als er mal wieder arbeitslos war, beschaffte ich ihm einen Job in der Telefonkabe-Brigade.
- Text
- Vadim Tichonow, Jerofejews Freund
- Tichonow
- Wir reisten durch das halbe Land. Wir legten das Kabel, ließen es vergammeln, gruben es wieder aus. Das machten wir fast zehn Jahre lang. Alles was wir machten war lesen und trinken.
- Text
- “Von Station 43. Kilometer nach Krapunowo”
- Erzählerstimme
- Frei von Scham und nutzlosen Sorgen führten wir ein rein geistiges Leben. Ich erweiterte ihren Horizont so gut ich konnte, und sie fanden Gefallen daran. Ich gab ihnen “Nachtigallengarten” zu lesen, ein Werk von Alexander Blok. Im Herzen dieses Poems steht, wenn man all wohlriechenden, schulterdichten, nebel- und rosaroten Liebhaber beiseite lässt, eine lyrische Figur; ein Mann der wegen Trunksucht, Hurerei und Bummelantentum entlassen wurde. Ich sagte ihnen: “Dieses Buch ist sehr modern und nützlich für euch.” Sie lasen es, aber sie wurden davon noch blöder. Alle Kölnisch-Wasser Flaschen mit dem Namen “Frische” verschwanden aus den Läden. Gott weiß warum, aber vergessen war der Boaka, der Wermut, der Kognak, alles war vergessen, und “Frische” triumphierte. Sie tranken” Frische” und nichts anderes. Und endlich begriff ich: ich war ein Vollidiot gewesen. Habe ich diesen Parasiten je ins Herz geblickt? In ihre trüben Tiefen? Habe ich die Dialektik jener Hosenscheißerherzen je wahrgenommen? Hätte ich sie bemerkt, dann hätte ich verstanden, was der “Nachtigallengarten” und die “Frische” gemeinsam haben…
- Text
- “Von Jesino nach Frjazewo”
- Erzählerstimme
- Und da stellte ich meine weltberühmten berüchtigen Diagramme auf, deretwegen sie mich dann gefeuert haben. Auf der waagrechten Achse werden alle Arbeitstage des Monats eingetragen, und auf der senkrechten das Getrunkene in Gramm, umgerechnet auf reinen Alkohol. Natürlich ist der Konsum nach der Arbeitszeit bei allen ziemlich gleich, und daher von geringem wissenschaftlichen Interesse. Das hier zum Beispiel ist die persönliche Kurve von Viktor Totoschki, Mitglied des Konsor Moll [?]; und die gehört Alexej Blinjajew [?], ein Parteimitglied seit 1936 und ein Betonkopf. Nun und das ist Euer ergebener Diener, Ex-Brigadier der Telefonmontagemannschaft und Autor des Poems Moschkau-Petuschki. Das erste zeigt den Himalaja, die Ölfelder von Baku, oder sogar die Zinnen des Kreml. Das nächste ist wie eine frische Brise auf dem Karmafluss, ein sanftes Plätschern der Wellen, auf denen die Schatten der Boote tanzen. Und nun der stolze Herzschlag, der schreiende Sturm vor uns, die Flutwelle. Diese Linien plaudern alles aus über einen Mann und sein Herz. Sie zeigen seine Stärken, beruflich und sexuell, und seine Schwächen, sexuell und beruflich. Seine Fähigkeiten zum Betrug, all die Geheimnisse seines Unbewussten, falls vorhanden.
- Tichonow
- Er schrieb “Moskau-Petuschki” in einem Bauwagen, wo er Wache halten sollte, während die anderen frei hatten.
- Text
- Aus “Moskau - Petuschki”
- Erzählerstimme
- Alle ehrenwerten russischen Bürger haben gesoffen wie die Becher. Aus Verzweiflung, weil sie das schwere Los ihres Volkes nicht mildern konnten. Der Sozialdemokrat schrieb und trank. Und der Muschik trank, ohne ein Wort zu lesen. Das Dickicht der Unwissenheit wurde immer undurchdringlicher, die Verelendung wurde absolut. Habt ihr Marx gelesen? Absolut.
Mit anderen Worten, es wurde mehr und mehr gesoffen, und im gleichen Maße wuchs die Verzweiflung der Sozialdemokraten. Das ganze denkende Russenland trauert um den Muschik und säuft, ohne aufzuwachen.
- Text
- Proben zu “Moskau Petuschki”, Malaja Bronnaja Theater, Moskau
- Text
- Im Zug 22 Uhr 45, Moskau - Petuschki
- Zhenja
- Wir lebten acht oder zehn Jahre lang in Zügen. Manchmal konnte uns Vadim nicht mit nach Hause nehmen, denn das Zimmer war zu klein. Ein kleines Sofa und ein Flügel standen darin. Benni und ich schliefen unter dem Flügel. Seiner Frau ging das auf die Nerven. Also mußten wir zurück in unseren Lieblingszug, in die Moskau-Petuschki Linie. Dann wurde der letzte Waggon auf ein Abstellgleis gestellt. Dort lebten wir dann für zwei, drei oder acht Jahre.
- Text
- “Von Kuschino nach Scheleznodroznaja”
- Erzählerstimme
- Und alle tranken. Den Kopf nach hinten geworfen wie Pianisten. Es begann ein Schlurfen und Raunen, als hätte der ewig trinkende Pianist nun endlich alles geleert, und, versunken in seine Mähne, die Etüde “Waldesrauschen” in cis Moll von Franz Liszt angestimmt. Ich hab einmal gelesen, dass flachshaarige Menschen immer rot anlaufen, wenn sie trinken. Ja verstehst du nicht, Kuprin und Gorki sind nie wieder nüchtern geworden. Schön, und weiter? Was heißt da weiter; weißt du denn nicht, was Tschechow sagte, kurz bevor er starb? Zuerst sagte er, “ich sterbe”; dann: “gebt mir Champagner”, und dann erst starb er. Und Schiller? Der konnte ohne Champagner gar nicht leben, geschweige denn sterben. Wenn er schrieb, stellte er seine Füße in eine Wanne mit Eiswasser und goss sich ein Glas Champagner ein. Ein Glas durch die Kehle gejagt, und der erste Akt war fertig. Fünf Gläser, und fertig ist die ganze Tragödie in fünf Akten.
- Erzählerstimme
- “Der Schaffner!” Der Schrei ging durch das ganze Abteil und explodierte an meinem Ohr. Nicht, dass irgendjemand auf der Petuschki-Linie vor dem Schaffner Angst gehabt hätte; keiner hatte eine Fahrkarte. Nur dem Abtrünnigen, der sich im Suff im Versehen eine gekauft hat, ist der Anblick des Schaffners peinlich. Wenn er seine Fahrkarte hervorzieht, dann wagt er es nicht, irgendjemandem in die Augen zu blicken. Am liebsten würde er in den Erdboden versinken. Der Oberschaffner Semjonitsch hatte die Geldstrafen abgeschafft. Stattdessen verlangte er von jedem, der keine Fahrkarte hatte, ein Gramm Wodka pro Kilometer. Überall in Russland muss man eine Kopeke pro Kilometer Strafe bezahlen. Das ist fast doppelt so viel wie das, was Semjonitsch fordert. Wenn man zum Beispiel von Tschuchlinka nach Ussad fährt - das sind neunzig Kilometer - schenkt man Semjonitsch neunzig Gramm ein und fährt völlig ungestört weiter; hingeflackt auf seiner Bank wie ein Pascha. Semjonitschs Reform stärkte seinen Rückhalt in der breiten Masse. Er hatte die Linie verbilligt, vereinfacht, und humanisiert.
- Text
- Wodka Fabrik “Kristall”, Moskau
- Mann 1
- Wir produzieren 8 Millionen Liter Wodka pro Jahr.
- Interviewer
- Wieviel kostet die Herstellung eines Liters Wodka ?
- Frau 2
- Zehn Liter, also wenn wir in [sic] das in reinen Alkohol umrechnen, kosten weniger als ein Rubel.
- Interviewer
- Und in den Läden?
- Mann 1
- Ein Liter 20 Rubel.
- Interviewer
- Kann man korrekt trinken?
- Frau 2
- Man kann und man sollte.
- Interviewer
- Wie?
- Frau 2
- Schwer zu sagen, ich kann nur wiederholen, man hat die Leute immer noch nicht genügend aufgeklärt, wie man unser Produkt benutzt.
- Text
- Und heute ist sein Geburtstag.
- Michail Mazurski
- Ich glaube nicht, daß er “fröhlich” wird, wenn er betrunken ist. Nein, für ihn ist das Leben ohne Alkohol einfach schwierig.
- Text
- “Von Omutischje nach Leonowo”
- Erzählerstimme
- Und plötzlich trübte sich alles ein. Nebel war das, sagt ihr? Ja, es war wohl Nebel. Und wenn ihr meint, es war kein Nebel, es war Feuer und Eis, dann würde ich euch auch zustimmen. Zuerst gerinnt das Blut in den Adern, und wenn es erstarrt ist, beginnt es sofort wieder zu kochen und erstarrt von Neuem. Ich hielt meinen Kopf fest, zitternd und schlotternd, und die Waggons begannen ebenfalls zu zittern und zu schlottern, aber das haben sie schon eine ganze Weile getan, gezittert und geschlottert.
- Text
- Ausnüchterungszelle
- Erzählerstimme
- Die Sonne versank feuerrot. Die Pferde schnaubten. Ich lief durch Sturm und Nacht und riss die Türen aus den Angeln. Ich wusste, dass der Zug Moskau-Petuschki in diesem Augenblick entgleiste. Waren das die Zuckungen, die ich von dir begehrte, Petuschki? Wer hat deine Vögel geschlachtet und deinen Jasmin zertrampelt?
- Michail Moziew
- Das Buch beschreibt alle typischen Psychosen, die wir an unseren Patienten beobachten.
- Erzählerstimme
- Das ist nicht Petuschki. Wenn einer diese Erde für immer verlassen hat aber doch jeden Einzelnen von uns sieht, in diesen Winkel hat er keinen Blick getan. Die Schritte meiner Verfolger kamen immer näher, aber die Luft blieb mir weg. Ich stolperte bis zur Kreml-Mauer und brach dort zusammen. Sie stürzten sich auf mich und bohrten mir ihren Pfriem mitten in den Hals. Ich hatte nicht gewusst, dass es auf der Welt so einen Schmerz gibt. Seither habe ich das Bewusstsein nicht wieder erlangt, und werde es auch nie mehr wieder erlangen.
- Jerofejew
- Ich bin in dieses Dorf, Abramtsevo, für immer gezogen. In Moskau leide ich unter dauerndem Brechreiz. Ich muß dann trinken. Hier verbringe ich die meiste Zeit damit, durch Wälder und über Wiesen zu rennen wie ein verrückter Hund.
- Jerofejew
- Ich schrieb das Buch nur für einen kleinen Kreis von Freunden, um sie aufzuheitern. 80 Seiten um sie zu erfreuen und 10 Seiten, um all die Freude zu vergessen.
- Interviewer
- Alle Ihre Bücher enden im totalen Horror?
- Jerofejew
- “Titus Andronicus” oder die “Spanische Tragödie” enden tatsächlich in einem Massaker des gesamten Personals. Ich hingegen war so freundlich, einige meiner Charaktere am Leben zu lassen. Aber ich bin dabei, diesen Fehler zu korrigieren.
- Text
- Premiere von “Moskau - Petuschki” am Malaja Bronnaja Theater
- Erzählerstimme
- Jemand hat mir einmal gesagt, dass es ganz einfach ist, zu sterben. Man braucht nur vierzig mal hintereinander tief einzuatmen und genauso oft auszuatmen. Alles muss man ausatmen. Dann wird man seinen Geist aufgeben. Ich werde sterben, und er wird mich fragen: “Und, wie war’s? Gut oder schlecht?” Ich werde die Augen senken und schweigen. Und das Schweigen wird jeder verstehen, der die Folgen eines lang andauernden Rausches kennt. Ist nicht das ganze Leben nur ein Rausch der Seele? Wir alle sind jeder auf seine Weise betrunken. Einige trinken mehr, andere weniger. Einige lachen der Welt ins Gesicht, andere werfen sich ihr an die Brust und weinen.
- Text
- Jerofejew starb am 15. Mai 1990
- Text
- Die Reise von Moskau nach Petuschki, ein Poem von Wenedikt Jerofejew
- Text
- Regie: Paul Pawlikowski
- Text
- Deutsche Fassung: Katharina Enzensberger und Elisabeth von Molo, Sprecher: Hans Korte
- Text
- Computer-Editing: Kajetan Forstner
- Text
- By courtesy of Bookmark Films, London