How Much Earth Does Mankind Need?
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- Trotz Globalisierung braucht jede Produktion MENSCHLICHE ARBEIT / Das SELBSTBEWUSSTSEIN, das sich mit GELINGENDER ARBEIT verbindet, gehört zu den Gütern, die in ihrem Kern für Geld allein nicht zu haben sind / Der Sozialforscher Prof. Dr. Oskar Negt über Fortschritt, Enteignung, tote und lebendige Arbeit und MENSCHLICHE WÜRDE - -
- Text
- WIEVIEL ERDE BRAUCHT DER MENSCH? / Oskar Negt über den KAMPF um ARBEIT
- Alexander Kluge
- Es gibt hier in deinem neuen Buch, „Arbeit und menschliche Würde“, auf Seite 501 eine wesentliche Geschichte, in der du Autonomie und Würde an einer Geschichte entwickelst von Tolstoi. Die heißt?
- Oskar Negt
- Die heißt: „Wie viel Erde braucht der Mensch?“ Eine kurze Geschichte, in der ein Bauer, der unzufrieden ist mit seinen Pachtverträgen, aber eigentlich gar nicht so unzufrieden mit seinem gesamten Leben, durch einen Daherreisenden darauf aufmerksam gemacht wird, dass im Baschkiren-Land viel Land mit wenig Aufwand gekauft werden kann. Und daraufhin packt er seine Sachen, und etwas Alkohol und Geschenke ein …
- Text
- Prof. Dr. Oskar Negt, Philosoph
- Kluge
- Gastgeschenke, Tee, Rubel, Schnaps, Stutenmilch …
- Negt
- … und wird gastfreundlich aufgenommen bei dem Baschkiren-Fürsten. Und der sagt: Wir machen ein Spiel. Hier ist eine Fellmütze, in die legst du tausend Rubel rein, und du bekommst das Land, das du vom Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang umschreiten und abstecken kannst. Er nimmt eine Hacke mit und steckt die Grenze im Einzelnen ab. Sagt er, das ist gut, rüstet sich und sagt sich selber: Ich darf nicht zu schnell und nicht zu langsam laufen. So eine bäuerliche Balance ist im Spiel. Und er macht sich auf den Weg …
- Kluge
- Das sind 20.000 Jahre landwirtschaftliche Revolution, in der wir heute noch leben. Mit den Chips geht die landwirtschaftliche Revolution, die in Babylon begann, weiter. Und gleichzeitig ist die Hauptlehre davon Balanceverhältnisse.
- Negt
- Balance. Und das hat er also instinktiv drin. Geht auf den Weg, und was ihn jetzt irritiert, ist eigentlich die Überlegung unterwegs, ob er ein Stück Land, das er als besonders fruchtbar betrachtet, noch umkreisen soll. Und das irritiert ihn, weil er immer mehr Umwege macht. Deshalb beeilt er sich und kommt dann auch an im Tal. Die Baschkiren sind oben auf dem Berg und feuern ihn an, sich anzustrengen. Und er denkt schon: Oh Gott, die Sonne ist untergegangen, ich habe jetzt verloren. Aber er strengt sich trotzdem an, kommt an und berührt die Fellmütze …
- Kluge
- Hat alles gewonnen …
- Negt
- Hat alles gewonnen, und fällt tot um.
- Kluge
- Gewonnen hat er sein Grab.
- Negt
- Die Knechte heben ihn auf. Die Baschkiren schnalzen, wie es bei Tolstoi heißt, und freuen sich – natürlich auch Schadenfreude ist dabei, weil sie eine Ahnung hatten, dass dieses Spiel tödlich ist für einen solchen Bauern. Und die Knechte graben ihm jetzt den Teil der Erde, den er bekommt: nämlich ein Grab.
- Kluge
- Es fällt also die ganze Unternehmung auf den Gebrauchswert zurück.
- Negt
- Auf den Gebrauchswert des Grabes zurück.
- Kluge
- Wie in „Faust“, fünfter Akt, worauf du hier Bezug nimmst. Das große Zukunftsprojekt ist ja ein unmenschliches Projekt.
- Negt
- Der Großunternehmer Faust, nicht wahr, am Ende: Der Längste lege der Länge lang sich hin, ihr anderen lüftet drum herum den Rasen. Es ist eine Umbruchs- und eine Übergangszeit, die eigentlich beide, Tolstoi und Goethe kennzeichnet, in der die Maßlosigkeit des Geldes und dessen, was auf die Menschen zukommt, nimmt Besitz von ihnen, inneren Besitz. Und das gilt für Pachom genauso wie für Faust. Und er sagt ja auch: Warum sollen die Alten da umgesiedelt werden? Er will ja, dass sie umgesiedelt werden, Philemon und Baucis, nicht wahr. Eine Art Sozialwohnung sollen sie bekommen. Und Mephisto brennt die Hütte ab. Und er sagt: Der Eigensinn vergällt mir den ganzen Weltbesitz. Es ist nicht so, dass ich das noch brauche für meinen Besitz. Sondern dass da eigensinnige Leute sagen, wir bleiben hier, wir wollen nicht etwas Besseres haben, wir wollen das nicht. Dieser Eigensinn kränkt ihn. Und das bedeutet so etwas wie: Die Würde, auf dem Land zu leben und zu sterben, was ich will, hat keinen Preis. Ist eigentlich ein Gedanke bei …
- Kluge
- Und der Kapitalist Faust, der Alchimist Faust, oder wie man ihn nennt. Der Projektemacher. Den stört, als sei es eine Glaubensfrage, dass irgendetwas keinen Preis haben kann.
- Negt
- Was keinen Preis haben kann, und dass sich irgendetwas in seinem Herrschaftssystem dem nicht fügt.
- Kluge
- Also großmütig ist er überhaupt nicht. Einsichtig ist er nicht. Er ist als Theoretiker an sich ein Schwachkopf.
- Negt
- Man kann sagen, die ganze Lebensgeschichte von Faust ist von einem verzweifelten Intellektuellen zu einem gescheiterten Unternehmer. Das ist die Linie von „Faust I“ zu „Faust II“.
- Text
- Doktor Faust
- Kluge
- Jetzt gibt es eine zweite Geschichte, ein Gedicht, auch von Goethe, „Der Schatzgräber“. Ist auch ein Bauer. Einer, der aus dem Mittelalter kommt. Und sein Grund und Boden wird beschnitten von den Herren. Und karg ist er eh, denn die Herren lassen nichts für ihn übrig, was irgendwie floriert. Ein Garten ist dort nicht zu erzeugen. Und er glaubt, unten, tief unten gibt es Schätze. Frühere Generationen, die ganze Folge der Geschlechter hat etwas hinterlassen. Das ist ja nicht so falsch gedacht.
- Negt
- Nein. Und es ist ja auch gar nicht falsch, zu graben. Es ist ja eine Tätigkeit in der Erde und die Erwartung, dass dort etwas …
- Kluge
- Beim Pflügen macht er das eh. Aber er könnte es auch gründlicher machen, und dann kommt ein Schatz raus. Aber er braucht Beschwörung. Er braucht ein gewisses Maß an Glauben oder Aberglauben, dass Geister und so weiter ihm helfen. Und tatsächlich kommen jetzt Irrlichter und Geister und so weiter, und erschrecken ihn.
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- Prof. Dr. Oskar Negt, Philosoph
- Negt
- Und ich meine, das ist ja auch bei Faust so, dass er keine dieser Taten ohne die Hilfe Mephistos machen kann. Das heißt also: Könnte ich die Gespenster von meinem Pfad entfernen. Am Ende träumt er ja davon, dass er vielleicht ohne Hilfe auskommen könnte. Und diese Beschwörung von Reichtum und Macht und Geld ist natürlich auch ein Element dieses Schatzgräbers.
- Kluge
- Es ist eine Form des Fundamentalismus, die man so nicht definieren kann. Er bekennt sich ja zu keiner der Weltreligionen. Und ist aber selber eine Religion. Es ist nicht die Religion des Geldes, sondern es ist die Religion des Warenfetischs, also der Erwartung, dass da irgendeine Zauberkraft, ein Zaubergeist enthalten sei. Und der ist im Grunde eine Bank der Vielvergangenheit. Eine Bank der Hoffnung. Kann man das so sagen?
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- Fundamentalismus des Geldes
- Negt
- Ja, es ist eine Bank der Hoffnung. Es ist jedenfalls etwas, was den eigenen Lebensmut beflügelt, indem man dort gräbt, wo man vermutet, dass andere Menschen, entweder frühere Generationen, etwas vergraben haben, etwas hinterlassen haben. Es ist ja nicht ganz irreal.
- Kluge
- Vielleicht tragen wir es ja in uns. Wir wissen gar nicht, welche Schätze wir in uns haben, welche Auswege wir wissen. Und genauso hier bei dem Schatzgräber. Da kann man zwar sagen: Saure Wochen, frohe Feste! Arbeite nur, arbeite nur, guter Mann. Das mag ja nun ein bisschen ein spießiger Ratschlag von Goethe sein. Aber der Grundgedanke: Ich suche nach Schätzen im Boden. Und entweder liegen sie ganz unten oder sie werden mir gegeben durch Einsicht.
- Negt
- Jedenfalls ist diese Suchbewegung, die ja auch in gesellschaftlichen Krisensituationen besonders stark ist, auch im Übrigen heute sehr stark ist, also in kulturellen Suchbewegungen. Die Orientierungen sind nicht mehr gesichert. Und was so im Globalisierungszusammenhang das ist, worauf ich mich verlassen kann und was gesichert ist, das ist natürlich gegenüber der unmittelbaren Nachkriegszeit etwas sehr Zerbrechliches. Ich muss im Grunde Maßstäbe bei mir selber suchen. Und insofern diese Bodentätigkeit eine Möglichkeit ist. Du hast davon gesprochen, dass da auch so fundamentalistische Elemente drin sind, was buchstäblich zutrifft. Dass die Suche nach der Basis, von der ich ausgehe, auch Orientierungshilfe ist.
- Text
- JOHANN WOLFGANG GOETHE: DER SCHATZGRÄBER
- Text
- Arm am Beutel, krank am Herzen
schleppt ich meine langen Tage/
Armut ist die größte Plage,
Reichtum ist das höchste Gut!/
Und, zu enden meine Schmerzen,
ging ich, einen Schatz zu graben /
Meine Seele sollst du haben!
Schrieb ich hin mit eignem Blut /
Und so zog ich Kreis um Kreise,
stellte wunderbare Flammen,
- Kraut und Knochenwerk zusammen
Die Beschwörung war vollbracht/
Und auf die gelernte Weise
grub ich nach dem alten Schatze
- auf dem angezeigten Platze
schwarz und stürmisch war die Nacht /
Und ich sah ein Licht von weitem
und es kam gleich einem Sterne,
hinten aus der fernsten Ferne,
eben als es zwölfe schlug/
Und da galt kein Vorbereiten/
Heller ward‘s mit einem Male
von dem Glanz der vollen Schale
die ein schöner Knabe trug /
Holde Augen sah ich blinken
unter dichtem Blumenkranze;
in des Trankes Himmelganze
trat er in den Kreis herein/
Und er hieß mich freundlich trinken
- Und ich dacht
- Es kann der Knabe
mit der schönen lichten Gabe
wahrlich nicht der Böse sein /
„Trinke Mut des reinen Lebens!
[…] Grabe hier nicht mehr vergebens!
Tages Arbeit, abends Gäste!
Saure Wochen, frohe Feste!
Sei dein künftig Zauberwort/“
Johan Wolfgang v. Goethe, Der Schatzgräber/
- Kluge
- Aber es ist ein Kampf um Boden, und zwar der letzte.
- Negt
- Aber es ist auch ein bisschen diese Landgewinnung, die Faust im Auge hat. Also Goethe hat da schon Tendenzen in dieser modernisierten, kapitalistischen Welt gesehen, die wirklich darauf hingehen.
- Kluge
- Also Goethe als Nationalsozialist wäre auf dem linken Flügel, so wie Heidegger.
- Negt
- Aber er sieht das natürlich kritisch. Ich meine, also für Faust ist das keine wirkliche …
- Kluge
- Aber ein linker Nationalsozialist ist kritisch.
- Negt
- Natürlich.
- Kluge
- Jetzt haben wir 1945 eigentlich das Ende der Landnahme. Es gibt sozusagen weder für das Britische Empire noch für das Deutsche Reich irgendwie die Idee, auf Kosten anderer Boden zu gewinnen. Landnahme, Seenahme, Weltnahme, Weltraumnahme, das sind die Folgen, nach Carl Schmitt, in der dieser Imperialismus sich ausdrückt. Das heißt, die Globalisierung ist von Carl Schmitt vorausgesagt.
- Text
- Carl Schmitt
- Negt
- Naja, also was jedenfalls diese Verteilungskämpfe auf dem Globus betrifft, die bei ihm diese Seenahme, Landnahme, und Weltnahme zur Folge haben, ist das mit diesem Okkupationsgesichtspunkt konkretisiert.
- Kluge
- Was bei Carl Schmitt richtig ist, ist die analytische Präzision, dass er Gegensätze unterscheidet. Was sicher falsch ist, ist dieser affirmative Ansatz. Dass er sagt: Durchsetzung der eigenen Interessen gegen die Welt. Autarkie ist in jedem Fall gut. Denn diesen Autarkismus gibt es auf dem Globus nicht. Ist das richtig?
- Negt
- Naja, ich meine, der schwierige Gesichtspunkt bei Carl Schmitt ist, dass er das wirklich unter imperialen Gesichtspunkten, um nicht zu sagen auch unter rassischen Gesichtspunkten, diese Ausdehnung und dieses Weißmachen der Welt betrachtet und diese missionarische Zivilisierung der Welt. Das hat ja alles einen faschistischen und imperialen Zug an sich.
- Kluge
- Es kann aber ein Intellektueller, der auf diese Weise etwas vollkommen Unrichtiges im Grundriss hat, ein autonomer Intellektueller, der quasi irrt, dennoch Unterscheidungen entwickeln, und diese Unterscheidungen sind brauchbar als Werkzeuge. So wie einer mit bösem Gewissen eine Schere baut, aber die Schere ist gut.
- Negt
- In diesem Sinne kann man sagen, dass dieses Problem der Landnahme jedenfalls in der Gegenwart ziemlich beendet ist. Es wird jede Landnahme, das heißt der Überfall eines Landes auf ein anderes Land…
- Kluge
- …nicht nur bestraft, sondern man will das Land gar nicht haben, das man erobert.
- Negt
- Man will das Land nicht haben. Insofern wäre natürlich die Rückkehr Ostpreußens nach Deutschland eine ungeheure Entwicklungschance für dieses Land, wenn die Russen, die es wirklich nicht brauchen können, freigeben. Vielleicht ist das …
- Kluge
- Und gleichzeitig ist der Einsatz von irgendeiner Gewalt, irgendeiner auch nur indirekten Gewalt für so ein Ziel völlig inadäquat. Denn ob wir das gebrauchen können, oder das den Schuldenberg Eichels erstmal deutlich vermehrt. Da sind wir gar nicht verschiedener Meinung.
- Negt
- Nein, nein, es sind ja auch keine starken Interessen.
- Kluge
- Hier siehst du jetzt einen Großaffen, der aus Afrika gegen seinen Willen entfernt wurde. Ein eigensinniges Lebewesen. Er liebt nämlich diese kleine Weiße. Er ist ja im Grunde antiimperial gesinnt. Das heißt also, von seiner Heimat entfernt wie von Odysseus, möchte er sich vereinigen mit einer Weißen aus Boston oder Wisconsin, die jedem Kanon der Amerikaner entspricht. Und er ist der einzige, der mit seiner Faust diese Flugzeuge abwehren kann, die sich in die Wolkenkratzer reinstürzen. Das ist doch ein eigenartiges Bild. Wenn du mir mal dieses Bild, das ja nun in keiner Kausalität steht zu dem, was wir jetzt im Fernseher gesehen haben – Und ich bin auch überzeugt, dass keiner der Terroristen je „King Kong“ gesehen hat. Und wenn, hätten sie es abgelehnt – aber wenn du mir das mal interpretierst mit den Kategorien des Fortschritts.
- Negt
- Naja gut, das Merkwürdige dieses Bildes besteht darin, dass diese Flugzeuge, die entwickelten Produkte der westlichen Zivilisation, jetzt selber auf das Gebäude zielen, auf das sich der Affe geflüchtet hat und stellt.
- Text
- Prof. Dr. Oskar Negt, Philosoph
- Kluge
- Wobei, seit 1865 da Aufzüge, Fahrstühle, über 30 Stockwerke hinauf können. Das war vorher nicht möglich.
- Negt
- Das ist damals das höchste Gebäude der Welt.
- Kluge
- Entwickelte sich ein Selbstbewusstsein, dass man Hochbau betreiben kann. Und auf der engen Insel Manhattan war dieser Hochbau auch notwendig und hat im Grunde ein Stück selbstbewussten Bauens repräsentiert. Und da setzt er sich auf die Spitze, um sich zu verteidigen, und das Liebste, was er hat, zu verteidigen. Er ist eigentlich alles, was wir wissen bei Freud von der Verbindung von Tier, Mensch, Unbewusstem, Über-Ich, hier ist alles tätig. Aggression, Destruktion, Konstruktion.
- Negt
- Und die Verdrehung besteht eigentlich darin, dass er versucht, das Leben dieser Frau zu schützen, und von den Angehörigen der Nation durch deren Flugzeuge bombardiert wird.
- Kluge
- Das bringt doch alle festen Standpunkte einmal in Rotation. Ist nur ein Film, aber bringt das in karussellartige Rotation. Weil, du kannst keine der Unterscheidungen zwischen Gut und Böse, und zwischen Einfach und Kompliziert, oder zwischen Fremd und Eigen, hier anwenden.
- Negt
- Und selbst die Kraft, die Tierkraft und die Flugzeuge, dass er hier die Flugzeuge so einfach zerquetscht, bedeutet keine wirkliche Überlegenheit gegenüber der Natur.
- Kluge
- Kerosin ist nicht absolut omnipotent.
- Kluge
- Und hier, in ihm stecken 4,2 Milliarden Vorendzeit, Vorentwicklung. Eine ganze Menge Generationen. Er ist ja nur voragrarisch, das kann man ja wohl sagen. Ist ja kein Bauer.
- Negt
- Nein, das Neolithikum hat er noch nicht erlebt.
- Kluge
- Aber die Evolution, davon ist er ja ein starker Repräsentant.
- Text
- Bericht eines Affen an die Akademie
- Kluge
- Wenn du jetzt mal erzählst, wie in deinem Buch diese Geschichte weitergeht, vorne in der Einleitung.
- Negt
- Naja, ich habe die Geschichte des Affen, der beauftragt wird, vor einer Akademie zu reden über sein äffisches Leben, hier zitiert. Und er sagt: Wäre ich erklärter Berichterstatter, der durch die bittere Erfahrung Hagenbeck’s Gefangenenlager klug, das heißt bescheiden wurde, ein Anhänger jener erwähnten menschlichen Freiheit, ich hätte gewiss das Weltmeer dem Ausweg vorgezogen. Affen denken mit dem Bauch. Ich sage absichtlich nicht Freiheit. Ich meine nicht dieses große Gefühl der Freiheit nach allen Seiten. Nebenbei, mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzu oft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten. Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg. Rechts, links, wohin auch immer. Ich stelle keine anderen Forderungen.
- Text
- Frank Kafka, Autor des Textes: Bericht eines Affen an die Akademie
- Kluge
- Bericht eines Affen an die Akademie von Franz Kafka. Und er ist mit einem kleinen Windstoß an seiner Ferse mit den Horizonten, den Hoffnungen der Welt verknüpft. Eine größere Geschichte des Fortschritts, eine pessimistischere, schwärzere, kenne ich nicht.
- Text
- Ursprüngliche Akkumulation / „Ohne Leiden kein Fleiß“
- Kluge
- Wenn man einmal auf das Stichwort Ursprüngliche Akkumulation eingeht. Es ist ein Satz von Marx, eine Analyse, und sie hat zu tun mit der Entfernung der Menschen von ihrem eigenen Boden. Der Boden wird ihnen weggerissen, historisch. Und ohne das, sagt Marx, entsteht keine industrielle Disziplin. Ohne Leiden kein Fleiß.
- Negt
- Es ist eine ursprüngliche Akkumulation, previous accumulation kommt schon bei Adam Smith vor. Aber im Grunde ist es eine ursprüngliche Enteignung, so sagt er auch. Es ist ein schmerzhafter, gewalttätiger Trennungsprozess der Menschen von ihren verwurzelten Traditionsbedingungen.
- Kluge
- Er beschreibt es an den historischen Beispielen in England.
- Negt
- In England, an den sogenannten Einhegungen. Aus freien Bauern werden … die werden vertrieben von ihren Ländereien. Und es werden große Schafherden eingeführt.
- Kluge
- … deren Wolle in Amsterdam, Holland so hohe Preise hat. Könnte man Menschen scheren, trügen sie Wolle, dann könnten sie in ihren Cottages, in ihrer Heimat bleiben. Da sie nichts bringen auf dem Weltmarkt, wird jetzt sozusagen das Schaf an ihre Stelle gestellt.
- Negt
- Ja, und Thomas Morus, darauf beziehe ich mich auch in meinem Buch, beschreibt das sehr schön, dass früher die Menschen Schafe aßen, und jetzt fressen die Schafe die Menschen. Das ist in seiner Utopie sehr beschrieben, diese wahnsinnige Enteignung.
- Kluge
- Das bezieht sich auf diese konkreten Vertreibungen von Menschen, deren Häuser niedergebrannt werden. So wie eine Stadt verbannt wird. Und die kommen nach London, und hier gibt es Industry and Idleness. Bilder von Hogarth, die Lichtenberg kommentiert hat. Das heißt, sie können entweder untergehen, in Gefängnisse kommen, exportiert werden nach Australien. Oder aber sie heiraten die Tochter des Firmenchefs, die sie nicht wollen.
- Text
- Industry and Idleness / Fleiß und Faulheit, Zeichnungen von Hogarth
- Negt
- Elizabeth die Erste lässt 62.000 dieser Menschen, die da reinströmen, hängen. Und einige die … also Leute, die in acht Wochen keine Arbeit finden, die kriegen ein S aufgebrannt, „Slave“.
- Kluge
- So dass es einen Stalinismus des Kapitals gibt, der gewissermaßen einprägt die Disziplin durch Terror. So entstehen moderne Gesellschaften. Ich meine das jetzt nicht im negativen Sinne. Weil immer eine Eigenschaft findet Auswege, so wie dein Affe berichtet hat an der Akademie. Und die andere Eigenschaft demütigt sich, passt sich an.
- Text
- „Bolschewismus des Kapitals“
- Negt
- Natürlich. Und dieser Prozess der Verinnerlichung von Zwecksetzung, Rationalität, Zeitökonomie, und alle diese Dinge … hat natürlich auch, wie Max Weber beschreibt, religiöse Motive. Gerade im Puritanismus wird das sehr stark verknüpft.
- Kluge
- Die Tröstung der Religion, plus der Terror dieser Anblicke der ursprünglichen Akkumulation führt dazu, dass ich gehorche einerseits, meinen Eigensinn bewahre, und Hoffnung schöpfe. Getröstet bin.
- Negt
- Es ist auch nicht nur der Trost, sondern ich meine, gerade die puritanischen Sekten von Baxter und anderen sagen, das ist eine Form der Sündenabtragung. Wenn die Menschen also arbeiten und sich nicht ablenken lassen, dann kommen sie nicht auf Genussgedanken und werden fromm. Der fundamentalistische Puritanismus dieser Zeit trägt viel dazu bei, zu helfen …
- Kluge
- Das heißt, die Wirtschaft rechnet mit einer Bank, die im Jenseits zahlt.
- Negt
- Naja, der Calvinismus ist schon eine Art Versprechen. Wenn ich hier arbeite, wenn ich hier reich bin, komme ich in die Gnadenwahl. Das hat ja Luther auf Entschiedenste bekämpft. Er hat gesagt, die Glaubenssache ist völlig getrennt von den Gesetzeswerken. Während Calvin sagt: Nein, das ist nicht sicher, die Prädestination. Es ist nicht sicher, dass ich in den Himmel komme. Aber die Vermutung, dass Gott wohlgefällig auf meinen Reichtum, auf meine Arbeit kuckt, die hat doch viel für sich.
- Text
- Prof. Dr. Oskar Negt, Philosoph
- Kluge
- Darin ist Luther ein Bauer, und Calvin ein Städter.
- Negt
- So ist es. Und in gewisser Weise ist Luther ein Traditionalist darin, auch was die Berufsethik anbetrifft, hält er an alten Berufsethiken fest.
- Kluge
- Und die Form der Einprägung der industriellen Disziplin, des Fleißes, durch Gewalt, durch Enteignung, die ist ein permanenter Prozess. Ursprüngliche Akkumulation, nach Karl Marx, nach Adam Smith, ist ein permanenter Prozess bis zum Jahr 2001.
- Negt
- Ein permanenter Prozess, der immer wieder Reaktionen, auch eigensinnige Reaktionen, und Rebellion erzeugt, weil jeder Enteignungsprozess wird als ein Element von Ungerechtigkeit betrachtet von den Menschen selbst. Selbst wenn sie es verarbeiten in einer Art Trauerarbeit, diese Trennung überwinden, sogar zum Bestandteil ihrer selbst machen. Es ist immer die Erfahrung eines Nicht-Äquivalentes. Es ist nicht äquivalent.
- Text
- WILDE JAGD / Geister der Enteignung
- Kluge
- Verzeihung gibt es darüber nicht. Wie die wilde Jagd gehen die Geister der Unterdrückung, die Geister der Enteignung, um den Globus herum. Wo sie landen, weiß man nicht.
- Negt
- Und das ist natürlich im Zeitalter der Globalisierung eine höchst moderne Kategorie. Enteignungen finden auf dem ganzen Globus im Weltmaßstab statt. Auch noch in sekundären Formen, denn wenn jetzt also aus kollektivem Eigentum in China Privateigentum wird, ist das noch einmal, sieht man die verschiedenen Generationen, die schon in diesem Kollektiveigentum aufgewachsen sind, noch mal als eine ganz bittere, schwere, mit allergrößten destruktiven Folgen verbundene Form der Enteignung. Sobald die Dinge Wert annehmen, und das heißt tauschbar sind …
- Text
- Was ist der WARENFETISCH?
- Kluge
- Meine Frau, meine Kuh, mein Acker war nicht tauschbar. Jetzt wird das tauschbar. Ich kann meine Frau verkaufen.
- Negt
- Und vor allem in Geldwert umsetzen, sagt Marx, kommt etwas in diesen Gebrauchswert hinein, was eine Art geheimnisvolle Substanz ist, die sich jetzt vergegenständlicht gegenüber dem spezifischen Gebrauchswert. Plötzlich werden Eisen, ein Sack Getreide, Stoffe, oder andere Dinge …
- Kluge
- … zu Schuhen, Frauen, Weihnachtsbäumen, Weihnachtsverkauf …
- Negt
- Äquivalente. Sie bekommen etwas, was ihnen gemeinsam ist.
- Kluge
- Ich könnte ein Stück Afrika haben mit Dienern, Tee, eine Vorstellung, wenn ich dafür etwas anderes hergebe. Das ist der Tauschfetisch. Das heißt, es kommt eine Fantasie in den Raum hinein.
- Negt
- Aber vor allen Dingen, das ist die eigentliche Umdrehung, Umkehrung: Der Gebrauchswert wird zum Anhängsel des Tauschwerts. Also dass der Gebrauchswert nicht die Substanz ist, sondern eigentlich der Tauschwert und die Äquivalente, und das, was ich damit machen kann. Und das höchste allgemeine Äquivalent, das Geld, setzt jetzt eine Welt für sich, eine Tauschwertwelt für sich in Gang, die eigentlich nichts mehr mit der stofflichen Qualität dessen zu tun hat, worum sich die lebendige Arbeit organisiert, was sie produziert. Gleichsam, die Welt verdreht sich. Also dass, was unsere Gebrauchswerte sind, bekommen einen Status von bloßen Anhängseln. Es wird auch nicht produziert für die Gebrauchswerte, sondern für die Tauschwerte. Aber Tauschwerte kann man nur produzieren, wenn sie Gebrauchswert auch haben. Diese Umdrehung, diese Verwicklung …
- Kluge
- Marx sagt, das sind theologische Mucken.
- Negt
- Das sind theologische Mucken, Phantasmagorien, er hat eine sehr bilderreiche Sprache in der Bezeichnung …
- Kluge
- Aber das ist der Rest von Religion, der in der Ware steckt.
- Negt
- Es ist eine Form der Alltagsreligion.
- Kluge
- Es ist Animismus. Also die Waren werden belebt um etwas, das sie nicht enthalten.
- Kluge
- Wenn du mir das mal an einem praktischen Beispiel erklärst. Also du hast 10.000 Mark eingenäht in deine Uniform, bist in Stalingrad, gehst zu dem Flugzeug, möchtest gerne den Piloten bestechen, dass der dich rausfliegt. Geht das oder geht das nicht?
- Text
- Stalingrad
- Negt
- Nein, das geht natürlich nicht.
- Kluge
- Weil 10.000 Mark nichts wert sind, wo es um Leben und Tod geht.
- Kluge
- Nehmen wir mal ein anderes. Das Brett des Karneades. Das ist ein berühmtes Beispiel. Ein Brett schwimmt auf dem Meer, Schiffbrüchige schwimmen, nur einer kann gerettet werden. Das ist eine juristisch zugespitzte These von Ulpian. Und derjenige, der jetzt den anderen unter Wasser drückt, und selber das Brett des Karneades benutzt, ist gerechtfertigt aus Notwehr. Was ist das?
- Negt
- Kant sagt, das ist Adiaphoron. Das ist eine moralisch nicht entscheidbare Frage. Das ist frei in der Entscheidung. Das ist nicht bewertbar. Niemand ist verpflichtet, sich selber für einen anderen zu opfern, sagt Kant. Die Pflichten gegen sich selbst bestehen darin, sein Leben zu erhalten.
- Kluge
- Ende der Tauschgesellschaft. Das ist einer der seltenen Punkte, wo es keine Ware gibt.
- Negt
- Das bezieht sich eben auf eine ganze Reihe von Begriffen, von Ehre, von Eid … Die Geschichte dieser Begriffe ist eine Geschichte desjenigen, was nicht tauschbar ist. Und natürlich ist diese Universalisierung des Geldes, des allgemeinen Äquivalents bedroht diese Geschichte des Eigensinnigen, Nicht-Tauschbaren. Aber sie bleibt, es bleibt so etwas …
- Kluge
- Also gewisse Elemente bleiben nicht tauschbar. In Notwehr gilt kein Tausch, gilt kein Geld.
- Kluge
- Wenn du mal dieses Lichtchen, das in jeder Ware aufblitzt und dem Warenempfänger, aber auch dem Warenbesitzer sagt: Hier ist ein Geist drin. Eine theologische Mucke, wie Marx sagt. Ein religiöses Kernchen. Wie würdest du das ausdrücken? Was ist das?
- Negt
- Das ist die Hoffnung, ein Funken Hoffnung, in jeder Ware sich zu verbinden mit der Gesellschaft, mit allen anderen Waren und damit allen anderen Menschen. Ein Versprechen auf allgemeine Kommunizierbarkeit steckt da drin.
- Kluge
- Das ist doch etwas ganz Wunderbares eigentlich im Kantischen Sinne, im Aufklärungssinne. Es verbindet alle Menschen.
- Text
- Die Seelenlampe
- Kluge
- Bei Descartes gibt es die Vorstellung, dass dem menschlichen Bewusstsein im Hirn eine Seelenlampe entspricht. Ein kleines Lämpchen, das die Welt erleuchtet. Und alle zusammen sind wie die Welt, bevor ein Krieg ausbricht, und alle Lichter erlöschen. Kann man sagen, dass die Warenwelt solche Lämpchen enthält? Ein Stück Mensch, das in den Waren steckt?
- Negt
- Ja. Es ist auch so, dass so lange es Hochkulturen gibt und Stadtgesellschaften gibt, der Warenverkehr, in dem man also Dinge tauschen kann, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, so dass man den Tauschwert eben veräußert und den Gebrauchswert realisiert, dass das immer mit starken Hoffnungen, Befreiungshoffnungen, und damit verknüpft ist, dass Fremde, die jeweils ihre Waren haben, in einen menschlichen Kontakt zueinander treten. Also Marx selber spricht von dem Markt als dem wahren Eden der Gleichheit und Freiheit, und sieht darin auch Freiheitselemente. Nur er, genauso wie eigentlich alle Dialektiker, wie Hegel und wie auch Kant sagen, der Markt ist nicht das Einzige, was eine Gesellschaft konstituiert. Sondern es ist doch auch so, dass die Universalisierung dieses Tauschs bestimmte Elemente nicht berührt, so eben Würde als etwas nicht Tauschbares.
- Kluge
- Als etwas, was sich dem vorbehält. Wenn eine Autobahn gebaut werden soll, und ein Grundbesitzer hat ein Grundstück mitten auf der Stecke, dann könnte er rein theoretisch den Autobahnbau aufhalten.
- Kluge
- Es gibt den elementaren Unterschied zwischen der Einzelware, dem Element jeder freien Wirtschaft, und der Warensammlung. Wenn du mir diesen Unterschied mal beschreibst. Was ist die organische Zusammensetzung des Kapitals? Was heißt Warensammlung?
- Negt
- Naja, so beginnt ja Marx sein „Kapital“, in dem er sagt, der Kapitalismus erscheint als eine ungeheure Warensammlung, wie so ein riesiger Kolonialwarenladen. Und die einzelne Ware ist die elementare Form dieser Ware, also wir müssen die Elementarform untersuchen, wenn wir dieses gewaltige Lager begreifen wollen. Ist eine sehr präzise methodische Anweisung, mit dem Elementaren anzufangen und daraus gleichsam den Gesamtzusammenhang zu entwickeln. Und die Ware existiert in dem Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Tauschwert.
- Text
- Prof. Dr. Oskar Negt, Philosoph
- Kluge
- Und der Schein des Ahnungswertes, das wäre sozusagen der Tauschfetisch. Was würde ein anderer empfinden, wenn er diese wunderbare Geliebte hätte. Scheint rüber auf den Gebrauchswert, ob das meiner Haut angenehm ist oder nicht. Ist das richtig?
- Negt
- Natürlich. Jedenfalls ist der Gebrauchswert für verschiedene Menschen verschieden. Also praktisch ein Nicht-Äquivalent in dieser Hinsicht.
- Kluge
- Kann man nicht tauschen.
- Negt
- Kann man nicht tauschen. Und Marx geht eben davon aus, dass der Kapitalismus in seinen Elementarformen anders aufgebaut ist als der objektive Schein das vermittelt. Und baut eben vom Widerspruch der Ware gleichsam die kapitalistische Struktur der Gesellschaft auf.
- Text
- Organische Zusammensetzung des Kapitals
- Kluge
- Was heißt in diesem Zusammenhang: Organische Zusammensetzung des Kapitals?
- Negt
- Organische Zusammensetzung des Kapitals, dieser Spezialbegriff, bezeichnet das Verhältnis der toten Arbeit zur lebendigen Arbeit. Das heißt die tote Arbeit in Maschinerie, im Gegenständlichen nimmt ständig zu gegenüber …
- Kluge
- Die ist erarbeitet, nicht nur durch die Kapitalisten und das Geld, sondern durch wirkliche Menschen, die in dieser toten Arbeit weiterleben.
- Negt
- Aber vor allen Dingen ist es eben der gegenständliche Reichtum, der sich eignet für die Produktion. Und die Disproportionalitäten zwischen verstorbener Arbeit, wie er sagt, und lebendiger Arbeit werden immer größer. Immer weniger lebendige Arbeit ist notwendig um die Agentien in Gang zu bringen, um das Kapital zu produzieren.
- Kluge
- Die vielen Toten, die etwas erarbeitet haben, und in den Maschinen stecken, die ersetzen lebende Menschen.
- Negt
- Immer mehr. Das ist schon eine zentrale Tendenz bei Marx, dass er sagt, also irgendwie wird es immer absurder, dass der Maßstab für den Wert und damit auch für den Lohn lebendige Arbeit ist. Wo es doch immer mehr darum geht, dass die Maschinerie eigenständig, nur angestoßen von lebendiger Arbeit, und über Wächterfunktion durch lebendige Arbeit in Gang gehalten wird. Er sagt, das Zeitmaß, in dem bezahlt wird, ist eine miserable Grundlage für diese Explosion kapitalistischer Reichtumsproduktion.
- Kluge
- Und da ist er aber ein bisschen wie ein Sänger oder Seher, der alte Rechte einfordert. Denn für die Lebendigen gilt das, was real ist. Und was er sagt, ist: Dieses Reale ist aber in einem ungerechten Prozess entstanden.
- Negt
- Und vor allen Dingen, ich meine, er klagt etwas ein, das jetzt dadurch, dass der Kapitalismus so Macht hat, hat es Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr – er klagt etwas ein, was gerechterweise der Arbeiterklasse auch ausbezahlt werden muss, insgesamt gesehen.
- Kluge
- So lange es diese gibt. Das Problem ist ja die Erbfolge. Wie kann man das begründen, dass hier jemand Erbe ist? Wie wäre es bei den Schwarzen, die zwangsrekrutiert wurden, Sklaven waren in den USA, Werte erzeugt haben, bis ins Rüstungszeitalter von 1943, 44, 45, in Chicago und dann entlassen wurden. Aber sie haben doch mit ihren Vorfahren Rechte.
- Negt
- Sie haben Rechte. Marx würde sagen, und die Naturrechtler auch … Selbst Kant würde das sagen: Sie haben ein Anrecht, angemessen auch für das entlohnt zu werden, was sie geleistet haben. Selbst wenn es jetzt Jahrzehnte ist, in denen ihnen das verweigert wurde und so, als ob es schon vergessen wäre. Das heißt, das ist eine naturrechtliche Gerechtigkeit.
- Kluge
- Ich tue mehr, als wofür ich bezahlt werde. Das ist eigentlich die Grundform der Intelligenz und der Arbeitskraft.
- Negt
- Also jedenfalls ist, solange Arbeitskraft lebendig bleibt, leistet sie immer mehr, als von ihr abverlangt wird. Und das drückt auch aus, was ich in „Arbeit und menschliche Würde“ zu bezeichnen versuche, dass solange die Menschen lebendig sind, haben sie ein Bedürfnis, sich auch zu vergegenständlichen, so dass sie mit ihrem Produkt zufrieden sind und sich im Produkt wiedererkennen. Und wenn sie sich im Produkt wiedererkennen, hat sich auch im Subjekt etwas verändert, haben eine neue Kompetenz, eine neue Sicht, und eine neue Weltorientierung zusätzlich gewonnen.
- Kluge
- Insofern sprechen die Toten und die Lebendigen pausenlos miteinander.
- Negt
- Ja.
- Text
- WIEVIEL ERDE BRAUCHT DER MENSCH? / Oskar Negt über den KAMPF um ARBEIT